Patentnichtigkeitsverfahren gegen ein Arzneimittelpatent zur Krebsbehandlung: Anforderungen an die Offenbarung eines bestimmten Salzes eines einzelnen Wirkstoffes in einer zur oralen Verabreichung geeigneten Form; Berechtigung zur Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts; gemeinsame Einreichung einer PCT-Anmeldung; Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Voraussetzungen für eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität - Sorafenib-Tosylat
Leitsatz
Sorafenib-Tosylat
1. Die Offenbarung von über 100 Wirkstoffen, die allein oder in Form eines pharmazeutisch verträglichen Salzes mit zahlreichen in Betracht kommenden Salzbildnern als zur Behandlung von Krebs geeignet bezeichnet werden, reicht für die unmittelbare und eindeutige Offenbarung eines bestimmten Salzes eines einzelnen Wirkstoffs in einer zur oralen Verabreichung geeigneten Form nicht aus.
2a. Für die Berechtigung zur Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts bei der Anmeldung eines europäischen Patents spricht eine widerlegbare Vermutung.
2b. Die gemeinsame Einreichung einer PCT-Anmeldung, in der für einen oder mehrere Bestimmungsstaaten der Anmelder der prioritätsbegründenden Anmeldung und für einen oder mehrere andere Bestimmungsstaaten eine andere Person benannt wird, impliziert eine Abmachung der Beteiligten, die die andere Person zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt (ebenso EPA, Entscheidung vom - G 1/22 - Prioritätsberechtigung).
3. Im Patentnichtigkeitsverfahren liegt die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Voraussetzungen für eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität beim Nichtigkeitskläger.
Gesetze: Art 54 Abs 1 EuPatÜbk, § 3 Abs 1 PatG, § 87 Abs 1 PatG, § 286 ZPO
Instanzenzug: Az: 3 Ni 12/20 (EP)verb.m. 3 Ni 13/21 (EP) Urteil
Tatbestand
1Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 305 255 (Streitpatents), das aus einer Teilanmeldung zweiter Generation hervorgegangen ist, deren Stammanmeldung am unter Inanspruchnahme einer US-amerikanischen Priorität vom eingereicht wurde. Das Streitpatent betrifft Arylharnstoff-Verbindungen und umfasst zwölf Patentansprüche.
2Der angegriffene Patentanspruch 12 lautet in der Verfahrenssprache:
Aryl urea compound, which is a tosylate salt of N-(4-chloro-3-(trifluoromethyl)phenyl-N'-(4-(2-(N-methylcarbamoyl)-4-pyridyloxy)phenyl)urea.
3Die Klägerinnen haben geltend gemacht, der angegriffene Gegenstand sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in vier geänderten Fassungen verteidigt.
4Das Patentgericht hat das Streitpatent im angefochtenen Umfang für nichtig erklärt. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt. Die Klägerinnen treten dem Rechtsmittel entgegen.
Gründe
5Die zulässige Berufung ist begründet, soweit die Beklagte das Streitpatent mit Hilfsantrag 2 verteidigt.
6I. Das Streitpatent betrifft Arylharnstoff-Verbindungen.
71. In der Beschreibung des Streitpatents wird ausgeführt, das p21-Onkogen (ras) leiste einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von humanen soliden Karzinomen und sei bei 30 % aller menschlichen Karzinome mutiert.
8In seiner nicht mutierten Form sei das ras-Protein ein Hauptbestandteil der Signaltransduktions-Kaskade, die in nahezu allen Geweben durch Wachstumsfaktor-Rezeptoren gesteuert werde. Biochemisch sei ras ein Guaninnukleotid-bindendes GTPase-Protein, das sich periodisch zwischen einer GTP-gebundenen aktivierten und einer GDP-gebundenen inaktiven Form bewege. Bei Mutationen sei die endogene GTPase-Aktivität vermindert. Daher gebe das Protein konstitutive Wachstumssignale an stromabwärts gelegene Effektoren ab, zum Beispiel an das Enzym raf-Kinase. Es sei gezeigt worden, dass die Hemmung des raf-Kinase-Signalwegs zur Umkehr transformierter Zellen führe (Abs. 2).
9Daher stellten Verbindungen, die als raf-Kinase-Inhibitoren wirkten, eine bedeutsame Gruppe von Mitteln zur Behandlung zahlreicher Krebsarten dar (Abs. 3).
10Ausgehend davon kann das dem Streitpatent zugrunde liegende Problem dahin gefasst werden, einen effektiven und gut verträglichen raf-Kinase-Inhibitor zur Verfügung zu stellen.
112. Als hierfür geeigneten Stoff zeigt das Streitpatent einen in der Beschreibung als Verbindung A (compound A) bezeichneten Stoff auf (Abs. 73). Hierbei handelt es sich um ein Tosylatsalz der Verbindung N-(4-Chlor-3-(trifluoromethyl)phenyl-N'(4-2-(N-methylcarbamoyl)-4-pyridyloxy)phenyl)-Harnstoff (Abs. 60). Letztere hat den internationalen Freinamen Sorafenib.
12a) Die nicht angegriffenen Patentansprüche 1 bis 11 schützen die Verwendung von Sorafenib-Tosylat und 5-Fluoruracil zur Behandlung von Krebs.
13b) Der angegriffene Patentanspruch 12 schützt Sorafenib-Tosylat als Stoff.
14Wie die Klägerin zu 1 im Kern zutreffend geltend macht und der High Court für England und Wales näher ausgeführt hat (Mellor J, [2021] EWHC] 2690 (Pat) Rn. 21), ist dieser Schutz unabhängig von einer bestimmten Verwendung oder Eignung der genannten Verbindung.
15II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
16Der Gegenstand von Patentanspruch 12 sei dem Fachmann, einem Team aus einem medizinischen Chemiker, einem Pharmakologen und einem Mediziner mit jeweils langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Entwicklung und Verwendung von Chemotherapeutika zur Antitumorbehandlung, ausgehend von der Veröffentlichung von Lyons et al. (Endocrine-Related Cancer 2001, 8, 219-225, NiK2) in Verbindung mit dem Fachwissen nahegelegt, das dokumentiert sei in den Veröffentlichungen von Aulton (Pharmaceutics - The Science of Dosage Form Design, 1988, Nachdruck 1994, Kapitel 13 "Preformulation", NiK5; 2. Aufl. 2002, S. 113-138, NIB5), Bastin (Organic Process Research & Development 2000, 4, S. 427-435, NiK11) und Sucker et al. (Pharmazeutische Technologie, Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York, 2. Aufl. 1991, S. 144-173, NIB15).
17NiK2 beschäftige sich mit der Biologie der ras-Signalübertragung und der Epidemiologie von ras-Mutationen in Bezug auf Krebserkrankungen als Hintergrund für die Entwicklung des raf-Kinase-Inhibitors und stelle einen geeigneten Ausgangspunkt zur Lösung der Aufgabe dar, eine orale Verabreichungsform von Sorafenib bereitzustellen. Der Fachmann entnehme NK2, dass die raf-Kinase ein attraktives Ziel für die Antitumorbehandlung darstelle und dass sich Sorafenib als wirkungsvoller oral zu verabreichender Inhibitor der raf-Kinase erweise, der eine signifikante Aktivität bei verschiedenen menschlichen Tumoren aufzeige und zugleich gut verträglich sei. Auch wenn in NiK2 nähere Angaben zur Galenik der oral verabreichten Sorafenib-Tabletten fehlten, begründe der Umstand, dass die eingesetzte Sorafenib-Formulierung erfolgreich klinisch getestet worden sei, für den Fachmann einen starken Anreiz, nach einer Sorafenib-Zusammensetzung zu suchen, mit der sich die berichtete Wirksamkeit und Verträglichkeit verifizieren lasse. Vor die Aufgabe gestellt, eine geeignete orale Verabreichungsform von Sorafenib bereitzustellen, befasse sich der Fachmann ausgehend von NiK2 zunächst mit den Ergebnissen der Präformulierungsstudien zur freien Base von Sorafenib, die zeigten, dass Sorafenib schlecht wasserlöslich sei. Als Maßnahme zur Erzielung einer besseren Löslichkeit und einer damit einhergehenden besseren Bioverfügbarkeit fasse der Fachmann ein Salzscreening ins Auge. Dabei habe die Auswahl von Tosylat auf der Hand gelegen. Als mögliche Salzbildner kämen nur starke Säuren mit pKs-Werten im negativen Bereich in Betracht, da es zum Fachwissen gehöre, dass für die Bildung stabiler Salze eine Differenz von mindestens drei Einheiten zwischen den pKs-Werten der basischen Gruppe und des Gegenions liegen müsse. Als pharmakologisch geeignete und fachübliche Gegenionen starker Säuren mit pKs-Werten im negativen Bereich seien dem Fachmann insbesondere vier Anionen bekannt, nämlich Hydrochlorid, Sulfat, Mesylat und Tosylat. Diese beziehe er wegen der überschaubaren Anzahl alle in sein Salzscreening-Programm ein.
18Dem Fachmann habe kein Hindernis im Weg gestanden, den pKs-Wert von Sorafenib zu ermitteln. Ihm sei bekannt gewesen, dass zur Bestimmung des pKs-Werts von schlecht löslichen Wirkstoffen die gegenüber der Potentiometrie empfindlichere Messmethode der Spektroskopie anzuwenden sei. Außerdem habe es zum Prioritätszeitpunkt bereits Software gegeben, mit der pKs-Werte auf Basis der chemischen Struktur eines Wirkstoffs zumindest annäherungsweise hätten berechnet werden können. Laut Fachliteratur sei eine solche Kalkulation auch fachüblich gewesen. Entsprechend sei in der Entgegenhaltung KNK19 der pKs-Wert des am stärksten basischen Stickstoffatoms in Sorafenib berechnet worden.
19Bei der routinemäßigen Durchführung des Salzscreenings beachte der Fachmann außerdem, dass Sorafenib nach NK2 trotz der schlechten Löslichkeit eine gute Wirksamkeit bei oraler Verabreichung zeige. Er klassifiziere Sorafenib daher als Wirkstoff der Klasse 2 nach dem Biopharmaceutics Classification System (BCS), d.h. als Wirkstoff mit schlechter Löslichkeit und guter Magen-Darm-Durchlässigkeit. Daraus ziehe er zwangsläufig den Schluss, dass bei der oralen Verabreichung nicht die Löslichkeit, sondern die Auflösungsgeschwindigkeit von Sorafenib der entscheidende Faktor für die Bioverfügbarkeit sei. Der Fachmann bleibe daher nicht bei der Bestimmung der Löslichkeit von Sorafenib-Tosylat stehen, die gegenüber derjenigen von Sorafenib freie Base nicht besser sei. Aufgrund der genannten Klassifizierung sei er vielmehr motiviert, die Auflösungsgeschwindigkeit von Sorafenib-Tosylat im Vergleich zur freien Base zu bestimmen. Er werde davon weder durch die Schwierigkeiten aufgrund der schlechten Löslichkeit noch durch die Bewertung der in NIB5 beispielhaft beschriebenen Messmethode als ungeeignet abgehalten. Die Bestimmung der Auflösungsgeschwindigkeit stelle eine Standarduntersuchungsmaßnahme in der Pharmakologie dar. Unter den verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Messmethoden wende sich der Fachmann unter Berücksichtigung der Ausführungen in NIB5 anderen Methoden zu, beispielsweise der Spektroskopie oder der Messung der Leitfähigkeit.
20Dass es verschiedene Optionen zur Verbesserung der Löslichkeit und damit der Bioverfügbarkeit gegeben habe, führe zu keiner anderen Beurteilung. Die Salzbildung sei, wie auch die Beklage in ihrem Gutachten NIB2 einräume, ein üblicher und nach NiK11 sogar der bevorzugte Weg zur Verbesserung der Löslichkeit eines schwer löslichen Wirkstoffs gewesen. Dem zeitlichen und finanziellen Aufwand eines Salzscreenings komme bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit lediglich eine untergeordnete Bedeutung zu. Die physikalisch-chemische Analyse eines Wirkstoffs in der Präformulierungsphase gehöre zur alltäglichen Routinetätigkeit des dem fachmännischen Team angehörenden Pharmakologen.
21Es habe auch kein Vorurteil gegenüber der Verwendung von Tosylatsalzen bestanden. Tosylat sei im Prioritätszeitpunkt in der Fachliteratur als mögliches Gegenion vorgeschlagen gewesen. Aus dem Umstand, dass in der zweiten Auflage von Aulton Tosylat nicht mehr in der Tabelle mit potentiellen pharmazeutischen Salzen aufgeführt sei, könne ebenfalls nicht auf entsprechende Vorbehalte geschlossen werden. Auch die zweite Auflage weise weiterhin auf die Verwendung von Tosylat hin.
22Zusätzlich ergebe sich aus der internationalen Patentanmeldung 00/42012 (NiK4) für den Fachmann eine Anregung zur Berücksichtigung von Tosylat. NiK4 zeige die Verwendung von Tosylatsalzen als bevorzugtes pharmazeutisch akzeptables Salz für Arylharnstoff-Verbindungen und offenbare Sorafenib als bevorzugtes Beispiel für eine raf-Kinase inhibierende Arylharnstoff-Verbindung.
23Belege dafür, dass reine p-Toluolsulfonsäure in ausreichender Menge nicht zu beschaffen gewesen sei, habe die beweispflichtige Beklagte nicht vorgelegt. Außerdem gehöre es zur Routinetätigkeit des dem fachmännischen Team angehörenden Chemikers, Substanzen und Hilfsstoffe gegebenenfalls mit fachüblichen Standardmethoden derart aufzureinigen, dass sie für pharmazeutische Anwendungen geeignet seien.
24Der Fachmann lasse das Tosylatsalz auch nicht deshalb außer Acht, weil bis zum Prioritätszeitpunkt kein als Tosylatsalz formulierter und oral zu verabreichender Wirkstoff zugelassen gewesen sei. In allgemeinen Lehrbüchern würden neben dem am häufigsten eingesetzten Hydrochloridsalz auch andere Salze aufgezeigt. Bei einer schlechten Löslichkeit des Hydrochloridsalzes habe das Tosylatsalz für den Fachmann sogar im Vordergrund gestanden. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe der Fachmann dem der suboptimalen Löslichkeit von Hydrochloridsalzen zugrunde liegenden Common-Ion-Effekt nicht nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Nach NIB5 zeigten Hydrochloridsalze wegen dieses Effekts oft eine suboptimale Löslichkeit in gastrointestinaler Umgebung.
25Mit ihrem Einwand, die Auflösungsgeschwindigkeit werde nur bei erfolgversprechenden Kandidaten ermittelt, lasse die Beklagte außer Acht, dass der Fachmann diesem Parameter in Kenntnis der Ergebnisse aus NiK2 und der schlechten Löslichkeit der freien Base eine viel höhere Bedeutung zumesse.
26Eine Berechnung der Auflösungsgeschwindigkeit aus der (Sättigungs-)Löslichkeit sei im Zeitpunkt der Wirkstoffentwicklung von Sorafenib noch nicht möglich gewesen. Zudem bedeute eine geringe Löslichkeit nicht zwangsläufig eine geringe Auflösungsgeschwindigkeit. Daher werde die Auflösungsgeschwindigkeit in der Fachliteratur als in der Präformulierungsphase standardmäßig durchzuführende Messung genannt.
27Der abweichenden Beurteilung des Landgerichts München I könne nicht gefolgt werden. Das Landgericht habe die Funktion eines Hinweises nach § 83 Abs. 1 PatG verkannt. Eine Abweichung von der Einschätzung des Patentgerichts dürfte nur dann möglich und angemessen sein, wenn das Verletzungsgericht aufgrund sachverständiger Stellungnahmen eine ausreichende Grundlage habe.
28Der Gegenstand von Patentanspruch 12 sei auch in den hilfsweise verteidigten Fassungen nahegelegt. Die danach zusätzlich vorgesehenen Merkmale seien aus NiK2 bekannt. Die Umformulierung eines Stoffanspruchs in einen Verwendungsanspruch könne eine erfinderische Tätigkeit nicht begründen, weil Sorafenib bereits in NiK2 zur Behandlung von menschlichen Krebserkrankungen eingesetzt worden sei.
29III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
301. Zu Recht ist das Patentgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gegenstand der erteilten Fassung von Patentanspruch 12 ausgehend von NiK2 nahegelegen hat.
31a) NiK2 schildert die Bedeutung von ras-Mutationen und raf-Kinase-Inhibitoren in Bezug auf Krebserkrankungen.
32Eine Untersuchung von vielen tausend Verbindungen aus der Klasse der Bis-Aryl-Harnstoffe habe ergeben, dass eine mit BAY 43-9006 bezeichnete Verbindung das Tumorwachstum signifikant inhibiert habe (S. 223 f.).
33Eine klinische Prüfung von oralen Tabletten mit BAY 43-9006 habe im Juli 2000 begonnen. Bislang sei die Verbindung gut vertragen worden und die Dosissteigerung werde fortgesetzt. Die vorläufigen klinischen Daten seien ermutigend. BAY 43-9006 sei ein oral verfügbarer potenter Inhibitor der raf-Kinase mit signifikanter Aktivität bei vier verschiedenen humanen Tumorarten, darunter Colon-, Bauchspeicheldrüsen-, Lungen- und Eierstocktumoren (S. 224).
34b) Hieraus ergab sich Anlass, eine Präformulierungsstudie zur Suche nach einer für die orale Verabreichung geeigneten Form von Sorafenib durchzuführen.
35aa) Die in NiK2 berichteten Ergebnisse begründeten die Erwartung, dass die orale Verabreichung von BAY 43-9006 - d. h. von Sorafenib - in Form von Tabletten einen erfolgreichen Weg zur Behandlung von Krebspatienten darstellt.
36bb) Um diesen Weg zu beschreiten, bedurfte es nicht nur einer geeigneten Formulierung, sondern auch näherer Erkenntnisse darüber, in welcher Form Sorafenib in dieser Formulierung enthalten sein soll.
37Hierzu enthält NiK2 keine Angaben.
38Um die in NiK2 offenbarte Lehre nachzuarbeiten und weiterzuentwickeln, war deshalb eine Präformulierungsstudie erforderlich.
39cc) Entgegen der Auffassung der Berufung sprach gegen diese Vorgehensweise nicht der Umstand, dass für die in NiK2 geschilderten Versuche eine geeignete Form von Sorafenib anscheinend bereits zur Verfügung stand.
40Nähere Kenntnisse über die dort eingesetzte Form waren weder aus NiK2 noch aus sonstigen Veröffentlichungen zugänglich. Nicht an der Entwicklung des in NiK2 eingesetzten Medikaments beteiligte Personen waren mithin darauf angewiesen, durch eigene Studien nähere Erkenntnisse zu gewinnen.
41Angesichts der auch nach den Ausführungen im Streitpatent schon im Stand der Technik bekannten großen Bedeutung von raf-Kinase-Inhibitoren und den vielversprechenden Ergebnissen aus NiK2 bildete der für solche Studien erforderliche Aufwand in der dafür maßgeblichen Gesamtschau keinen hinreichenden Grund, von der Beschreitung dieses Erfolg versprechenden Wegs abzusehen.
42dd) Entgegen der Auffassung der Berufung ergaben sich ausgehend von NiK2 keine ausreichenden Hinweise darauf, dass Sorafenib als freie Base eingesetzt werden kann und die Suche nach geeigneten Salzen deshalb nicht erforderlich ist.
43Der Umstand, dass NiK2 kein Sorafenib-Salz erwähnt, gab keinen sicheren Aufschluss darüber, dass in den dort geschilderten Versuchen die freie Base eingesetzt worden ist.
44Dass die freie Base in den von der Beklagten vorgetragenen Tierversuchen (NIB3 S. 4 f. mit Tabelle 2) eine messbare Bioverfügbarkeit zeigte, führt schon deshalb nicht zu einer abweichenden Beurteilung, weil die Ergebnisse dieser Versuche - in die auch das Tosylat-Salz einbezogen war - im Stand der Technik nicht bekannt waren.
45Angesichts dieser Ungewissheit wäre ein Absehen von einer Präformulierungsstudie mit hohen Risiken verbunden gewesen. Auch unter diesem Gesichtspunkt lag es nahe, zunächst eine solche Studie durchzuführen.
46c) Ebenfalls zu Recht ist das Patentgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass Anlass bestand, im Rahmen einer Präformulierungsstudie nach geeigneten Salzen zu suchen und hierbei Tosylat in die Untersuchung einzubeziehen.
47aa) Wie auch die Berufung nicht in Zweifel zieht, gehörte die Suche nach geeigneten Salzen zu den Maßnahmen, die im Rahmen einer Präformulierungsstudie nahelagen, weil zu erkennen war, dass Sorafenib nur schwer in Wasser löslich ist.
48bb) Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass Anlass bestand, in diese Untersuchung Tosylat einzubeziehen, weil vorrangig Säuren in Betracht kamen, deren Dissoziationskonstante (pKa oder pKs) einen sehr niedrigen Wert aufweist, und die Auswahl insoweit begrenzt war.
49(1) Wie auch die Berufung vorträgt, kann sich ein Salz bilden, wenn der pKs-Wert einer Säure niedriger ist als der pKs-Wert der ionisierbaren Gruppe des basischen Wirkstoffs.
50Vor diesem Hintergrund bestand Anlass, zunächst den pKs-Wert von Sorafenib zu bestimmen.
51(2) Für Sorafenib war von einem pKs-Wert im Bereich zwischen 2,03 und 4,5 auszugehen.
52Nach dem insoweit unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Klägerin zu 1 führen hierzu geeignete Berechnungen zu Werten in dem genannten Bereich. Der Wert von 2,66, der in dem von der Klägerin zu 2 vorgelegten Auszug aus der Datenbank SciFinder (Stand: 2021, KNK19) ausgewiesen ist und den das Patentgericht zugrunde gelegt hat, liegt innerhalb dieses Bereichs.
53Der von der Berufung zusätzlich angeführte, ebenfalls in KNK19 angegebene Wert von 12,89 ist demgegenüber nicht von Bedeutung. Er betrifft ausweislich der Angaben in KNK19 die am stärksten saure (most acidic) Gruppe. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Patentgerichts ist indes der Wert der am stärksten basischen (most basic) Gruppe maßgeblich.
54(3) Auch wenn zugunsten der Berufung unterstellt wird, dass vor dem Prioritätstag der in KNK19 ausgewiesene Wert nicht ohne weiteres zu ermitteln und deshalb lediglich der sich aus Berechnungen ergebende Bereich zwischen 2,03 und 4,5 als gesichert angenommen werden konnte, lag die Einbeziehung von Tosylat aus den vom Patentgericht angeführten Gründen nahe.
55(a) Ausgehend vom Stand der Technik lag es nahe, nur solche Stoffe in Betracht zu ziehen, deren pKs-Wert mindestens drei Einheiten unterhalb des pKs-Werts von Sorafenib liegt.
56Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Patentgerichts, wonach es für die Bildung starker Salze üblich ist, einen solchen Mindestabstand zu wählen, wie dies in NiK11 (S. 427 rechts unten) wiedergegeben ist.
57Der von der Berufung aufgezeigte Umstand, dass NiK11 selbst stabile Salze offenbart, obwohl die Differenz der pKs-Werte lediglich im Bereich von 1 liegt, führt nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
58Auch wenn es sich bei der vom Patentgericht herangezogenen Regel nur um eine Faustformel handelt, die Ausnahmen nicht ausschließt, lag es mangels konkreter Erkenntnisse zu Sorafenib nahe, zunächst solche Stoffe zu untersuchen, die unter die genannte Regel fallen und deshalb erfahrungsgemäß eine höhere Erfolgsaussicht bieten. Auch NiK11 zieht aus den dort gefundenen, von der Regel abweichenden Ergebnissen nicht die Schlussfolgerung, dass es sich generell anbieten könnte, von Beginn an Stoffe mit einem geringeren Abstand zu untersuchen.
59(b) Vor diesem Hintergrund boten sich für eine Präformulierungsstudie mit Sorafenib Stoffe an, die für die Herstellung von Arzneimitteln geeignet sind und deren pKs-Wert negativ ist oder allenfalls geringfügig über 0 liegt.
60Zu diesen Stoffen gehörte Tosylat.
61Von den Salzen, die in Tabelle 8.4 (S. 117) der zweiten Auflage des insoweit aufschlussreichen Lehrbuchs von Aulton (NIB5) aufgeführt sind, weisen lediglich Hydrochlorid (pKs -6,10), Sulfat (pKs -3,00) und Mesylat (pKs -1,20) einen so geringen pKs-Wert auf, dass der Mindestabstand von 3 auf jeden Fall gewahrt werden kann.
62Maleat (pKs 1,92) und Phosphat (pKs 2,15) liegen demgegenüber in einem Bereich, bei dem der genannte Abstand selbst dann nicht gewahrt ist, wenn der pKs-Wert von Sorafenib am oberen Ende der errechneten Spanne liegt, also bei 4,5.
63Bei dieser Ausgangslage bestand Anlass, Tosylat als weiteren Kandidaten in Betracht zu ziehen.
64Tosylat ist in der ersten Auflage des Lehrbuchs von Aulton (NiK5) in Tabelle 13.4 (S. 227) noch als potentielles pharmazeutisches Salz aufgeführt. Der angegebene pKs-Wert von -1,34 liegt zwischen den Werten von Sulfat und Mesylat.
65Die entsprechende Tabelle in der zweiten Auflage des Lehrbuchs (NIB5 Tabelle 8.4, S. 117) führt Tosylat zwar nicht mehr an. Auch in dieser Auflage wird Tosylat aber als Alternative für den Fall dargestellt, dass die Löslichkeit durch den sogenannten Common-Ion-Effekt beeinträchtigt wird (NIB5 S. 124 links).
66Auch wenn dem zu entnehmen sein mag, dass Tosylate im Allgemeinen nicht zu den in erster Linie in Betracht kommenden Salzen gezählt wurden, bot es sich angesichts der begrenzten Auswahl an Stoffen, die aufgrund ihres pKs-Werts überhaupt als Salzbildner für Sorafenib in Betracht kamen, dennoch an, Tosylat als mögliche Alternative von Beginn an in Betracht zu ziehen. Dies gilt unabhängig davon, ob Hinweise darauf vorlagen, dass der Common-Ion-Effekt bei Sorafenib eine Rolle spielen könnte. Schon der niedrige pKs-Wert von Sorafenib sprach dafür, ein besonderes Augenmerk auf Salzbildner zu legen, die ebenfalls einen niedrigen pKs-Wert aufweisen. Aus demselben Grund begründete der Umstand, dass Tosylate in Arzneimitteln nur in wenigen Einzelfällen zum Einsatz gelangt sind, keinen hinreichenden Anlass, diesen Stoff dennoch unberücksichtigt zu lassen.
67d) Wie auch der High Court für England und Wales entschieden hat, ist der Gegenstand von Patentanspruch 12 bereits damit nahegelegt.
68Wie bereits oben dargelegt wurde, schützt Patentanspruch 12 Sorafenib-Tosylat als Stoff. Die Herstellung dieses Stoffs und die Untersuchung seiner Löslichkeit gehören zum geschützten Gegenstand.
69Mit der Einbeziehung vom Sorafenib-Tosylat in eine Präformulierungsstudie war mithin auch der Stoff nahegelegt.
702. Hinsichtlich des mit Hilfsantrag 1 verteidigten Gegenstands ergibt sich keine abweichende Beurteilung.
71a) Nach Hilfsantrag 1 soll die erteilte Fassung von Patentanspruch 12 ergänzt werden um die Wörter "for oral delivery".
72Diese Zweckangabe ist nicht auf eine bestimmte Verwendung gerichtet. Sie schränkt den Gegenstand des Patents lediglich dahin ein, dass der geschützte Stoff zur oralen Verabreichung geeignet sein muss. Eine bestimmte Formulierung ist hierfür nicht erforderlich.
73b) Dieser Gegenstand ist aus denselben Gründen nahegelegt wie Sorafenib-Tolysat selbst, weil dieser Stoff die mit Hilfsantrag 1 beanspruchte Eigenschaft ohne weiteres aufweist.
743. Eine andere Beurteilung ergibt sich hingegen im Hinblick auf Hilfsantrag 2.
75a) Nach Hilfsantrag 2 soll die erteilte Fassung von Patentanspruch 12 ergänzt werden um die Wörter "in an oral dosage form".
76Dieses zusätzliche Merkmal erfordert, dass Sorafenib-Tosylat so formuliert ist, dass es ohne weitere Verarbeitung oder Umwandlung oral verabreicht werden kann.
77b) Der damit verteidigte Gegenstand geht nicht über den Inhalt der Anmeldung (KNK2) und der Stammanmeldung (NiK6) hinaus.
78Ebenso wie das Streitpatent befasst sich die Anmeldung zwar vorwiegend mit einer Kombination von Sorafenib-Tosylat mit anderen Stoffen. Als zur Erfindung gehörend wird jedoch auch die separate Verabreichung der einzelnen Stoffe offenbart, und zwar auch in oraler Form (NiK6 S. 8, KNK2 Abs. 29 f.).
79c) Entgegen der Auffassung des Patentgerichts hat dieser Gegenstand ausgehend von NiK2 nicht nahegelegen.
80aa) Zu Recht hat das Patentgericht allerdings angenommen, dass trotz der geringen Löslichkeit von Sorafenib-Tosylat Anlass bestand, ergänzend die Auflösungsgeschwindigkeit zu untersuchen.
81Wie auch die Berufung im Ansatz nicht in Zweifel zieht, ist die Auflösungsgeschwindigkeit ein Parameter, der für die Bioverfügbarkeit von Bedeutung ist. Er ist zwar proportional zur Löslichkeit. Nach den Feststellungen des Patentgerichts besagt dies aber nicht, dass ein schlecht löslicher Stoff zwingend eine geringe Auflösungsgeschwindigkeit hat.
82Ob angesichts dessen stets Anlass besteht, die Auflösungsgeschwindigkeit auch bei solchen Stoffen zu untersuchen, deren Löslichkeit sich als gering erwiesen hat, bedarf keiner abschließenden Entscheidung.
83Wie das Patentgericht zu Recht angenommen hat, bestand im Streitfall eine besondere Situation, weil sich Sorafenib ausweislich der Schilderung in NiK2 als zur oralen Verabreichung in Form von Tabletten geeignet erwiesen hatte. Damit stand zwar nicht fest, dass es ein geeignetes Salz geben muss. Es bestand aber jedenfalls Anlass, ein in die Untersuchung einbezogenes Salz nicht schon deshalb als ungeeignet zu verwerfen, weil es eine geringe Löslichkeit gezeigt hat, sondern zusätzlich die Auflösungsgeschwindigkeit als zweiten maßgeblichen Parameter in den Blick zu nehmen.
84bb) Entgegen der Auffassung des Patentgerichts bestand jedoch kein Anlass, zur Untersuchung der Auflösungsgeschwindigkeit Messmethoden einzusetzen, die im Stand der Technik für Präformulierungsstudien nicht üblich waren.
85(1) Nach dem insoweit nicht bestrittenen Vorbringen der Berufung führen NIB5 (S. 122) und NiK11 (S. 429 Tabelle 2) als übliche Vorgehensweise im Rahmen vom Präformulierungsstudien die Bestimmung der intrinsischen Auflösungsgeschwindigkeit an, also der Geschwindigkeit, die sich bei dem untersuchten Salz ohne Einfluss anderer Faktoren einstellt.
86Mit der in NiB5 hierzu vorgeschlagenen Vorgehensweise waren nach den Feststellungen des Patentgerichts keine relevanten Erkenntnisse zu erwarten, weil die Löslichkeit von Sorafenib-Tosylat zu gering ist. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit dieser Feststellung begründen, sind weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich.
87(2) Entgegen der Auffassung des Patentgerichts und der Klägerinnen bestand auch vor dem Hintergrund der positiven Ergebnisse aus NiK2 kein Anlass, andere Messmethoden heranzuziehen.
88(a) Aus den Feststellungen des Patentgerichts, wonach andere Standardmessmethoden wie zum Beispiel Spektroskopie oder Messung der Leitfähigkeit zur Verfügung standen, ergibt sich nicht, dass diese Methoden auch für Präformulierungsstudien üblich waren.
89Nach dem insoweit unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Berufung wird Spektroskopie auch bei dem in NIB5 vorgeschlagenen Verfahren eingesetzt. Verbesserungen lassen sich nach dem Vorbringen der Klägerinnen durch Zusatz von Lösungsvermittlern erreichen, etwa in Form von Tensiden. Auf diese Weise kann aber nicht die intrinsische Auflösungsgeschwindigkeit ermittelt werden, sondern nur ein relativer Vergleich zwischen einzelnen untersuchten Stoffen angestellt werden.
90(b) Für den seitens der Klägerinnen als weitere Alternative aufgezeigten Einsatz von Durchflusszellen gilt Entsprechendes.
91Wie die Klägerinnen insbesondere anhand der Veröffentlichung von Langenbucher et al. (Standardized Flow-cell Method as an Alternative to Existing Pharmacopoeial Dissolution Testing, Pharm. Ind. 51 (1989), 1276, KNK25) aufgezeigt haben, waren geeignete Geräte, wie sie die Beklagte nach dem Prioritätstag zur Vorbereitung einer Eingabe an das Europäische Patentamt (NiK14) eingesetzt hat, schon vor dem Prioritätstag bekannt.
92Aus KNK25 ergab sich aber keine Anregung, solche Geräte - die ebenfalls nur einen relativen Vergleich ermöglichen - im Rahmen von Präformulierungsstudien einzusetzen.
93KNK25 hebt zwar als einen Vorteil von Messzellen hervor, dass Wirkstoffe, Granulate und fertige Formulierungen mit demselben Gerätetyp untersucht werden können. Diese Ausführungen stehen aber in Zusammenhang mit dem einleitenden Hinweis, der Einsatz von Durchflusszellen habe sich zu einem etablierten Werkzeug zum Testen oraler Dosierungsformen entwickelt. Als mögliche weitere Einsatzmöglichkeit wird hierbei nur das Testen rektaler Formen angeführt, das Gegenstand von Untersuchungen sei (S. 1280 rechts unten). Ein Hinweis, dass Durchflusszellen auch im Rahmen von Präformulierungsstudien in Betracht gezogen werden könnten, ergibt sich aus diesen Ausführungen nicht.
94cc) Vor diesem Hintergrund ergab sich auch aus der durch NiK2 begründeten erhöhten Erfolgsaussicht keine Anregung, in Präformulierungsstudien nicht übliche Methoden zur Messung der Auflösungsgeschwindigkeit von Sorafenib-Tosylat einzusetzen.
95Die Ausführungen in NiK2 gaben allerdings grundsätzlich Anlass, auch über den üblichen Umfang hinausgehende Maßnahmen in Betracht zu ziehen, soweit diese nicht mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden waren. Nach dem insoweit unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Klägerinnen hätte sich der Aufwand für eine Untersuchung mit Hilfe einer kleinen Messzelle zudem in überschaubarem Rahmen gehalten.
96Aus dieser Ausgangslage ergaben sich jedoch keine Hinweise darauf, welche über das im Rahmen von Präformulierungsstudien Übliche hinausgehenden Maßnahmen Erfolg versprachen und dass gerade ein Vergleich der Auflösungsgeschwindigkeit der untersuchten Salze - die durchweg eine geringe Löslichkeit aufweisen - zum Ziel führen könnte. Vor diesem Hintergrund boten sich weder der Einsatz von Lösungsvermittlern noch Untersuchungen mit Durchflusszellen als naheliegende Möglichkeit an.
97dd) Entgegen der Auffassung der Klägerinnen bestand vor diesem Hintergrund auch kein Anlass, die Bioverfügbarkeit verschiedener Formen von Sorafenib ohne weitere Laboruntersuchungen im Rahmen von Tierversuchen zu ermitteln.
98NiK2 begründete zwar die Aussicht, dass es eine für die orale Verabreichung geeignete Form von Sorafenib geben muss. Dies bot aber keine hinreichende Gewähr dafür, dass der gesuchte Stoff zum Kreis der untersuchten Substanzen gehört.
99IV. Die angefochtene Entscheidung stellt sich hinsichtlich des Hilfsantrags 2 nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar (§ 119 Abs. 1 PatG).
1001. Entgegen der Auffassung der Klägerin zu 1 ist der Gegenstand von Patentanspruch 12 nicht durch NiK4 vorweggenommen.
101a) NiK4 befasst sich vor demselben Hintergrund wie das Streitpatent mit Verbindungen, die als Inhibitoren von raf-Kinase geeignet sind.
102Als geeignet schlägt NiK4 Verbindungen mit der allgemeinen Strukturformel A -D -B vor, wobei D die Struktur -NH-C(O)-NH- aufweist, es sich mithin um eine Harnstoff-Verbindung handelt. Die Komponenten A und B können aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Strukturen bestehen.
103NiK4 schildert ein Verfahren zur Synthese solcher Verbindungen und listet insgesamt 103 Verbindungen, die in solchen Versuchen entstanden sind, mit ihrer chemischen Bezeichnung (S. 53 Z. 17 bis S. 75 Z. 9) und mit ihren Strukturformeln (Tabellen 1 bis 7, S. 76 Z. 1 bis S. 88 Z. 4) auf.
104Sorafenib ist als Eintrag 42 aufgeführt und in den Ansprüchen 61 und 67 jeweils zusammen mit anderen Verbindungen als Stoff per se bzw. zur Behandlung von krebsartigem, durch raf-Kinase vermitteltem Zellwachstum beansprucht.
105Als ebenfalls zur Erfindung gehörend gibt NiK4 pharmazeutisch akzeptable Salze an. Als Beispiele nennt die Entgegenhaltung neben vielen anderen auch Salze der p-Toluolsulfonsäure (S. 6 Z. 15), also Tosylate. Solche Salze, darunter auch Tosylate, werden in Anspruch 50 für alle Verbindungen nach Anspruch 1 und in nachfolgenden Ansprüchen für Verbindungen nach den Unteransprüchen 2, 33, 38 und 39 beansprucht.
106b) Damit ist, wie das Patentgericht in dem nach § 83 Abs. 1 PatG erteilten Hinweis zu Recht ausgeführt hat, Sorafenib-Tosylat nicht unmittelbar und eindeutig offenbart.
107Entgegen der Auffassung der Klägerin zu 1 reicht für eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung dieser Verbindung nicht der in NiK4 enthaltene Hinweis, dass die aufgeführten Salze grundsätzlich für alle offenbarten Harnstoff-Verbindungen in Frage kommen. Aus diesem Hinweis ergibt sich nicht die in Patentanspruch 12 in der Fassung von Hilfsantrag 2 geschützte Lehre, dass gerade das Tosylat von Sorafenib für eine orale Verabreichung gut geeignet ist.
1082. Der im Prioritätsintervall veröffentlichte Stand der Technik ist für die Entscheidung des Streitfalls nicht erheblich.
109Die Klägerinnen haben keine konkreten Umstände aufgezeigt, die Zweifel an der wirksamen Inanspruchnahme des Prioritätsrechts aus der US-Anmeldung 60/3344609 begründen.
110a) Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat in einem am Tag der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Rechtsstreit verkündeten, dem Senat aber erst danach bekannt gewordenen Beschluss entschieden, dass die Wirksamkeit der Inanspruchnahme einer Priorität für die Anmeldung eines europäischen Patents gemäß Art. 87 Abs. 1 EPÜ autonom auf der Grundlage des Europäischen Patentübereinkommens zu beurteilen ist, dass für die Berechtigung zur Inanspruchnahme eine widerlegbare, aber starke Vermutung spricht und dass die gemeinsame Einreichung einer PCT-Anmeldung, in der für einen oder mehrere Bestimmungsstaaten der Anmelder der prioritätsbegründenden Anmeldung und für einen oder mehrere andere Bestimmungsstaaten eine andere Person benannt wird, eine Abmachung der Beteiligten impliziert, die die andere Person zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt (EPA, Entscheidung vom - G 1/22, Rn. 86, Rn. 101 ff. und Rn. 122 - Prioritätsberechtigung).
111Der Senat tritt dieser Auslegung der auch für die Entscheidung des Streitfalls ausschlaggebenden Regelung in Art. 87 Abs. 1 EPÜ bei. Sie ist sorgfältig und überzeugend begründet und führt zu lebensnahen und interessengerechten Ergebnissen.
112b) Bei Anlegung dieses Maßstabs ist die Priorität im Streitfall wirksam in Anspruch genommen.
113aa) Die sich aus dem Europäischen Patentübereinkommen ergebende Vermutung der rechtmäßigen Inanspruchnahme kann nicht durch Geltendmachung spekulativer Zweifel widerlegt werden. Vielmehr müssen konkrete Umstände aufgezeigt werden, die ernstliche Zweifel an der Berechtigung des späteren Anmelders begründen (EPA, Entscheidung vom - G 1/22, Rn. 110 - Prioritätsberechtigung).
114Solche Umstände haben die Klägerinnen nicht aufgezeigt.
115Das bloße Bestreiten des gegnerischen Vortrags mit Nichtwissen ist zur Widerlegung der Vermutung schon im Ansatz nicht geeignet.
116Der Umstand, dass die Beklagte nur für einen Teil der insgesamt achtzehn Anmelder der früheren Anmeldung Verträge vorgelegt hat, die eine Übertragung von Rechten an im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses entstandenen Erfindungen vorsehen, mag es möglich erscheinen lassen, dass einige der Arbeitnehmer keinen schriftlichen Vertrag oder einen Vertrag ohne die vorgelegte Klausel geschlossen haben. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass im Zusammenhang mit dem Streitpatent eine individuelle Vereinbarung getroffen wurde. Eine solche Vereinbarung bedarf keiner besonderen Form und ist auch konkludent möglich (EPA, Entscheidung vom - G 1/22, Rn. 100 - Prioritätsberechtigung).
117Hinsichtlich des Umstands, dass das Arbeitsverhältnis eines der achtzehn Anmelder möglicherweise dem deutschen Recht unterlag und die mit diesem Anmelder getroffene Abtretungsvereinbarung danach als unwirksam zu qualifizieren sein könnte, gilt nichts anderes. Auch unter diesen Prämissen ist nicht ausgeschlossen, dass es im Streitfall eine individuelle Abtretungsvereinbarung gegeben hat.
118bb) Darüber hinaus ist im Streitfall eine zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigende Abmachung der Beteiligten auch deshalb impliziert, weil die achtzehn Anmelder der früheren Anmeldung auch an der PCT-Anmeldung beteiligt waren, aus der das Streitpatent (im Wege der mehrfachen Teilung) hervorgegangen ist, und darin als Anmelder für die Vereinigten Staaten benannt sind.
119c) Der Umstand, dass die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erst nach der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Rechtsstreit bekannt geworden ist, erfordert nicht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.
120Auf der mit den Parteien erörterten Grundlage des deutschen Rechts ergibt sich keine abweichende Beurteilung.
121aa) Nach deutschem Recht obliegt die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Voraussetzungen für eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität ebenfalls den Klägerinnen.
122(1) In einem Patentnichtigkeitsverfahren liegt die Beweislast hinsichtlich aller Tatsachen, aus denen sich die Nichtigkeit des erteilten Patents ergeben sollen, grundsätzlich beim Nichtigkeitskläger.
123Ungeachtet des im Patentnichtigkeitsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatzes geht es zu Lasten des Nichtigkeitsklägers, wenn das Ergebnis der Verhandlung und der Beweisaufnahme zu keiner eindeutigen Feststellung im Sinne des Klagevorbringens geführt hat. Nachdem das Patent ordnungsgemäß erteilt worden ist, kann dem Patentinhaber die dadurch erlangte Rechtsstellung nur dann genommen werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass er sie zu Unrecht erlangt hat (, GRUR 1991, 522, juris Rn. 36 - Feuerschutzabschluss; Urteil vom - X ZR 109/90, BGHZ 118, 221 = GRUR 1992, 839, juris Rn. 49 - Linsenschleifmaschine; Urteil vom - X ZR 29/93, GRUR 1996, 757, juris Rn. 77 - Zahnkranzfräser; Urteil vom - X ZR 51/06, GRUR 2010, 901 Rn. 32 - Polymerisierbare Zementmischung; Urteil vom - X ZR 128/15 Rn. 42).
124(2) Grundlage der Beurteilung ist hierbei grundsätzlich das Vorbringen der Parteien.
125Der in § 87 Abs. 1 PatG normierte Grundsatz der Amtsermittlung besagt lediglich, dass das Gericht an Vorbringen und Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. In dem als Parteiprozess ausgestalteten Nichtigkeitsverfahren ist es hingegen nicht Aufgabe des Gerichts, den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus vagen Angaben des Klägers zusammenzustellen oder aus anderen Quellen selbst in Erfahrung zu bringen. Vielmehr geht es darum, unparteiisch zu wägen, ob der Klagevortrag das Klagebegehren rechtfertigt (, BGHZ 198, 187 = GRUR 2013, 1272 Rn. 36 - Tretkurbeleinheit).
126(3) Bezüglich der Frage, ob ein Patent eine Priorität zu Recht in Anspruch nimmt, ergibt sich hieraus, dass es nicht die Aufgabe des Gerichts ist, tatsächliche Vorgänge, die zur Übertragung eines ursprünglich anderen Personen zustehenden Prioritätsrechts auf den Patentanmelder geführt haben, im Einzelnen zu ermitteln und auf ihre Rechtswirksamkeit zu überprüfen. Vielmehr liegt es grundsätzlich am Nichtigkeitskläger, Umstände aufzuzeigen, aus denen sich die Unwirksamkeit der maßgeblichen Vorgänge ergibt.
127Entgegen der Auffassung der Klägerinnen wird dem Nichtigkeitskläger damit keine unzumutbare Belastung auferlegt. Der Nichtigkeitskläger war in der Regel zwar nicht an den Vereinbarungen beteiligt, aus denen sich die Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität ergibt. Wenn er den Verdacht hegt, der Patentanmelder könnte das einem Dritten zustehende Prioritätsrecht zu Unrecht in Anspruch genommen haben, steht es ihm jedoch frei, den Dritten hierzu zu befragen. Sofern dieser keine Auskünfte erteilt, spricht dies typischerweise dafür, dass er mit der Inanspruchnahme des Prioritätsrechts einverstanden war.
128bb) Die Klägerinnen haben keine Umstände aufgezeigt, die zu der Überzeugung führen könnten, dass zumindest einer der Übertragungsvorgänge unwirksam war oder nicht stattgefunden hat.
129Das bloße Bestreiten des gegnerischen Vortrags mit Nichtwissen reicht nicht aus. Die Darlegungslast hinsichtlich der relevanten Tatsachen obliegt derjenigen Partei, die die Beweislast trägt, im Streitfall also den Klägerinnen.
130Der Umstand, dass die Beklagte nur für einen Teil der achtzehn Anmelder Übertragungsvereinbarungen vorgelegt hat, vermag keine durchgreifenden Zweifel daran zu begründen, dass im Streitfall eine individuelle Vereinbarung getroffen worden ist. Entsprechendes gilt für den Umstand, dass die Vereinbarung mit einem der Anmelder bei Anwendbarkeit deutschen Arbeitsrechts möglicherweise unwirksam ist.
131Für den Abschluss individueller Vereinbarungen spricht auch auf der Grundlage des deutschen Rechts zusätzlich der Umstand, dass die achtzehn ursprünglichen Anmelder auch an der PCT-Anmeldung beteiligt waren und darin als Anmelder für die Vereinigten Staaten benannt worden sind.
132V. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 119 Abs. 5 Satz 2 PatG).
133Aus den oben dargelegten Umständen ergibt sich, dass Patentanspruch 12 in der mit Hilfsantrag 2 verteidigten Fassung Bestand hat.
134VI. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 92 Abs. 1 ZPO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:281123UXZR83.21.0
Fundstelle(n):
CAAAJ-55824