Umsatzsteuer | Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung wegen Missbrauchs (BFH)
Falls ein Leistungsempfänger bereits zur Vornahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist, obwohl beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist, beruht dies umsatzsteuerrechtlich nicht auf einer missbräuchlichen Gestaltung durch die am Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen, sondern auf einer unzutreffenden Umsetzung oder Anwendung des Art. 167 MwStSystRL durch den Mitgliedstaat Deutschland (; veröffentlicht am ).
Sachverhalt: Der Kläger, dem das Finanzamt die Ist-Besteuerung gestattet hatte, war an verschiedenen GmbH beteiligt. Er stellte ihnen für Geschäftsführerleistungen im Zeitraum 2006 bis 2015 Entgelte i. H. von mehr als 1 Mio. € zuzüglich Umsatzsteuer in Rechnung. Diese Rechnungsbeträge wurden i. H. von ca. 180.000 € bezahlt, so dass der Kläger insoweit Umsatzsteuer an das Finanzamt abführte. Der Restbetrag wurde den Verrechnungskonten des Klägers gutgeschrieben; wegen der Ist-Besteuerung führte der Kläger insoweit keine Umsatzsteuer ab.
Das FG hielt einen Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung nach § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO für rechtmäßig: Denn die Ist-Besteuerung gefährdete das Steueraufkommen, weil es zu einer erheblichen Diskrepanz zwischen Vorsteuerabzug der GmbH und Umsatzsteuerentstehung beim Kläger kam. Die Gestaltung war systematisch auf Erlangung von Liquiditätsvorteilen ausgerichtet (s. hierzu BBK 8/2021 S. 361).
Der BFH führte hierzu u.a. aus:
Das FA kann sich auf die von ihm bejahte Gefährdung des Steueraufkommens im Streitfall nicht berufen, weil den Leistungsempfängern des Klägers der Vorsteuerabzug nach Art. 167 MwStSystRL erst zusteht, wenn diese die Umsatzsteuer an den Kläger gezahlt haben.
Die vom FA als Widerrufsgrund angeführte, vom FG ebenfalls bejahte Gefährdung des Steueraufkommens beruht auf der unionsrechtlich unzutreffenden Prämisse, dass bei Leistungsbezug vom Kläger den Leistungsempfängerinnen der sofortige Vorsteuerabzug zusteht. Dies trifft jedoch nicht zu (Art. 167 MwStSystRL).
Es bleibt offen, ob der Begriff "geschuldet" i. S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 C 9/20 (EU:C:2022:88, Rz 49) sowie der Art. 167, Art. 179 Satz 1 MwStSystRL eine zeitliche Komponente enthält und deshalb dahin gehend zu verstehen ist, dass die Umsatzsteuer vom Leistenden schon geschuldet werden muss, um vom Leistungsempfänger als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden darf, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet wird).
Es kommt nicht darauf an, ob, nach welcher Vorschrift und wann die vom Kläger in Rechnung gestellte Umsatzsteuer entstanden ist (vgl. dazu , , , , , sowie § 16 Abs. 1 Satz 4 UStG).
Die Entscheidung ist schon bemerkenswert. Da versendet ein Unternehmer A mit Ist-Besteuerung Rechnungen an „verbundene“ Unternehmen (verbunden, weil A Geschäftsführer dieser Unternehmen ist), die diese Rechnungen vorerst nicht bezahlen (z. B. durch Erfassung auf Verrechnungskonten). Diese „verbundenen“ Unternehmen nutzen die Rechnungen zum Vorsteuerabzug, da sie nach vereinbarten Entgelten die Umsatzsteuer berechnen, während der Unternehmer A diese ausgewiesene Umsatzsteuer noch nicht anzumelden und abzuführen hat. Hier werden Steuervorteile erzielt, die dem Mehrwertsteuersystem widersprechen. Die konkrete Entscheidung des BFH betrifft dabei die Widerrufsverfügung der Ist-Besteuerung durch das Finanzamt an den Unternehmer A.
Dieser Verwaltungsakt ist nach Auffassung des BFH rechtswidrig, weil der dort angegebene Grund (eine Gefährdung des Steueraufkommens) nicht gegeben ist. Dass bei Leistungsbezug vom Unternehmer A dem Leistungsempfänger ein sofortiger Vorsteuerabzug zustehe (wovon das Finanzamt ausging), ergibt sich nicht aus dem Unionsrecht. Art. 167 MwStSystRL besagt, dass ein Abzug der Vorsteuer erst bei Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Bei einer Ist-Besteuerung ist dies der Zeitpunkt der Zahlung an den Leistenden.
Der BFH hat in seiner Entscheidung aber ergänzend in Rz. 19 offen gelassen, ob die unionsrechtlich erforderliche Zahlung für einen Vorsteuerabzug im Besteuerungsverfahren des Leistungsempfängers entweder durch eine richtlinienkonforme Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG erreicht wird oder erst durch ein Handeln des nationalen Gesetzgebers.
Für die Praxis bedeutet dies, dass der Weg zur Verhinderung des ungewollten Ergebnisses für das Finanzamt nicht über einen Widerruf der Ist-Besteuerung, sondern allein über eine Versagung des Vorsteuerabzugs bis zur Zahlung an den Leistungserbringer erfolgen kann. Der zuletzt genannte Weg ist jedoch nur über eine unionskonforme Auslegung des § 15 UStG oder eine Gesetzesänderung entsprechend Art. 167 MwStSystRL möglich. Letztere Möglichkeit über eine Gesetzesänderung ist m. E. vorzugswürdig, wobei auch m. E. zusätzlich erforderlich ist, dass der Leistungsempfänger von der Ist-Besteuerung im Zeitpunkt der Rechnungserteilung Kenntnis erlangen muss, da er von der zusätzlichen Voraussetzung der Zahlung sonst keine Kenntnis hätte. Dies sollte durch die Umsetzung der weiteren unionsrechtlichen Vorgabe erfolgen, wonach der Leistende in diesen Fällen in der Rechnung angeben muss, das er nach vereinnahmten Entgelten versteuert (Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL; ebenso wie hier Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 332).
Quelle: ; NWB Datenbank (JT)
Fundstelle(n):
FAAAJ-54329