Verfahrensmangel; Einholung eines weiteren Gutachtens
Gesetze: § 86 Abs 1 VwGO
Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 9 S 684/20 Urteilvorgehend Az: 9 K 1519/13 Urteil
Gründe
I
1Die Klägerin begehrt von dem beklagten Land eine auf den Bereich der Ergotherapie beschränkte - sektorale - Heilpraktikererlaubnis.
2Im Jahr 1989 wurde ihr die Erlaubnis erteilt, eine Tätigkeit unter der (damals gesetzlich vorgesehenen) Berufsbezeichnung "Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin" auszuüben. Im Jahr 2009 erwarb sie den akademischen Grad "Diplom-Ergotherapeutin (FH)". Sie ist in einer eigenen Praxis tätig. Ihren im Dezember 2011 gestellten Antrag auf Erteilung einer auf das Gebiet der Ergotherapie beschränkten Heilpraktikererlaubnis lehnte das Landratsamt Karlsruhe mit Bescheid vom ab. Nach erfolglosem Widerspruch hat die Klägerin Klage erhoben, mit deren Hauptantrag sie die Verpflichtung des Beklagten begehrt, über ihren Erlaubnisantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat der Klage mit Urteil vom stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Annahme, dass die von der Klägerin beabsichtigte Anwendung ergotherapeutischer Behandlungsmethoden ohne ärztliche Verordnung erlaubnispflichtige Heilkundeausübung im Sinne von § 1 Abs. 2 HeilprG ist, hat er unter anderem ausgeführt, die Gefahrengeneigtheit der Ergotherapie lasse sich auch ohne Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens bejahen. Es könne davon ausgegangen werden, dass mit der Anwendung mancher ergotherapeutischer Behandlungsmethoden unmittelbare Gesundheitsrisiken verbunden seien.
3Auf die Revision der Beklagten hat der beschließende Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Die Feststellung einer unmittelbaren Gesundheitsgefährdung beruhe auf einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung. Der Verwaltungsgerichtshof habe insoweit lediglich ausgeführt, es könne davon ausgegangen werden, dass durch die Anwendung (mancher) ergotherapeutischer Behandlungsmethoden unmittelbar Gefahren hervorgerufen werden könnten. Damit bleibe im Unklaren, um welche Methoden es sich handele und ob es dabei um einen Tätigkeitsbereich gehe, der für die eigenverantwortlich ausgeübte Ergotherapie von erheblichem Gewicht sei. Die Einstufung der eigenverantwortlich ausgeübten Ergotherapie als Heilkundeausübung setze aber voraus, dass die Heiltätigkeit in erheblichem Maß durch ergotherapeutische Methoden geprägt sei, die nennenswerte Gesundheitsgefährdungen zur Folge haben könnten.
4Der Verwaltungsgerichtshof hat daraufhin mit Beschlüssen vom und Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob die eigenverantwortliche Ausübung der Ergotherapie in erheblichem Maß durch ergotherapeutische Methoden geprägt ist, die nennenswerte Gesundheitsgefährdungen zur Folge haben können.
5Mit Urteil vom hat der Verwaltungsgerichtshof die Berufung des Beklagten erneut zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht habe der Klage zu Recht stattgegeben. Die eigenverantwortlich ausgeübte Ergotherapie sei Heilkunde im Sinne des § 1 Abs. 2 HeilprG. Sie setze heilkundliche Fachkenntnisse voraus und sei mit der Gefahr nennenswerter gesundheitlicher Schäden verbunden. Der Senat habe auf Grundlage des eingeholten fachmedizinischen Sachverständigengutachtens die Überzeugung gewonnen, dass manche Behandlungsmethoden der selbstständig ausgeübten Ergotherapie nennenswerte unmittelbare Gesundheitsgefährdungen zur Folge haben könnten und diese gefahrengeneigten ergotherapeutischen Methoden für die eigenverantwortlich ausgeübte Ergotherapie auch bedeutsam seien. Dies gelte namentlich für die Schienentherapie, die F.O.T.T.-Therapie sowie Behandlungskonzepte nach Perfetti und Bobath. Soweit der Beklagte mit Blick auf die von ihm angenommenen Mängel des Gutachtens angeregt habe, dieses zu ergänzen bzw. ein weiteres Gutachten einzuholen, sei dies vom Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung nicht beantragt worden. Ungeachtet dessen sehe der Verwaltungsgerichtshof das eingeholte und in der mündlichen Verhandlung erläuterte Gutachten als geeignete und ausreichende Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung an.
6Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Beschwerde.
II
7Die Beschwerde des Beklagten bleibt ohne Erfolg.
81. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die Darlegungen der Beschwerde zeigen nicht auf, dass der Verwaltungsgerichtshof gegen die Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen hat, weil er zur Klärung der Frage, ob die eigenverantwortliche Ausübung der Ergotherapie in erheblichem Maß durch ergotherapeutische Methoden geprägt ist, die nennenswerte Gesundheitsgefährdungen zur Folge haben können, kein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt hat.
9Hat der Beschwerdeführer - wie hier - nicht bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht durch Stellung eines Beweisantrags in der mündlichen Verhandlung auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung hingewirkt, deren Unterbleiben nunmehr beanstandet wird, muss dargelegt werden, dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. 3 B 39.18 - juris Rn. 10). Liegt dem Tatsachengericht bereits ein Fachgutachten vor, ist das Unterlassen, ein weiteres Gutachten einzuholen, nur dann als Verfahrensmangel anzusehen, wenn das vorliegende Gutachten für die Überzeugungsbildung des Gerichts ungeeignet oder jedenfalls unzureichend ist, weil es grobe, offen erkennbare Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweist, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht oder weil Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit des Gutachters besteht (stRspr, vgl. 3 B 9.20 - juris Rn. 31).
10Das Vorliegen dieser Voraussetzungen zeigt die Beschwerde nicht auf. Ihre Rüge, der Gutachter habe die Beweisfrage nicht bzw. - insbesondere hinsichtlich der Frage der Prägung der ergotherapeutischen Tätigkeit durch gefahrgeneigte Methoden - nicht umfassend beantwortet, greift nicht durch. Im Gutachten vom sind mit Blick auf die Frage nach der Gefahrgeneigtheit mit der Schienentherapie, der F.O.T.T.-Therapie sowie der Behandlung nach Perfetti und Bobath ergotherapeutische Methoden benannt, die nach der Einschätzung des Sachverständigen Gesundheitsgefährdungen zur Folge haben können; die entsprechenden Gefahren sind dargestellt. Hinsichtlich der Frage, ob diese Methoden die eigenverantwortliche ergotherapeutische Tätigkeit in erheblichem Maße prägen, hat der Gutachter in der Ergänzung seines Gutachtens vom im Hinblick auf die Schienentherapie erklärt, dass die Nachbehandlung von Sehnenverletzungen ein Schwerpunkt der Ergotherapie sei. In der mündlichen Verhandlung am hat er weiter erläutert, dass die Schienenbehandlung auch ambulant betrieben werden könne und entsprechende Schwerpunkte gebildet werden könnten. Schienenbehandlung, F.O.T.T.-Therapie und die Verfahren nach Perfetti und Bobath stellten ganz zentrale Aufgabengebiete der Ergotherapie dar. Die Verfahren nach Perfetti und Bobath seien keine Randbereiche der Ergotherapie.
11Gründe, warum das Berufungsgericht diese Ausführungen nicht als Grundlage für seine Überzeugungsbildung hinsichtlich der Beweisfrage hätte betrachten dürfen, zeigt die Beschwerde nicht auf. Soweit das Gutachten Ausführungen enthält, die nach Auffassung des Beklagten nicht mit der Beweisfrage korrespondieren, führt dies nicht dazu, dass das Berufungsgericht das Gutachten insgesamt als ungeeignet zur Klärung der Beweisfrage hätte beurteilen müssen. Die Rüge, es fehle im Gutachten an der erforderlichen Gewichtung zwischen heilkundlichen und nicht-heilkundlichen Verrichtungen, greift bereits deshalb nicht durch, weil die Frage nach dem Gewicht dieser Bereiche im Rahmen der ergotherapeutischen Tätigkeit durch die Einordnung der dargestellten Behandlungen als "ganz zentrale Aufgabengebiete der Ergotherapie" und "keine Randbereiche der Ergotherapie" beantwortet wird. Die weiteren Einwendungen, mit denen der Beklagte die inhaltliche Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen anzweifelt, zeigen keine groben Mängel des Gutachtens im oben dargestellten Sinne auf. Dass der Beklagte die Ausführungen des Sachverständigen nicht für überzeugend hält, betrifft vielmehr die dem Bereich des materiellen Rechts zuzuordnende Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, führt aber nicht auf einen Verfahrensfehler. Gleiches gilt für die Kritik an dem vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten materiellrechtlichen Maßstab.
122. Die Revision ist auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer Abweichung des angegriffenen Urteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen. Eine Divergenz im Sinne dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das Bundesverwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift oder desselben Rechtsgrundsatzes aufgestellt hat (stRspr, vgl. 3 B 1.22 - NVwZ 2023, 265 Rn. 7).
13Eine Divergenz in diesem Sinn zeigt die Beschwerde nicht auf.
14Sie macht geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe den Rechtssatz aufgestellt,
"Die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis für das Gebiet der Ergotherapie setzt voraus, dass in diesem Gebiet die eigenverantwortliche Tätigkeit in erheblichem Maß durch Methoden geprägt ist, die dem heilkundlichen Bereich zuzurechnen sind. Hierbei kommt es nicht auf die Ermittlung und Gewichtung der heilkundlichen im Vergleich zu den nicht-heilkundlichen Verrichtungen an, weil der heilkundliche Anteil des ergotherapeutischen Tätigkeitsfeldes keine bestimmte quantitative Schwelle überschreiten müsse."
15Hiermit weiche das Berufungsgericht von dem Rechtssatz des beschließenden Senats im Urteil vom - 3 C 10.17 - (NVwZ 2020, 483 Rn. 34) ab, der laute:
"Die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis für das Gebiet der Ergotherapie setzt voraus, dass in diesem Gebiet die eigenverantwortliche Tätigkeit in erheblichem Maß durch Methoden geprägt ist, die dem heilkundlichen Bereich zuzurechnen sind. Hierbei kommt es auf die Ermittlung und Gewichtung der heilkundlichen im Vergleich zu den nicht-heilkundlichen Verrichtungen an".
16Dieses Vorbringen rechtfertigt bereits deshalb nicht die Zulassung der Revision, weil der Verwaltungsgerichtshof einen Rechtssatz mit dem vom Beklagten formulierten Inhalt nicht aufgestellt hat. Der vom Beklagten gerügte Hinweis des Berufungsgerichts, das Bundesverwaltungsgericht habe entschieden, dass der Heilkundecharakter nicht davon abhänge, dass der heilkundliche Anteil des ergotherapeutischen Tätigkeitsfeldes eine bestimmte quantitative Schwelle überschreite, erfolgte als Erwiderung auf den Einwand des Beklagten, es fehle an Statistiken über die Anzahl von niedergelassenen Ergotherapeuten in einem bestimmten Bereich. Dass der Verwaltungsgerichtshof damit sagen wollte, dass es für die Bejahung des Heilkundecharakters nicht auf die Ermittlung und Gewichtung der heilkundlichen im Vergleich zu den nicht-heilkundlichen Verrichtungen ankomme, ist nicht erkennbar. Sollten aus der genannten Aussage überhaupt Rückschlüsse auf die Auffassung des Berufungsgerichts zur Erforderlichkeit der Ermittlung und Gewichtung heilkundlicher und nicht-heilkundlicher Verrichtungen gezogen werden können, könnte ihr allein entnommen werden, dass es für diese Gewichtung - und damit für die Frage, ob die eigenverantwortliche Tätigkeit eines Ergotherapeuten in erheblichem Maß durch heilkundliche Methoden geprägt ist - nicht darauf ankommt, ob der Anteil der heilkundlichen Methoden an der ergotherapeutischen Tätigkeit eine bestimmte quantitative Schwelle überschreitet. Dass das Berufungsgericht sich hiermit in Widerspruch zum gesetzt hat, ist nicht erkennbar (vgl. 3 C 10.17 - NVwZ 2020, 483 Rn. 14).
17Soweit der Beklagte rügt, das Berufungsgericht habe zwar die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zitiert, sei in der Sache aber hiervon abgewichen, macht er eine fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall geltend, die keine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO begründen kann (vgl. 3 B 37.21 - Buchholz 418.5 Fleischbeschau Nr. 38 Rn. 9).
183. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:011123B3B32.22.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-53722