Antrag auf Feststellung einer Schadensersatzpflicht des Fahrzeugherstellers in Dieselabgasfällen
Leitsatz
Macht der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs gegen den Fahrzeughersteller einen deliktischen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens geltend, besteht für einen Antrag auf Feststellung einer solchen Schadensersatzpflicht des Herstellers kein Feststellungsinteresse (Fortführung von VIa ZR 37/21, juris).
Gesetze: § 823 Abs 2 BGB, § 6 Abs 1 EG-FGV, § 27 Abs 1 EG-FGV, § 256 Abs 1 ZPO
Instanzenzug: Az: I-12 U 51/21vorgehend LG Bielefeld Az: 6 O 331/20
Tatbestand
1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Der Kläger kaufte am von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz E 350 T BT 4M, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 642 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung temperaturabhängig gesteuert und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" bei kühleren Temperaturen reduziert. Das Fahrzeug verfügt über ein SCR-System zur Abgasnachbehandlung, das aus einem SCR-Katalysator und einer Vorrichtung zur Einspritzung der Harnstofflösung "AdBlue" besteht.
3Der Kläger hat die Feststellung begehrt, dass die Beklagte zum Ersatz sämtlicher aus der Manipulation des Fahrzeugs herrührender Schäden verpflichtet sei (Berufungsantrag zu 1), sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangt (Berufungsantrag zu 2). Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge mit der Maßgabe weiter, dass er "großen" Schadensersatz geltend macht.
Gründe
4Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
6Der Kläger habe gegen die Beklagte keinen Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB. Die Implementierung des Thermofensters stelle keine sittenwidrige Handlung der Beklagten dar. Dabei könne zugunsten des Klägers unterstellt werden, dass das Thermofenster als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren sei. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV komme nicht in Betracht. Das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liege nicht im Aufgabenbereich der Vorschriften der EG-FGV.
II.
7Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
81. Das Berufungsgericht hat, was der Senat von Amts wegen zu überprüfen hat (vgl. VIa ZR 298/21, juris Rn. 11 mwN), die Klage zu Recht als zulässig erachtet.
9a) Der Feststellungsantrag genügt den Bestimmtheitsanforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Er ist anhand der Klagebegründung dahin auszulegen, dass von der Ersatzpflicht der Beklagten Schäden erfasst sein sollen, die daraus herrühren, dass das Fahrzeug mit den vom Kläger angeführten, von ihm als unzulässige Abschalteinrichtungen angesehenen technischen Einrichtungen ausgestattet ist (vgl. , NJW-RR 2022, 23 Rn. 13; Beschluss vom - VIa ZR 110/21, juris Rn. 17).
10b) Der Kläger verfügt - nachdem er klargestellt hat, dass sich der Feststellungsantrag auf den sogenannten "großen" Schadensersatz beziehe - über das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse (vgl. , juris Rn. 16; - VII ZR 160/21, HFR 2022, 1180 Rn. 14; Urteil vom - VIa ZR 419/21, NJW-RR 2023, 802 Rn. 10 f.). Die Schadensentwicklung ist nach dem Vortrag des Klägers noch nicht abgeschlossen, weil danach weitere Schäden möglich erscheinen, die im Rahmen des "großen" Schadensersatzes jedenfalls in Form der angeführten Standkosten ersatzfähig sein können (vgl. , NJW 2022, 1093 Rn. 15; zu den angeführten Steuernachforderungen vgl. , juris Rn. 16; - VII ZR 160/21, aaO, Rn. 16; zu den angeführten Service- und Wartungskosten vgl. , NJW-RR 2022, 23 Rn. 32; Urteil vom - VI ZR 156/20, VersR 2023, 69 Rn. 12).
112. In der Sache kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung ein deliktischer Schadensersatzanspruch des Klägers nicht verneint werden.
12a) Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
13b) Die Revision wendet sich jedoch zu Recht dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, stellen die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller schützen, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
14Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
15Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
16Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, den Differenzschaden geltend zu machen (zur gebotenen Wahl der Schadensart vgl. , NJW-RR 2022, 23 Rn. 16 ff.) und einen solchen Schaden darzulegen. Dabei wird er zu beachten haben, dass bei der Wahl des Differenzschadens der Berufungsantrag zu 1 wegen des Vorrangs der Leistungsklage mangels Feststellungsinteresses des Klägers (§ 256 Abs. 1 ZPO) unzulässig wäre, weil dieser den Differenzschaden beziffern kann (vgl. VIa ZR 37/21, WM 2023, 2191 Rn. 19; zum "kleinen" Schadensersatz vgl. aaO, Rn. 15), und der Berufungsantrag zu 2 unbegründet wäre, weil neben dem Ersatz des Differenzschadens eine Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht in Betracht kommt (vgl. VIa ZR 14/22, WM 2023, 2193 Rn. 13).
17Sollte der Kläger einen Leistungsantrag auf Ersatz des Differenzschadens stellen, wird das Berufungsgericht nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:181223UVIAZR1083.22.0
Fundstelle(n):
WM 2024 S. 278 Nr. 6
GAAAJ-57528