BVerfG Urteil v. - 2 BvF 1/21

Neuregelung der Sitzzuteilung bei Bundestagswahlen im Rahmen der Wahlrechtsreform 2020 (Art 1 Nr 3 bis 5 BWahlGÄndG 25) verfassungsgemäß - angegriffene Vorschriften hinreichend bestimmt sowie mit Grundsätzen der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie mit der Chancengleichheit der Parteien vereinbar - Sondervotum

Leitsatz

1. Bei dem Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze handelt es sich um ein einheitliches Postulat, das verschiedene Aspekte in sich vereint. Demgemäß ist der Maßstab hierfür einheitlich zu bestimmen. Eine Trennung zwischen Bestimmtheits- und Klarheitsgebot dahingehend, dass eine Norm zwar noch hinreichend bestimmt sein kann, dennoch aber gegen das Gebot der Normenklarheit verstößt, kommt grundsätzlich nicht in Betracht.

2. Die allgemeinen Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Gesetzen gelten auch für wahlrechtliche Normen. Darüber hinaus lässt sich ein allgemein gültiger verfassungsrechtlicher Maßstab für den maximal zulässigen Grad an Komplexität, den eine wahlrechtliche Vorschrift erreichen darf, nicht entwickeln. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit einer das Wahlgeschehen betreffenden Norm hängen auch davon ab, ob sie die Wahlhandlung selbst oder die nachfolgende Ergebnisermittlung betrifft.

3. Im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsauftrags darf der Gesetzgeber Überhangmandate zulassen, solange sich die damit verbundene Differenzierung des Erfolgswerts der Wählerstimmen innerhalb des Konzepts der personalisierten Verhältniswahl hält. Ob es sich dabei um eine bewusst herbeigeführte Konsequenz oder nur um eine ungewollte Nebenfolge der gesetzgeberischen Systementscheidung handelt, ist ohne Belang.

Gesetze: Art 38 Abs 1 S 1 GG, § 6 Abs 5 S 1 BWahlG vom , § 6 Abs 5 S 2 BWahlG vom , § 6 Abs 5 S 3 BWahlG vom , § 6 Abs 5 S 4 BWahlG vom , § 6 Abs 5 S 5 BWahlG vom , § 6 Abs 6 S 1 BWahlG vom , § 48 Abs 1 BWahlG vom , Art 1 Nr 3 BWahlGÄndG 25, Art 1 Nr 4 BWahlGÄndG 25, Art 1 Nr 5 BWahlGÄndG 25, Art 3 MRKProt 11

Instanzenzug: Az: 2 BvF 1/21 Beschlussvorgehend Az: 2 BvF 1/21 Beschluss

Gründe

A.

1Die abstrakte Normenkontrolle von 216 Mitgliedern des 19. Deutschen Bundestages der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und FDP wendet sich gegen Art. 1 Nr. 3 bis 5 des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 2395 <BWahlGÄndG>). Durch die zur Überprüfung gestellten Bestimmungen wurden insbesondere das Verfahren der Sitzzuteilung bei der Bundestagswahl sowie die Regelung für die Berufung von Listennachfolgern geändert.

I.

21. Das Verfahren über die Verteilung der Sitze im Deutschen Bundestag war vor der verfahrensgegenständlichen Änderung zuletzt mit dem Zweiundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 1082 <BWahlG 2013>) geändert worden. Veranlasst war diese Änderung durch die Entscheidung des (BVerfGE 131, 316), mit der § 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a Bundeswahlgesetz in der Fassung des Art. 1 des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 2313 <BWahlG 2011>) für mit Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt sowie festgestellt worden war, dass § 6 Abs. 5 BWahlG 2011 nach Maßgabe der Urteilsgründe mit diesen Verfassungsbestimmungen unvereinbar ist. In der Folge wurde das Sitzzuteilungsverfahren wie folgt gefasst:

3a) In einer ersten - rein rechnerischen - Verteilung wurde die Gesamtzahl der 598 Sitze (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG 2013) nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers (§ 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG 2013; vgl. dazu BTDrucks 16/7461, S. 9 ff.) den Ländern nicht mehr nach der Wählerzahl, sondern nach ihrem Bevölkerungsanteil zugeordnet (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG 2013). Sodann wurden die Sitze eines Landes im Rahmen einer Unterverteilung auf die jeweils in dem Land angetretenen Landeslisten nach dem Zweitstimmenanteil verteilt (mit Ausnahme der nach den Vorgaben des § 6 Abs. 1 Satz 3 BWahlG 2013 abgezogenen Sitze, § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG 2013). Dabei griffen die Sperr- und die Grundmandatsklausel, wonach bei der Verteilung auf die Landeslisten nur Parteien berücksichtigt wurden, die mindestens fünf Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen hatten (§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG 2013), es sei denn, es handelte sich um Listen von Parteien nationaler Minderheiten (§ 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG 2013). Von der auf diese Weise für jede Landesliste ermittelten Sitzzahl wurde die Zahl der Wahlkreismandate abgerechnet; erzielte Wahlkreismandate verblieben der Landesliste auch dann, wenn sie die für diese ermittelte Sitzzahl überstiegen (§ 6 Abs. 4 Satz 1 und 2 BWahlG 2013). Da derartige, nicht vom Zweitstimmenanteil gedeckte Mandate ausschließlich in der fiktiven ersten Verteilung auftreten konnten, wurden sie als "Quasi-Überhangmandate" bezeichnet (vgl. Behnke, ZParl 2014, S. 17 <20>). Bei der Summe der so für die Landeslisten einer Partei errechneten Mandate handelte es sich um die Mindestsitzzahl, die dieser Partei in der zweiten - tatsächlichen - Verteilung mindestens zugeteilt wurde (vgl. Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 6 Rn. 26c).

4b) Gemäß § 6 Abs. 5 BWahlG 2013 wurde sodann die Zahl der nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BWahlG 2013 verbleibenden Sitze erhöht, bis jede Partei bei der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG 2013 mindestens die für sie ermittelte Mindestsitzzahl erhielt (§ 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG 2013). Die Gesamtzahl von 598 Sitzen erhöhte sich um die Unterschiedszahl (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG 2013). Die Regelung des § 6 Abs. 5 BWahlG 2013 zielte auf einen vollständigen Ausgleich der rechnerisch anfallenden Überhangmandate (vgl. BTDrucks 17/11819, S. 5), das heißt derjenigen Mandate, um die die Zahl der von einer Partei in einem Land erzielten Wahlkreismandate die Zahl der für die jeweilige Landesliste ermittelten Sitze überstieg.

5c) Diese erhöhte Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages wurde in der zweiten - tatsächlichen - Verteilung nach § 6 Abs. 6 BWahlG 2013 zunächst in einer Oberverteilung bundesweit nach der Zweitstimmenzahl im Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers auf die zu berücksichtigenden Parteien verteilt (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG 2013). Sodann erfolgte eine Unterverteilung innerhalb der Parteien auf deren Landeslisten (§ 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG 2013). An diese schloss sich die konkrete Mandatsvergabe unter vorrangiger Berücksichtigung der erfolgreichen Wahlkreisbewerber an (§ 6 Abs. 6 Satz 3 bis 6 BWahlG 2013).

62. a) Für den Fall des Ausscheidens eines direkt gewählten Abgeordneten hatte das Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung vom (BGBl S. 21 <BWahlG 1949>) noch eine Ersatzwahl vorgesehen; lediglich für ausscheidende Abgeordnete, die auf der Grundlage eines Listenvorschlags gewählt worden waren, galt das Prinzip der Listennachfolge (§ 15 BWahlG 1949). Das Wahlgesetz zum zweiten Bundestag und zur Bundesversammlung vom (BGBl I S. 470 <BWahlG 1953>) erstreckte demgegenüber das Prinzip der Listennachfolge auch auf direkt gewählte Bewerber (§ 54 Abs. 1 BWahlG 1953). Seit dem Bundeswahlgesetz vom (BGBl I S. 383 <BWahlG 1956>) ist die dahingehende Regelung in § 48 Abs. 1 enthalten. Danach wurde, wenn ein gewählter Bewerber starb oder die Annahme der Wahl ablehnte oder ein Abgeordneter starb oder sonst nachträglich aus dem Bundestag ausschied, der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die der Ausgeschiedene bei der Wahl aufgetreten war (Satz 1), wobei Listenbewerber unberücksichtigt blieben, wenn sie zwischenzeitlich aus der Partei ausgeschieden waren (Satz 2). War die Liste erschöpft, blieb der Sitz unbesetzt (Satz 3). Die Norm fand auch Anwendung, wenn ein direkt gewählter Abgeordneter aus dem Deutschen Bundestag ausschied, der in einem Land gewählt war, in dem seine Partei über Überhangmandate verfügte (vgl. BVerfGE 97, 317 <321, 329 f.>).

7b) Mit Beschluss vom (BVerfGE 97, 317) entschied das Bundesverfassungsgericht, dass § 48 Abs. 1 Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl I S. 1288, berichtigt S. 1595 <BWahlG 1993>) nur anwendbar sei, soweit Sitze wieder zu besetzen seien, die aufgrund des Zweitstimmenergebnisses für die Landesliste ermittelt worden seien. Scheide ein direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter aus dem Deutschen Bundestag aus, komme demzufolge eine Listennachfolge nicht in Betracht, solange die Partei, der er angehöre, in dem betroffenen Land über mehr Direktmandate verfüge, als ihr Listensitze zustünden. Zur Begründung verwies der Zweite Senat darauf, dass Überhangmandate nicht durch Zweitstimmen legitimiert seien, da sie nicht im Wege der Anrechnung auf das Sitzkontingent der Liste einen Listensitz verdrängten. Für solche Fälle halte die Landesliste daher mitgewählte Ersatzleute nicht vor (vgl. BVerfGE 97, 317 <328> sowie 3. Leitsatz).

8c) In der Folgezeit wurde der Norm die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegt (vgl. BT-Plenarprotokoll 13/235, S. 21538). Mit dem Gesetz zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom (BGBl I S. 394 <BWahlG 2008>) wurde diese Handhabung ausdrücklich geregelt und § 48 Abs. 1 BWahlG um einen neuen Satz 2 ergänzt, nach dem eine Listennachfolge nicht stattfindet, solange die Partei in dem betreffenden Land Überhangmandate innehat (vgl. BTDrucks 16/7461, S. 20). Mit dem Zweiundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 1082), das einen Vollausgleich von rechnerisch anfallenden Überhangmandaten einführte, wurde § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gestrichen. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, einer Sonderregelung für den Fall, dass eine Partei in einem Land über mehr Direktmandate verfüge, als ihr Listensitze zustünden, bedürfe es nicht mehr. Durch den Vollausgleich werde keiner der Sitze nur von einer Mehrheit der Erststimmen getragen (vgl. BTDrucks 17/11819, S. 7, 11 f.).

93. Nachdem der Deutsche Bundestag bei der Wahl 2017 auf 709 Abgeordnete angewachsen war, legten die damaligen Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und SPD am erneut einen Entwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor (BTDrucks 19/22504).

10a) Dieser zielte nach der Entwurfsbegründung darauf ab, die ausgleichsbedingte Bundestagsvergrößerung, welche den Deutschen Bundestag an die Grenzen seiner Arbeits- und Handlungsfähigkeit bringen und die Akzeptanz des Parlaments in der Bevölkerung beeinträchtigen könne, zu vermindern (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5). Dies sollte zum einen dadurch erreicht werden, dass mit Wirkung ab dem bei Beibehaltung der Regelgröße des Deutschen Bundestages von 598 Abgeordneten die Zahl der Wahlkreise auf 280 reduziert wird (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5 f., 8). Zum anderen sah der Entwurf eine unmittelbar mit Inkrafttreten des Gesetzes wirksam werdende Änderung des Sitzzuteilungsverfahrens vor. Demnach sollte mit dem Ausgleich von Überhangmandaten erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen und ein weiterer Aufwuchs zudem durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate derselben Partei in anderen Ländern vermieden werden (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5). Da in der Folge erneut Überhangmandate auftreten konnten, sah der Entwurf zudem vor, die zuletzt in § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG 2008 vorgesehene Regelung zum Ausschluss der Listennachfolge für den Fall, dass die betroffene Partei in dem entsprechenden Land über Überhangmandate verfügt, wiedereinzuführen (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5).

11b) Der Entwurf der Regierungsfraktionen wurde in der 177. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am in erster Lesung beraten und sodann federführend an den Ausschuss für Inneres und Heimat überwiesen (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/177, S. 22326 ff.). Nachdem der Ausschuss am auf Grundlage schriftlicher Stellungnahmen (vgl. BTAusschussdrucks 19<4>584 A-F) eine Sachverständigenanhörung zu dem Gesetzentwurf durchgeführt hatte (vgl. Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll Nr. 19/100), empfahl er die Annahme des Entwurfs in unveränderter Fassung (vgl. BTDrucks 19/23187, S. 2, 6). Hinsichtlich der konkurrierenden Entwürfe der Fraktionen von FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einerseits (BTDrucks 19/14672) sowie von Abgeordneten und der Fraktion der AfD andererseits (BTDrucks 19/22894) empfahl er die Ablehnung (vgl. BTDrucks 19/23187, S. 2, 6).

12c) Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen wurde gemeinsam mit den konkurrierenden Gesetzentwürfen in der 183. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am in zweiter und dritter Lesung beraten; die Entwürfe der Opposition wurden abgelehnt und der Entwurf der Regierungsfraktionen wurde in unveränderter Fassung angenommen (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/183, S. 23041 ff., 23052, 23061 ff.).

134. a) Art. 1 Nr. 3 BWahlGÄndG fasste § 6 Abs. 5 BWahlG 2013 gänzlich und § 6 Abs. 6 BWahlG 2013 teilweise neu. § 6 Bundeswahlgesetz in der Fassung des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom lautet wie folgt:

(1) 1 Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt. 2 Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Absatz 3 oder von einer Partei vorgeschlagen ist, die nach Absatz 3 bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird oder für die in dem betreffenden Land keine Landesliste zugelassen ist. 3 Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Absatz 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die in Satz 2 genannt sind.

(2) 1 In einer ersten Verteilung wird zunächst die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) in dem in Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren den Ländern nach deren Bevölkerungsanteil (§ 3 Absatz 1) und sodann in jedem Land die Zahl der dort nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze auf der Grundlage der zu berücksichtigenden Zweitstimmen den Landeslisten zugeordnet. 2 Jede Landesliste erhält so viele Sitze, wie sich nach Teilung der Summe ihrer erhaltenen Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor ergeben. 3 Zahlenbruchteile unter 0,5 werden auf die darunter liegende ganze Zahl abgerundet, solche über 0,5 werden auf die darüber liegende ganze Zahl aufgerundet. 4 Zahlenbruchteile, die gleich 0,5 sind, werden so aufgerundet oder abgerundet, dass die Zahl der zu vergebenden Sitze eingehalten wird; ergeben sich dabei mehrere mögliche Sitzzuteilungen, so entscheidet das vom Bundeswahlleiter zu ziehende Los. 5 Der Zuteilungsdivisor ist so zu bestimmen, dass insgesamt so viele Sitze auf die Landeslisten entfallen, wie Sitze zu vergeben sind. 6 Dazu wird zunächst die Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Landeslisten durch die Zahl der jeweils nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze geteilt. 7 Entfallen danach mehr Sitze auf die Landeslisten, als Sitze zu vergeben sind, ist der Zuteilungsdivisor so heraufzusetzen, dass sich bei der Berechnung die zu vergebende Sitzzahl ergibt; entfallen zu wenig Sitze auf die Landeslisten, ist der Zuteilungsdivisor entsprechend herunterzusetzen.

(3) 1 Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. 2 Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung.

(4) 1 Von der für jede Landesliste so ermittelten Sitzzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze (§ 5) abgerechnet. 2 In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach den Absätzen 2 und 3 ermittelte Zahl übersteigen.

(5) 1 Die Zahl der nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze wird so lange erhöht, bis jede Partei bei der zweiten Verteilung der Sitze nach Absatz 6 Satz 1 mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach den Sätzen 2 und 3 zugeordneten Sitze erhält. 2 Dabei wird jeder Landesliste der höhere Wert aus entweder der Zahl der im Land von Wahlbewerbern der Partei in den Wahlkreisen nach § 5 errungenen Sitze oder dem auf ganze Sitze aufgerundeten Mittelwert zwischen diesen und den für die Landesliste der Partei nach der ersten Verteilung nach den Absätzen 2 und 3 ermittelten Sitzen zugeordnet. 3 Jede Partei erhält mindestens die bei der ersten Verteilung nach den Absätzen 2 und 3 für ihre Landeslisten ermittelten Sitze. 4 Bei der Erhöhung bleiben in den Wahlkreisen errungene Sitze, die nicht nach Absatz 4 Satz 1 von der Zahl der für die Landesliste ermittelten Sitze abgerechnet werden können, bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt. 5 Die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) erhöht sich um die Unterschiedszahl.

(6) 1 Die nach Absatz 5 zu vergebenden Sitze werden in jedem Fall bundesweit nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in Absatz 2 Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren auf die nach Absatz 3 zu berücksichtigenden Parteien verteilt. 2 In den Parteien werden die Sitze nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in Absatz 2 Satz 2 bis 7 beschriebenen Berechnungsverfahren auf die Landeslisten verteilt; dabei wird jeder Landesliste mindestens die nach Absatz 5 Satz 2 für sie ermittelte Sitzzahl zugeteilt. 3 Von der für jede Landesliste ermittelten Sitzzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze (§ 5) abgerechnet. 4 In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach Satz 1 ermittelte Zahl übersteigen. 5 In diesem Fall erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) um die Unterschiedszahl; eine erneute Berechnung nach Satz 1 findet nicht statt. 6 Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. 7 Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt sind, bleiben auf der Landesliste unberücksichtigt. 8 Entfallen auf eine Landesliste mehr Sitze, als Bewerber benannt sind, so bleiben diese Sitze unbesetzt.

(7) 1 Erhält bei der Verteilung der Sitze nach den Absätzen 2 bis 6 eine Partei, auf die mehr als die Hälfte der Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Parteien entfallen ist, nicht mehr als die Hälfte der Sitze, werden ihr weitere Sitze zugeteilt, bis auf sie ein Sitz mehr als die Hälfte der Sitze entfällt. 2 Die Sitze werden in der Partei entsprechend Absatz 6 Satz 2 bis 6 verteilt. 3 In einem solchen Falle erhöht sich die nach Absatz 5 ermittelte Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) um die Unterschiedszahl.

14b) § 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 BWahlG wurden durch Art. 1 Nr. 5 BWahlGÄndG wie folgt gefasst:

Wenn ein gewählter Bewerber stirbt oder dem Landeswahlleiter schriftlich die Ablehnung des Erwerbs der Mitgliedschaft erklärt oder wenn ein Abgeordneter stirbt oder sonst nachträglich aus dem Deutschen Bundestag ausscheidet, so wird der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die der gewählte Bewerber oder ausgeschiedene Abgeordnete bei der Wahl aufgetreten ist. Dies gilt nicht, solange die Partei in dem betreffenden Land Mandate gemäß § 6 Absatz 6 Satz 4 innehat.

15c) Art. 1 Nr. 4 BWahlGÄndG passte § 46 Abs. 2 BWahlG an die Neuformulierung des § 6 Abs. 6 BWahlG an.

165. Der Termin für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wurde gemäß § 16 BWahlG mit Anordnung vom (BGBl I S. 2769) auf den bestimmt.

176. a) Mit Beschluss vom (2 BvF 1/21 - Normenkontrolle Bundeswahl- recht - eA) lehnte das Bundesverfassungsgericht den Antrag der Antragstellerinnen und Antragsteller ab, im Wege der vorläufigen Regelung anzuordnen, dass Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag nicht anzuwenden ist.

18b) Am wurde der 20. Deutsche Bundestag gewählt. Die Sitzzuteilung fand erstmals auf Grundlage der vorliegend zur Überprüfung gestellten Bestimmungen statt. Der 20. Deutsche Bundestag zählt 736 Abgeordnete, von denen nach dem Sitzzuteilungsverfahren 206 Sitze auf die SPD, 152 auf die CDU, 118 auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 92 auf die FDP, 83 auf die AfD, 45 auf die CSU, 39 auf DIE LINKE sowie ein Sitz auf den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) entfielen (vgl. Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 421). Im Rahmen der ersten - fiktiven - Verteilung ergaben sich insgesamt 34 Quasi-Überhangmandate (vgl. Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 417 ff.), die bei der anschließenden Erhöhung der Sitzzahl nach § 6 Abs. 5 BWahlG mit Ausnahme von drei Mandaten ausgeglichen wurden. Bei der - tatsächlichen - zweiten Sitzverteilung wurden diese als verbleibende Überhangmandate der CSU zugeordnet (vgl. Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 421).

197. a) Am legten die Fraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BTDrucks 20/5370 <BWahlGÄndG 2023>) vor, welches insbesondere das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahl des Deutschen Bundestages gemäß § 6 BWahlG neu regelt. Der Gesetzentwurf wurde in der 92. Sitzung des 20. Deutschen Bundestages am in zweiter und dritter Lesung beraten und in der Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (BTDrucks 20/6015) beschlossen (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/92 <neu>, S. 11015 ff., 11050 ff.). Der Bundesrat entschied in seiner 1033. Sitzung am , zu dem Gesetz keinen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG zu stellen (vgl. BRDrucks 160/23 <Beschluss>). Das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes wurde am durch den Bundespräsidenten ausgefertigt und am im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl I Nr. 147). Seine wesentlichen Vorschriften traten am in Kraft (Art. 3 BWahlGÄndG 2023).

20b) Mit Blick auf das Gesetzgebungsverfahren zur erneuten Änderung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahl zum Deutschen Bundestag haben die Antragstellerinnen und Antragsteller am beantragt, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen. Diesen Antrag hat der Zweite Senat mit Beschluss vom (2 BvF 1/21 - Normenkontrolle Bundeswahlrecht - Antrag auf Ruhen des Verfahrens) unter Verweis auf das öffentliche Interesse an der Fortführung des Verfahrens abgelehnt.

II.

21Die Antragstellerinnen und Antragsteller rügen einen Verstoß von Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG gegen Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie Art. 21 Abs. 1 GG.

221. Die zur Überprüfung gestellten Normen verstießen gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot der Normenklarheit, das im Bereich des Wahlrechts durch das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG konkretisiert werde.

23a) Der Gesetzgeber sei nach dem Rechtsstaatsprinzip gehalten, Gesetze hinreichend bestimmt zu fassen. Der Wille der an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorgane müsse zurechenbar festgestellt werden können, damit eine demokratisch legitimierte Entscheidung vorliege. Darüber hinaus erfordere das Rechtsstaatsprinzip eine hinreichende Klarheit gesetzlicher Regelungen im Hinblick auf die Normunterworfenen; sie müssten die Rechtslage so konkret erkennen können, dass sie ihr Verhalten danach ausrichten könnten. Die Anforderungen an die Normenklarheit seien erhöht, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwere. Dies gelte nicht nur bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen und bei der Gewährung von Leistungen, sondern auch, wenn grundrechtsgleiche Rechte wie das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG betroffen seien. Das Bundeswahlgesetz müsse so bestimmt sein, dass für den Bürger erkennbar sei, in welcher Weise sich seine Stimmabgabe auf die Zusammensetzung des von ihm gewählten Parlaments auswirke. Diese Anforderungen würden durch das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verschärft. Die Sicherung der Integrationsfunktion der Wahl setze voraus, dass das Wahlrecht so verständlich sei, dass die Wählerinnen und Wähler den Wahlakt als einen Vorgang erlebten, in dem sie Einfluss auf die Ausübung von Staatsgewalt nehmen könnten. Darüber hinaus fordere die aus dem Demokratieprinzip folgende Wesentlichkeitslehre, dass das Wahlverfahren als für den demokratischen Prozess wesentlichste Frage durch den Gesetzgeber in einem transparenten Verfahren unter Beteiligung der parlamentarischen Opposition entschieden werde. Das Bundesverfassungsgericht habe mehrfach betont, dass im Wahlrecht hohe Anforderungen an die Rechtsklarheit zu stellen seien.

24b) Diesen Anforderungen werde die Neuregelung des Bundeswahlgesetzes in Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG nicht gerecht. Der Gesetzestext sei an zahlreichen Stellen unvollständig und weise systematische Brüche auf, die eine methodengeleitete Auslegung unmöglich machten. Dies führe dazu, dass wesentliche Fragen vom Bundeswahlleiter beantwortet werden müssten, dem damit unmittelbarer Einfluss auf die Umrechnung des Wahlergebnisses in Bundestagsmandate zukomme.

25aa) § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG arbeite mit einem Zirkelverweis auf § 6 Abs. 6 BWahlG. § 6 Abs. 6 BWahlG setze nach seinem Wortlaut voraus, dass die Anzahl der zu vergebenden Sitze bereits nach § 6 Abs. 5 BWahlG berechnet worden sei. § 6 Abs. 5 BWahlG setze wiederum voraus, dass parallel eine Berechnung nach § 6 Abs. 6 BWahlG stattfinde. Bei strenger Beachtung des Wortlauts sei die Rechenoperation nicht durchführbar. Nur unter Zuhilfenahme der Entwurfsbegründung lasse sich die Bestimmung dahingehend auslegen, dass ein stufenweises Verfahren durchzuführen sei, bei dem die Sitzzahl schrittweise erhöht werde.

26bb) § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG sei normenunklar. Aus dem Text lasse sich keine Rechenoperation ableiten, die es ermögliche, das nach der Entwurfsbegründung verfolgte Ziel der Entstehung von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten zu erreichen. Auslegungsmöglichkeiten, die dazu führten, dass der Norm eine eindeutige Rechenoperation entnommen werden könne, fehlten.

27(1) Bezüglich der Formulierung "bis zu einer Zahl von drei" seien drei verschiedene Auslegungen denkbar: drei Sitze pro Landesliste, drei Sitze pro Partei oder drei Sitze insgesamt. Der Wortlaut lege nahe, von bis zu drei Sitzen pro Landesliste einer Partei auszugehen, denn § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG verwende bei dem Verweis auf § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG das Wort Landesliste in der Einzahl. Dafür, dass bis zu drei Sitze pro Partei insgesamt unberücksichtigt bleiben sollten, spreche demgegenüber der systematische Zusammenhang von § 6 Abs. 5 Satz 4 mit § 6 Abs. 5 Satz 1 und 3 BWahlG, die jeweils auf die Gesamtzahl der den Landeslisten oder Parteien zugeordneten Sitze verwiesen. Die Sachverständigen Pukelsheim und Behnke seien davon ausgegangen, dass § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bis zu drei Sitze bezogen auf alle Parteien in allen Bundesländern meine. Dafür spreche auch die Begründung des Gesetzentwurfs, wonach im Ergebnis bis zu drei Überhangmandate entstehen sollten. Allerdings beziehe sich die Begründung insofern auf die Neuregelung in § 6 Abs. 6 BWahlG. Zudem sei der Wert der Entwurfsbegründung als Auslegungshilfe beschränkt. Im Gesetzgebungsverfahren sei mehrfach auf die missverständliche Formulierung hingewiesen worden, ohne dass der Gesetzgeber eine Klarstellung vorgenommen habe. Die Aussagekraft der Gesetzesmaterialien sinke, wenn das Gesetz - wie vorliegend - sehr umstritten und nur das Ergebnis eines Formelkompromisses sei. Jedenfalls stehe einer Auslegung im Sinne von drei Mandaten insgesamt entgegen, dass aus dem Wortlaut nicht hervorgehe, wie diese drei Mandate zu bestimmen seien.

28(2) Der vagen Formulierung "unberücksichtigt bleiben" könne eine exakte Rechenoperation nicht entnommen werden. Wie das Tatbestandsmerkmal zu verstehen sei, hänge von der Auslegung der Formulierung "bis zu einer Zahl von drei" ab. Werde diese so verstanden, dass sie eine vorab identifizierbare Zahl von Sitzen bezeichne, lasse sich das Tatbestandsmerkmal dahin verstehen, dass die nicht zu berücksichtigenden Sitze nach dem Ausgleich von der errechneten Gesamtmandatszahl abgezogen würden. Dies führe dazu, dass sich die Bundestagsgröße um bis zu drei Mandate verringere. Naheliegender sei es, bei der Berechnung der Erhöhung anzusetzen. Das "Unberücksichtigt-Bleiben" beziehe sich in diesem Fall auf § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG. Es sei indes nicht möglich, drei Mandate bei der Berechnung "unberücksichtigt" zu lassen, wenn man diese nicht einer bestimmten Partei zuordnen könne. Die Sachverständigen Pukelsheim und Behnke hätten insofern ein Rechenverfahren eingesetzt, wonach die Zahl der Sitze so lange erhöht werde, bis denjenigen Parteien, denen Sitze nach § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG zustünden, eine Sitzzahl zugeordnet werde, die die Summe der allen Landeslisten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG zugeordneten Sitze nicht um mehr als drei unterschreite, und gleichzeitig jede Partei mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG zugeordneten Sitze erhalte. Für diese Rechenoperation finde sich im Wortlaut der Norm kein Anhaltspunkt.

29cc) Soweit § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG bestimme, dass sich die Gesamtzahl der Sitze um die Unterschiedszahl erhöhe, sei unklar, welche Unterschiedszahl gemeint sei, da in den Sätzen zuvor drei verschiedene Größen (Regelgröße des Bundestages, Zahl der "nicht zu berücksichtigenden Mandate", erhöhte Sitzzahl ohne Überhangmandate) in Bezug genommen würden. Gemeint sei vermutlich die Differenz zwischen der gesetzlichen Regelgröße des Bundestages und der erhöhten Zahl der Mandate ohne die Überhangmandate. Aus dem Wortlaut sei dies jedoch nicht erkennbar.

30dd) Die Unklarheiten setzten sich in § 6 Abs. 6 BWahlG fort, der die endgültige Sitzverteilung regele. In § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG bleibe offen, was genau "die nach Absatz 5 zu vergebenden Sitze" seien. In Betracht komme die erhöhte Zahl der Sitze mit oder ohne die nicht ausgeglichenen Überhangmandate. Da die Überhangmandate nicht proportional nach dem Zweitstimmenergebnis verteilt würden, könne nur die Zahl der Sitze ohne die Überhangmandate gemeint sein. Diese Auslegung führe allerdings zu einem unauflösbaren Widerspruch mit § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG, wonach in den Parteien die Sitze nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen auf die Landeslisten verteilt würden und jeder Landesliste mindestens die nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG für sie ermittelte Sitzzahl zustehe. Gehe man davon aus, dass nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG die Gesamtzahl der Sitze ohne Berücksichtigung der Überhangmandate verteilt werde, sei es unmöglich, diese Sitze nach Maßgabe des § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG zu verteilen, da dies eine Einbeziehung der Überhangmandate voraussetze. Dieser Widerspruch lasse sich nicht ohne Bruch auflösen. Jedenfalls werde die notwendige Berechnung durch den Gesetzestext nicht so beschrieben, dass sie durch die zuständige Behörde vollzogen werden könne. § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG verweise auf das in § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG beschriebene Berechnungsverfahren, welches eine rein proportionale Verteilung nach Zweitstimmen vorsehe. Die Gesetzesänderung nehme aber eine innerparteiliche föderale Proporzverzerrung hin. Es sei folglich eine Modifizierung des Berechnungsverfahrens erforderlich, die aus dem Gesetz nicht erkennbar sei. Schließlich scheine sich in § 6 Abs. 6 Satz 3 bis 5 BWahlG die Bezugsgröße der Berechnung mehrfach zu ändern. Satz 3 nehme auf die für jede Landesliste ermittelte Zahl von Sitzen Bezug. Demgegenüber stelle Satz 4 nicht auf diese Größe, sondern auf die Differenz zwischen der Zahl der gewonnenen Wahlkreismandate und der "nach Satz 1 ermittelten Zahl" an Sitzen ab.

31ee) Die Unmöglichkeit, einen Zusammenhang zwischen § 6 Abs. 6 Satz 2 und 4 BWahlG herzustellen, schlage auch auf § 48 Abs. 1 BWahlG durch. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gelte die Listennachfolge nicht, solange die Partei in dem betreffenden Land Mandate nach § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG innehabe. Durch die Unverständlichkeit von § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG sei nicht klar zu ermitteln, um welche Mandate es sich handele. Soweit sich aus Sinn und Zweck der Regelung schließen lasse, dass es sich vermutlich um die bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandate handele, fehle der Regelung die erforderliche Bestimmtheit. Sie spreche von Mandaten "in dem betreffenden Land", jedoch ordneten weder § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG noch § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG die Mandate einem konkreten Land zu. Im Gesetzgebungsverfahren seien unterschiedliche Auslegungs- und Berechnungsvarianten zur Bestimmung der Überhangmandate vertreten worden; weitere seien denkbar. Dies zeige, dass ein Vollzug der Vorschrift durch die zuständige Behörde nicht möglich sei.

322. Die zur Überprüfung gestellten Normen verstießen darüber hinaus gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG).

33a) Die Wahlgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG fordere, dass alle Bürger ihr Wahlrecht in formal gleicher Weise ausüben könnten. Mit der Entscheidung für ein Verhältniswahlsystem habe sich der Gesetzgeber dem Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Stimme unterworfen. Abweichungen hiervon bedürften einer jeweils eigenständigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Das Bundesverfassungsgericht habe zudem der Möglichkeit des Gesetzgebers, ausgleichslose Überhangmandate zuzulassen, eine klare Grenze gesetzt. Überhangmandate seien schon begrifflich nur solche Mandate, die aufgrund eines nicht vollständig durchgeführten Verrechnungsverfahrens entstünden. Dies treffe auf Mandate, die aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung bewusst in proporzverzerrender Weise erzwungen würden, nicht zu. Die Gewährleistungen der Wahlgleichheit würden verstärkt durch die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG. Durch eine ungleiche Gewichtung der auf die Parteien entfallenden Stimmen werde auch die Gleichheit der Parteien in der Wahl als Wettbewerbsprozess berührt.

34b) Das geänderte Wahlgesetz verstoße gegen diese Vorgaben. Die Überhangmandate seien nicht mehr Systemfolge der personalisierten Verhältniswahl, sondern würden vom Gesetzgeber erzwungen. Davon ausgehend könne die mit den Überhangmandaten verbundene Proporzverzerrung nicht durch das besondere Anliegen der Personalisierung gerechtfertigt werden. Diesem sei mit einem Vollausgleich von Überhangmandaten in gleicher Weise gedient. Jedenfalls sei die Grenze des Erforderlichen überschritten. Das Ziel, die Vergrößerung des Bundestages zu dämpfen, werde durch den Nichtausgleich von bis zu drei Überhangmandaten in derart geringer Weise gefördert, dass es den damit verbundenen Eingriff in die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien nicht legitimieren könne.

III.

35Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung sowie die Landesregierungen haben gemäß § 77 Nr. 1 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung erhalten. Von dieser haben der Deutsche Bundestag (1.) und die Bundesregierung (2.) Gebrauch gemacht.

361. Der Deutsche Bundestag hält den Antrag für unbegründet.

37a) aa) Das Entstehen von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten nach § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG sei mit der Wahlgleichheit sowie der Chancengleichheit der Parteien vereinbar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die mit Überhangmandaten einhergehende Beeinträchtigung des Zweitstimmenproporzes durch die Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl gerechtfertigt, solange dadurch der Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl nicht aufgehoben werde. Davon könne erst ausgegangen werden, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl überschreite. Dem trage § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG Rechnung, da nur bis zu drei ausgleichslose Überhangmandate zugelassen würden.

38bb) Die Behauptung, der Gesetzgeber dürfe ausgleichslose Überhangmandate nicht als Gestaltungsinstrument einsetzen, finde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Niederschlag. Außerdem erzwinge die Gesetzesänderung keine Überhangmandate. Sie lasse lediglich zu, dass bis zu drei ausgleichslose Überhangmandate entstehen könnten. Einen Zwang zum Vollausgleich habe das Bundesverfassungsgericht nicht angenommen.

39cc) Die Annahme, die Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten habe auf die Größe des Bundestages nur geringen Einfluss, beruhe auf nur einer Modellrechnung mit Daten nur eines Zeitpunktes. Dies erlaube keinen generellen Rückschluss auf die Dämpfungswirkungen der Regelung. Außerdem liege die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Überhangmandate nicht in der Reduzierung der Größe des Bundestages, sondern darin, dem Wähler im Rahmen der Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen.

40b) Die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens seien hinreichend bestimmt.

41aa) Der Normgehalt könne durch methodengerechte Auslegung ermittelt werden. Für das gebotene Maß an Bestimmtheit sei auf die Eigenart des Regelungsgegenstands und den Normzweck abzustellen. Demgemäß müssten die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens der Bundestagswahl komplex sein, da sie unterschiedliche und zum Teil gegenläufige Prinzipien und Wahlrechtsgrundsätze beachten müssten. Erhöhte man entsprechend dem Antragsvorbringen die Bestimmtheitsanforderungen an wahlrechtliche Sitzzuteilungsregelungen, könnte der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nicht mehr wahrnehmen. Auch aus der Integrationsfunktion der Wahl und dem Gesichtspunkt demokratischer Wesentlichkeit folgten keine eigenständigen oder erhöhten Anforderungen an die Bestimmtheit wahlrechtlicher Sitzzuteilungsregeln.

42bb) § 6 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 BWahlG ließen hinreichend erkennen, dass die Sitzzahl iterativ zu erhöhen sei. Dieser Prozess habe stattzufinden, bis ("so lange") das vorgegebene Ziel erreicht sei, dass die Parteien bei der zweiten Verteilung mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach den Sätzen 2 und 3 zugeordneten Sitze erhielten. Ein Zirkelverweis liege nicht vor.

43cc) Soweit § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bei der Berechnung der zum Ausgleich erhöhten Sitzzahl bestimme, dass bis zu drei potenzielle Überhangmandate unberücksichtigt blieben, sei Bezugspunkt die "Erhöhung der Sitzzahl" nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG. Diese umfasse alle Länder und alle Parteien. Demgemäß gehe es um insgesamt bis zu drei Überhangmandate. Die in der Antragsschrift aufgeführten weiteren Auslegungsansätze - bis zu drei Sitze pro Landesliste oder Partei - verfehlten Wortlaut, Systematik und Sinngehalt der Regelung. Soweit die Antragsschrift behaupte, es sei nicht bestimmbar, welches Mandat ein Überhangmandat sei, werde verkannt, dass es lediglich um eine Rechengröße gehe.

44dd) Auch § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG sei hinreichend bestimmt. Die in der Norm benannte "Unterschiedszahl" beziehe sich auf die Differenz zwischen der gesetzlichen Regelgröße des Deutschen Bundestages und der erhöhten Gesamtzahl der Mandate.

45ee) § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG beziehe sich auf die Zahl der Sitze ohne Überhangmandate, da nur diese die "nach Absatz 5 zu vergebenden Sitze" darstellten. Die nach § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG zu verteilende Sitzzahl schließe dagegen die ausgleichslosen Überhangmandate ein, wodurch die Zahl um bis zu drei Mandate höher ausfallen könne als nach Satz 1. Die Bewältigung der möglichen Differenz habe der Gesetzgeber einer Regelung zugeführt: Nach § 6 Abs. 6 Satz 5 BWahlG werde die Gesamtzahl der Sitze um die Unterschiedszahl erhöht, ohne dass eine erneute Proportionalverteilung stattfinde.

46ff) Schließlich sei auch § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG hinreichend bestimmt. Die in Bezug genommenen Mandate gemäß § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG seien die ausgleichslosen Überhangmandate. Ein Überhang liege in einem Land vor, wenn sich dort ein Sitz nur durch die Garantie aller Wahlkreismandate gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG ergebe. Um dies zu ermitteln, seien die Verteilung bei abgesenkter Sitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 Satz 4 BWahlG) und die Verteilung mit Garantie aller Direktmandate (§ 6 Abs. 6 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 Satz 2 BWahlG) miteinander zu vergleichen. Die Berechnung sei iterativ nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung vorzunehmen. Dort, wo bei der ersten Berechnung weniger Sitze anfielen als bei der zweiten, fielen die Überhangmandate an. Das Berechnungsverfahren ergebe sich aus dem Normzweck des § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG und der Genese des Gesetzes.

47c) Jedenfalls sei eine verfassungskonforme Auslegung der angegriffenen Regelungen möglich. Sollten die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens hinsichtlich der ausgleichslosen Überhangmandate verfassungswidrig sein, sei zu beachten, dass sie integraler Teil einer Reform des Bundestagswahlrechts seien. Würden sie für nichtig erklärt, führten die verbleibenden Teile der Neuregelung einseitig zu einer Stärkung des Verhältniselements der Bundestagswahl, was dem Willen des Gesetzgebers entgegenliefe.

482. Auch die Bundesregierung hält den Normenkontrollantrag für unbegründet.

49a) Die Zulassung von bis zu drei Überhangmandaten verstoße nicht gegen die Gleichheit oder die Unmittelbarkeit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG oder die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG.

50aa) Das verfahrensgegenständliche Gesetz entspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Überhangmandaten, indem es die Anzahl zulässiger Überhangmandate unterhalb der Grenze von 15 festschreibe. Die These, Überhangmandate dürften nur als "Nebenfolge" einer wahlrechtlichen Systementscheidung zugelassen werden, überzeuge nicht. Das Bundesverfassungsgericht habe den Anfall ausgleichsloser Überhangmandate als Ausdruck der Systementscheidung für die personalisierte Verhältniswahl angesehen. Sie seien vorhersehbare Folge der besonderen Akzentuierung der Wahlkreismandate, wie sie der personalisierten Verhältniswahl eigen sei. Das Bundesverfassungsgericht habe auch die potenziell mehrheitsbeeinflussende Wirkung von Überhangmandaten akzeptiert.

51bb) Entgegen der Ansicht der Antragstellerinnen und Antragsteller sei der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit nach Art. 38 Abs. 3 GG nicht zu einem Vollausgleich aller Überhangmandate verpflichtet. Soweit eine zu geringe Dämpfungswirkung des Verzichts auf einen solchen Vollausgleich kritisiert werde, sei dies verfassungsrechtlich irrelevant. Die Grenze der Funktionsunfähigkeit des Parlaments, aus der sich allenfalls die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Mandatszahlbegrenzung ergeben könnte, sei nicht erreicht.

52b) Das Sitzzuteilungsverfahren sei hinreichend bestimmt.

53aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei es verfassungsrechtlich nicht geboten, dass sich der Aussagegehalt von Regelungen insbesondere des Sitzzuteilungsverfahrens ohne Weiteres aus dem Wortlaut erschließe. Es genüge, wenn der Normgehalt durch Auslegung ermittelt werden könne. Das Bundesverfassungsgericht gehe davon aus, dass der Gesetzgeber eine Vorschrift so fassen dürfe, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich sei. Es sei nicht ersichtlich, dass sich mit Blick auf Art. 38 GG ein anderer Bestimmtheitsmaßstab ergebe. Art. 38 Abs. 3 GG eröffne dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, der nicht konterkariert werden dürfe. Mit Blick auf die Integrationsfunktion der Wahl habe das Bundesverfassungsgericht nicht gefordert, dass die Umrechnung von Stimmen in Mandate "einfach" sein müsse.

54bb) § 6 BWahlG sei keine leicht verständliche Vorschrift. Der Grund liege darin, dass die Norm bei der Umwandlung von Stimmen in Mandate den Anforderungen von zwei unterschiedlichen Wahlsystemen (Personen- und Verhältniswahl) genügen müsse. Zudem müsse sie dafür sorgen, dass das System der personalisierten Verhältniswahl in mathematische Handlungsschritte umgesetzt werden könne.

55cc) Dabei genüge zunächst § 6 Abs. 5 BWahlG den Bestimmtheitsanforderungen.

56(1) Etwas anderes folge nicht daraus, dass die möglichen Überhangmandate nicht konkret identifizierbar seien. Auf der ersten Verteilungsstufe sei ihre Identifizierung nicht notwendig, da es sich nur um eine fiktive Rechnung handele. Soweit die Überhangmandate für die endgültige Sitzzuteilung identifiziert werden müssten, sei dies möglich, indem die Sitzzahl nach der Erhöhung mit dem Mindestsitzanspruch der Parteien verglichen werde. Sei die Mindestsitzzahl der Parteien höher als die erhöhte Sitzzahl, handele es sich um Überhangmandate.

57(2) Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller meinten, die Formulierung in § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG ("bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt") erlaube mehrere Auslegungen, beruhe dies auf einem dekonstruktivistischen Zugriff, der die Systematik der Norm nicht berücksichtige und die Unterteilung des Sitzzuteilungsverfahrens in zwei Stufen außer Betracht lasse. Weil es bei der Erhöhung nach § 6 Abs. 5 BWahlG darum gehe, die Sitzzahl zu bestimmen, die im Rahmen der zweiten Verteilung ober- und unterverteilt werde, müsse sich die Formulierung "bis zu drei Sitze" auf die Gesamtzahl der Sitze beziehen.

58dd) Auch § 6 Abs. 6 BWahlG sei hinreichend bestimmt. Bei welcher Partei ein Überhangmandat auftrete, entscheide sich im Rahmen der durch § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG angeordneten Verteilung. Man müsse sich dazu des Unterschieds zwischen den Sitzzahlen in § 6 Abs. 6 Satz 1 und § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG vergewissern: In § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG seien die Sitze, die zur Anrechnung der bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandate führten, nicht enthalten. § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG hingegen umfasse die drei Überhangmandate.

59ee) Falsch sei zudem die Annahme, das Gesetz lasse im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG unterschiedliche Auslegungen zu, welchem Land die ausgleichslosen Überhangmandate zuzuordnen seien. Die Zuordnung ergebe sich aus einem Vergleich der gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 einerseits und § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG andererseits auf die Landeslisten der Parteien mit Überhängen entfallenden Sitzzahlen.

IV.

60Die Antragstellerinnen und Antragsteller haben auf die Stellungnahmen des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung erwidert:

611. Die Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit der ausgleichslosen Überhangmandate überzeugten nicht.

62a) Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sei nicht dadurch eingeschränkt, dass er sich für ein Wahlsystem entschieden habe, das den Grundcharakter einer Verhältniswahl trage, sondern durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG. Wahlgleichheit und Chancengleichheit seien nicht nur dann verletzt, wenn das Anfallen von Überhangmandaten den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebe. Eine Verletzung liege vielmehr auch vor, wenn ein Eingriff in diese formal zu verstehenden Grundsätze nicht gerechtfertigt sei.

63b) Während die Überhangmandate nach altem Recht eine Nebenfolge des Wahlsystems gewesen seien, setze die Gesetzesänderung sie als bewusste Gestaltungsressource zur Verkleinerung des Bundestages ein. Dies sei verfassungswidrig. Dass das Bundesverfassungsgericht Einschränkungen der Wahlgleichheit im "System" der personalisierten Verhältniswahl in geringem Umfang durch das Element der Personenwahl als gerechtfertigt angesehen habe, führe nicht dazu, dass sich jede Beeinträchtigung von Wahlgrundsätzen und anderen Verfassungsgütern innerhalb dieses "Systems" rechtfertigen lasse. Nach der Reformkonzeption diene die Regelung nicht der Personalisierung, sondern der Verkleinerung des Bundestages. Dieses Anliegen könne die verfahrensgegenständliche Regelung nicht rechtfertigen. Ein substanzieller Effekt der Überhangmandate auf die Bundestagsgröße sei nicht dargelegt. Die Überhangmandate mit dem höchsten Ausgleichsbedarf seien immer die der CSU, weil sie mit dem geringsten bundesweiten Zweitstimmenergebnis ausgeglichen werden müssten. Trotzdem blieben bei der vorgelegten Beispielrechnung nur zwei Überhangmandate der CSU und ein Überhangmandat der CDU unausgeglichen.

642. Die Ausführungen des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung zur Bestimmtheit der verfahrensgegenständlichen Normen verkennten den verfassungsrechtlichen Maßstab. Soweit sie argumentierten, Gegenstand und Zweck der Sitzzuteilungsregelungen bedingten eine gehobene Komplexität, sei unklar, inwiefern dies die Unbestimmtheit von § 6 BWahlG rechtfertige. Diese folge daraus, dass wesentliche Schritte des Berechnungsverfahrens im Gesetzeswortlaut nicht geregelt würden. Eine Flexibilität in der Auslegung sei vor allem dann notwendig, wenn eine Vielzahl im Einzelnen nicht vorhersehbarer Lebenssachverhalte erfasst werden müsse, was hier nicht der Fall sei. Gerade weil es sich beim Sitzzuteilungsverfahren um mathematische Rechenoperationen handele, eigne es sich für absolut präzise Regelungen. Im Übrigen verabsolutierten Bundestag und Bundesregierung die genetische Auslegung.

653. Schließlich sei das Gesetz weniger als zehn Monate vor der Wahl des 20. Deutschen Bundestages in Kraft getreten und missachte folglich den von der Venedig-Kommission für Änderungen des Wahlrechts empfohlenen Zeitraum von mindestens einem Jahr vor einer Wahl. Die Verstöße gegen das Gebot der Normenklarheit seien nicht zuletzt dieser kurzfristigen Änderung geschuldet.

V.

661. Der Deutsche Bundestag hat hierauf im Wesentlichen erwidert:

67a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einbettung der Überhangmandate in das vom Gesetzgeber ausgestaltete Wahlsystem habe normativen Gehalt. Das Gericht leite aus dem Grundcharakter des Wahlsystems als Verhältniswahl Grenzen für Überhangmandate ab.

68b) Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller argumentierten, dass die Sitzzuteilungsregelungen hochgradig bestimmt sein müssten, zugleich aber Überhangmandate nur als Nebenfolge einer gesetzgeberischen Entscheidung zulässig seien, postulierten sie einen kaum überwindbaren Gegensatz. Unter diesen Voraussetzungen sei es für den Gesetzgeber bei der Zulassung von Überhangmandaten kaum möglich, die Grenze von einer halben Fraktionsstärke hinreichend sicher einzuhalten.

69c) Der postulierte Widerspruch zwischen der Personalisierung des Deutschen Bundestages einerseits und der Dämpfung seines Wachstums andererseits bestehe nicht. Wenn ein potenziell überhängendes Wahlkreismandat ausgleichslos bleibe, sei der Bundestag relativ personalisierter und zugleich kleiner als bei einem vollständigen Ausgleich. Die konkrete Dämpfungswirkung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten hänge vom jeweiligen Wahlergebnis ab. Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller meinten, die ausgleichslosen Überhangmandate seien nicht stets die mit dem höchsten Ausgleichsbedarf, sei der gewählte Vergleichsmaßstab der bundesweiten Zweitstimmenverteilung verfehlt. Die Regelungen der Sitzzuteilung stellten auf eine landesbezogene Betrachtung ab.

70d) Der Deutsche Bundestag vertrete nicht, dass für das Sitzzuteilungsverfahren ein erhöhtes Maß an Auslegungsbedürftigkeit zulässig sei. Es gelte der Bestimmtheitsmaßstab, den die Rechtsprechung aus den einschlägigen verfassungsrechtlichen Anforderungen hergeleitet habe und der demjenigen für Grundrechtseingriffe entspreche. Es seien vielmehr die Antragstellerinnen und Antragsteller, die in Abweichung von diesen Anforderungen ein erhöhtes Maß an Bestimmtheit forderten.

712. Die Bundesregierung hat auf die Replik im Wesentlichen erwidert:

72a) Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit ausgleichsloser Überhangmandate ließen die Antragstellerinnen und Antragsteller die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahezu vollständig außer Betracht. Soweit sie meinten, die Bundesregierung begründe die Zulässigkeit der bis zu drei Überhangmandate mit "vermeintlichen Systemargumenten", verkennten sie, dass auch die Rechtsprechung eine wahlsystemische Begründung enthalte. Zudem erzwinge der Gesetzgeber ausgleichslose Überhänge nicht, sondern nehme sie in begrenztem Umfang hin.

73b) Die Komplexität von § 6 BWahlG beruhe nicht nur darauf, dass schwierige mathematische Operationen in Gesetzessprache ausgedrückt werden müssten. Sie sei auch auf die Verbindung von Personen- und Verhältniswahl und die damit erforderliche Verrechnung von Erst- und Zweitstimmen zurückzuführen sowie darauf, dass die Norm die einzelnen Berechnungsschritte hinreichend dicht steuern müsse.

74c) Mit Blick auf den von der Venedig-Kommission empfohlenen Abstand von mindestens einem Jahr zwischen der Änderung des Wahlrechts und dem Wahltermin sei zu beachten, dass der Wahltermin erst am auf den festgelegt worden sei. Im Zeitpunkt der dritten Lesung des verfahrensgegenständlichen Gesetzes im Deutschen Bundestag am sei eine Terminierung der Bundestagswahl noch bis zum möglich gewesen. Auch wenn man auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom am abstelle, sei die Vorgeschichte der Gesetzesänderung zu berücksichtigen.

VI.

75In der mündlichen Verhandlung am haben die Beteiligten ihr Vorbringen vertieft und ergänzt. Als sachkundige Auskunftspersonen sind zu den Maßstäben des Gebots der Normenklarheit Prof. Dr. Emanuel Towfigh und Prof. (em.) Dr. Martin Morlok sowie zur Subsumtion der verfahrensgegenständlichen Normen Ministerialrat Dr. Henner Jörg Boehl sowie die Bundeswahlleiterin Dr. Ruth Brand und ihr Vorgänger im Amt, Dr. Georg Thiel, angehört worden. Zu wahlmathematischen Fragen hinsichtlich der Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts, Beeinträchtigungen der Erfolgswertgleichheit und der Auswirkungen des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom auf die Größe des Deutschen Bundestages hat Prof. (em.) Dr. Friedrich Pukelsheim Stellung genommen.

B.

76Der Normenkontrollantrag gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG ist zulässig, insbesondere liegt das erforderliche objektive Klarstellungsinteresse vor (vgl. BVerfGE 6, 104 <110>; 96, 133 <137>; 106, 244 <250>; 119, 394 <409>; 127, 293 <319>; stRspr).

I.

77Bei einem Antrag nach § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG wird das objektive Klarstellungsinteresse schon dadurch indiziert, dass ein auf das Grundgesetz in besonderer Weise verpflichtetes Organ oder ein Organteil von der Unvereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Bundesrecht und daher von deren Nichtigkeit überzeugt ist und eine diesbezügliche Feststellung beim Bundesverfassungsgericht beantragt (vgl. BVerfGE 96, 133 <137>; 106, 244 <250 f.>; 119, 394 <409>; 127, 293 <319>; stRspr). Das objektive Klarstellungsinteresse bleibt so lange bestehen, wie die zur Prüfung gestellte Norm Rechtswirkungen entfaltet, und entfällt lediglich dann, wenn von ihr unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr Rechtswirkungen ausgehen können (vgl. BVerfGE 97, 198 <213 f.>; 100, 249 <257>; 110, 33 <45>; 113, 167 <193>; 119, 394 <410>; 127, 293 <319>; stRspr).

II.

78Davon ausgehend ist das objektive Klarstellungsinteresse gegeben. Der verfahrensgegenständliche Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG entfaltet jedenfalls so lange Rechtswirkung, wie der auf seiner Grundlage gewählte 20. Deutsche Bundestag besteht (vgl. BVerfGE 151, 152 <162 Rn. 27> - Wahlrechtsausschluss Europawahl - Eilantrag). Hinzu kommt, dass der Deutsche Bundestag in seiner 66. Sitzung am entsprechend der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom (BTDrucks 20/4000) beschlossen hat, die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am im Land Berlin teilweise zu wiederholen (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/66, S. 7672 ff.). Dieser Beschluss ist Gegenstand mehrerer Wahlprüfungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 41 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG. Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 BWahlG findet die Wiederholungswahl nach denselben Vorschriften wie die Hauptwahl statt. Ihre tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen sollen so weit wie möglich denjenigen entsprechen, die bereits für die Hauptwahl galten (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 44 Rn. 7). In der Folge hätte eine Wiederholung der Wahl des 20. Deutschen Bundestages grundsätzlich nach den Normen des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom stattzufinden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom - 2 BvF 1/21 -, Rn. 12). Auch unter diesem Gesichtspunkt ist nicht ausgeschlossen, dass von der zur Prüfung gestellten Norm noch Rechtswirkungen ausgehen können.

C.

79Der nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG zulässige Normenkontrollantrag ist nicht begründet. Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle werden die zur Überprüfung gestellten Normen ohne Bindung an die erhobenen Rügen unter allen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geprüft (vgl. BVerfGE 37, 363 <396 f.>; 86, 148 <211>; 93, 37 <65>; 97, 198 <214>; 101, 239 <257>; 112, 226 <254>; stRspr). Diese Prüfung ergibt, dass Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG sowohl mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (I.) als auch mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien vereinbar ist (II.). Auch mit Blick auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der zur Überprüfung gestellten Normen ergeben sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken (III.).

I.

801. a) Nach dem allgemeinen, im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gründenden Gebot hinreichender Bestimmtheit der Gesetze ist der Gesetzgeber gehalten, Vorschriften so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (vgl. BVerfGE 49, 168 <181>; 59, 104 <114>; 78, 205 <212>; 103, 332 <384>; 134, 141 <184 Rn. 126>; 145, 20 <69 f. Rn. 125>; 149, 293 <323 Rn. 77>; stRspr). Die Betroffenen müssen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach ausrichten können (vgl. BVerfGE 103, 332 <384>; 108, 52 <75>; 110, 33 <53 f.>; 113, 348 <375 f.>; 131, 88 <123>; 149, 293 <323 Rn. 77>; stRspr). Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm dienen ferner dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen sowie die Gerichte in die Lage zu versetzen, die Verwaltung anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren (vgl. BVerfGE 56, 1 <12>; 110, 33 <54>; 113, 348 <376 f.>; 120, 378 <407>; 149, 293 <323 Rn. 77>; stRspr). Insoweit steht das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit und Klarheit der Normen im Zusammenhang mit dem Prinzip der Gewaltenteilung (vgl. BVerfGE 8, 274 <325> m.w.N.).

81aa) Bei dem Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze handelt es sich um ein einheitliches Postulat, das verschiedene Aspekte in sich vereint. Demgemäß ist der Maßstab hierfür einheitlich zu bestimmen; eine Trennung zwischen Bestimmtheits- und Klarheitsgebot dahingehend, dass eine Norm zwar noch hinreichend bestimmt sein kann, dennoch aber gegen das Gebot der Normenklarheit verstößt, kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Dieser Sichtweise steht der Beschluss des Ersten Senats vom (BVerfGE 156, 11 - Antiterrordateigesetz II) nicht entgegen. Zwar wurde dort ausdrücklich zwischen dem Gebot der Bestimmtheit, das in erster Linie den Rechtsanwender in den Blick nimmt, und dem Gebot der Normenklarheit, das vor allem auf den Normbetroffenen bezogen ist, unterschieden und vor diesem Hintergrund die eigenständige Bedeutung des Gebots der Normenklarheit hervorgehoben. Nach der dort vorgenommenen Differenzierung geht es bei der Bestimmtheit vornehmlich darum, dass Regierung und Verwaltung im Gesetz die Normanwendung steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle vornehmen können, während bei der Normenklarheit die inhaltliche Verständlichkeit der Regelung im Vordergrund steht, insbesondere damit sich Bürgerinnen und Bürger auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen können, die andernfalls ohne ihr Wissen und ohne die Erreichbarkeit gerichtlicher Kontrolle erfolgen könnten (vgl. BVerfGE 156, 11 <45 f. Rn. 86 ff.>; 162, 1 <125 Rn. 272> - Bayerisches Verfassungsschutzgesetz). Auf die vorliegende Konstellation ist dies indes nicht übertragbar. Denn hier geht es - anders als in der Entscheidung des Ersten Senats - gerade nicht um heimliche Eingriffe des Staates in die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern, die tief in die Privatsphäre der Betroffenen eindringen und von diesen weitgehend weder wahrgenommen noch angegriffen werden können. Der Gehalt solcher Regelungen kann daher nur sehr eingeschränkt im Wechselspiel von Anwendungspraxis und gerichtlicher Kontrolle konkretisiert werden. Weil die Grundrechte hier ohne Wissen der Bürgerinnen und Bürger und oft ohne die Erreichbarkeit gerichtlicher Kontrolle durch die Verwaltung, durch Polizei und Nachrichtendienste eingeschränkt werden, muss der Inhalt der den Eingriffen zugrundeliegenden Normen verständlich und ohne größere Schwierigkeiten durch Auslegung zu konkretisieren sein (vgl. BVerfGE 156, 11 <45 f. Rn. 87 f.>; 162, 1 <125 f. Rn. 272 f.>). Demgegenüber regeln die hier zur Überprüfung gestellten Vorschriften die Umrechnung von bei der Wahl zum Deutschen Bundestag abgegebenen Stimmen in Parlamentssitze. In Rede steht daher kein heimlicher Grundrechtseingriff. Auch betreffen die angegriffenen Bestimmungen nicht die Wahlhandlung als solche. Vielmehr beziehen sie sich auf den der Stimmabgabe nachgelagerten Vorgang der Sitzverteilung durch Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses, der den Wahlorganen (§ 8 BWahlG) anvertraut ist. Dieser Vorgang unterliegt - entsprechend dem verfassungsrechtlichen Gebot der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG (vgl. BVerfGE 123, 39 <68 ff.>) - dem Öffentlichkeitsgrundsatz (§ 10 Abs. 1 BWahlG, § 54 Bundeswahlordnung <BWO>; vgl. Thum, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 10 Rn. 1 ff.), der die Ordnungsgemäßheit und Nachvollziehbarkeit der Wahlvorgänge sichert und damit eine wesentliche Voraussetzung für begründetes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den korrekten Ablauf der Wahl schafft (vgl. BVerfGE 123, 39 <68>). Zu diesem Zweck veröffentlicht der Bundeswahlleiter im Zuge der Mitteilung der endgültigen Ergebnisse der Wahl auch die Schritte zur Sitzberechnung und Verteilung der Mandate.

82bb) Welcher Grad an Bestimmtheit geboten ist, lässt sich nicht generell und abstrakt festlegen, sondern hängt von der Eigenart des Regelungsgegenstands und dem Zweck der betreffenden Norm ab (vgl. BVerfGE 103, 111 <135>; 131, 316 <343>; jeweils m.w.N.). Dabei kann auch der Kreis der Normanwender und Normbetroffenen von Bedeutung sein (vgl. BVerfGE 128, 282 <318>; 149, 293 <324 Rn. 77>; jeweils m.w.N.). Die Anforderungen erhöhen sich insbesondere dann, wenn die Unsicherheit in der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwert. Sie sind hingegen geringer bei Normen, die nicht oder nicht intensiv in Grundrechte eingreifen, und bei Normen, die nicht von solcher Art sind, dass Adressaten und Betroffene sich bei der Wahrnehmung von Grundrechten auf ihren Inhalt im Detail vorausschauend einrichten können müssen (vgl. BVerfGE 131, 88 <123> m.w.N.).

83cc) Grundsätzlich fehlt es an der notwendigen Bestimmtheit nicht schon deshalb, weil eine Norm auslegungsbedürftig ist (vgl. BVerfGE 45, 400 <420>; 83, 230 <145>; 128, 282 <317>; 131, 316 <343>; 134, 141 <184 Rn. 127>; 149, 160 <203 Rn. 120>; 149, 293 <324 Rn. 78>; stRspr). Dem Bestimmtheitserfordernis ist vielmehr genügt, wenn von der Norm aufgeworfene Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können (vgl. BVerfGE 83, 130 <145>; 117, 71 <111>; 134, 141 <184 f. Rn. 127>; 149, 293 <324 Rn. 78>; stRspr). Der Bestimmtheitsgrundsatz fordert nicht, dass der Inhalt gesetzlicher Vorschriften dem Bürger grundsätzlich ohne Zuhilfenahme juristischer Fachkunde erkennbar sein muss (vgl. BVerfGE 110, 3 <64>; 131, 88 <Rn. 123>). Die bei der Auslegung verbleibenden Unsicherheiten dürfen indes nicht so weit gehen, dass die Norm nicht praktikabel ist (vgl. BVerfGE 25, 216 <226 f.>). Insbesondere darf die Vorhersehbarkeit und Justiziabilität des Handelns der durch sie ermächtigten Stellen nicht gefährdet sein (vgl. BVerfGE 118, 168 <188>; 120, 274 <316>; 133, 277 <356 Rn. 181>; 145, 20 <69 f. Rn. 125>; stRspr).

84dd) Auch Verweisungen sind mit dem Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Normen nicht grundsätzlich unvereinbar. Verweisungen sind als vielfach übliche und teilweise notwendige gesetzestechnische Methode anerkannt, sofern die Verweisungsnorm hinreichend klar erkennen lässt, welche Vorschriften im Einzelnen gelten sollen (vgl. BVerfGE 143, 38 <55 f. Rn. 42> m.w.N.).

85b) Die dargelegten Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Gesetzen gelten auch für wahlrechtliche Normen (vgl. BVerfGE 131, 316 <343 f.>). Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass Rechtsklarheit im Wahlrecht in besonderem Maße geboten ist (vgl. BVerfGE 79, 161 <168>). Diese erfolgte mit Blick auf eine Regelungslücke des Wahlgesetzes. Insofern führte der Zweite Senat aus, der Gesetzgeber werde mit Blick auf die im Wahlrecht in besonderem Maße gebotene Rechtsklarheit zu erwägen haben, diese zu schließen. Besondere Bestimmtheitsanforderungen an wahlrechtliche Normen jenseits des Vorliegens einer Regelungslücke sind dem nicht zu entnehmen. Gleiches gilt, soweit der Zweite Senat den Gesetzgeber wiederholt aufgefordert hat, das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine normenklare und verständliche Grundlage zu stellen (vgl. BVerfGE 121, 266 <316>; 122, 304 <311>; BVerfG, Beschlüsse des Zweiten Senats vom - 2 BvC 11/04 -, Rn. 17; vom - 2 BvC 6/03 -, Rn. 19 sowie - 2 BvC 9/04 -, Rn. 27; vom - 2 BvC 6/04 -, Rn. 20 sowie - 2 BvC 1/04 -, Rn. 21; vom - 2 BvC 6/07 -, Rn. 18.). Dieser Appell erfolgte jeweils unter Verweis auf die anstehende Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens durch den Gesetzgeber, die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht (BVerfGE 121, 266) notwendig geworden war und die der Gesetzgeber mit dem Neunzehnten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 2313) vornahm. Dass an wahlrechtliche Normen ein über das allgemeine Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze hinausgehender Maßstab anzulegen wäre, ist der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts dagegen nicht zu entnehmen. Insbesondere lässt sich ein allgemeingültiger verfassungsrechtlicher Maßstab für den maximal zulässigen Grad an Komplexität, den eine wahlrechtliche Vorschrift erreichen darf, nicht entwickeln, zumal die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit einer das Wahlgeschehen betreffenden Norm auch davon abhängen, ob sie die Wahlhandlung selbst oder die nachfolgende Ergebnisermittlung betrifft.

862. Davon ausgehend genügt Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Dies gilt für die dadurch geänderten § 6 Abs. 5 (a) und Abs. 6 BWahlG (b) ebenso wie für § 48 Abs. 1 BWahlG (c). Auch mit Blick auf die Klarheit der Norm stellt der Umstand, dass wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger allein auf Grundlage des Gesetzestextes ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen nicht in der Lage sein dürften, die Regelungen der § 6 Abs. 5 und 6, § 48 BWahlG im Einzelnen zu erfassen, keinen Verfassungsverstoß dar (d).

87a) § 6 Abs. 5 BWahlG lässt sich bei methodengerechter Auslegung entnehmen, wie die Sitzzahl des Deutschen Bundestages zu erhöhen ist und welche Folgen sich daraus für die Gesamtzahl der Sitze ergeben.

88aa) § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG regelt hinreichend bestimmt, wie und bis zu welchem Punkt die Sitzzahl des Deutschen Bundestages zu erhöhen ist. Soweit er vorschreibt, dass die Sitzzahl so lange erhöht wird, bis "jede Partei bei der zweiten Verteilung der Sitze nach Absatz 6 Satz 1 mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach den Sätzen 2 und 3 zugeordneten Sitze erhält", wird deutlich, dass in einem iterativen Prozess die Sitzzahl des Deutschen Bundestages so lange zu erhöhen ist, bis bei der tatsächlichen Verteilung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG jede Partei die Gesamtzahl der Sitze erhält, die ihren Landeslisten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG zugeordnet sind. Für jede Landesliste muss der höhere Wert aus den folgenden Optionen erreicht werden: entweder die Zahl der im Land von Wahlbewerbern der Partei in den Wahlkreisen errungenen Sitze oder der auf ganze Sitze aufgerundete Mittelwert zwischen dieser Zahl der Direktmandate und den Sitzen, die nach der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 und 3 BWahlG für die Landesliste der Partei ermittelt wurden (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG). Mindestens muss aber für eine Partei insgesamt im Bundestag die Zahl der Sitze erreicht sein, die für diese Partei bei der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 und 3 BWahlG ermittelt wurde (§ 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG). Die von den Antragstellerinnen und Antragstellern behauptete Undurchführbarkeit der Rechenoperation zur Sitzzahlerhöhung besteht bei methodengerechter Auslegung der Norm daher nicht.

89(1) Schon der Wortlaut von § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG ("so lange erhöht, bis") spricht dafür, dass die beschriebene Rechenoperation ein schrittweises Vorgehen verlangt, nämlich eine iterative - probeweise - Erhöhung der Gesamtsitzzahl (vgl. für eine entsprechende Bestimmung im Gesetz über die Wahlen zum Landtag des Landes Hessen HessStGH, Urteil vom - P.St. 2733, P.St. 2738 -, juris, Rn. 150), bis die Bedingung des § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG erreicht ist, bis also jede Partei bei der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG die Zahl der ihren Landeslisten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG zugeordneten Sitze erhält. Die Erhöhung wird dabei so lange vorgenommen, bis diese Bedingung eintritt (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 22 ff.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3-3000-222/20, S. 6).

90(2) Auch die Systematik der Absätze 5 und 6 spricht für dieses Verständnis. Ihr Zusammenspiel ergibt, dass § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG zum einen eine Erhöhung der Gesamtsitzzahl vorschreibt ("die Zahl der nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze wird […] erhöht") und zum anderen deren Endpunkt festlegt ("bis jede Partei bei der zweiten Verteilung nach Absatz 6 Satz 1 mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach den Sätzen 2 und 3 zugeordneten Sitze erhält").

91Dabei folgt aus der Normsystematik auch das Verfahren der Sitzzahlerhöhung. Da sich die zweite Verteilung gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG nach dem in § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 für die erste Verteilung geregelten Divisorverfahren mit Standardrundung richtet, ist dieses Verfahren auch im Rahmen der Sitzzahlerhöhung nach § 6 Abs. 5 BWahlG zugrunde zu legen. Nur auf diese Weise ist zu ermitteln, bei welcher Sitzzahl die unter Anwendung dieses Verfahrens vorzunehmende zweite Verteilung den gesetzlich bestimmten Anforderungen genügt (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 22, 24). Dafür ist die Gesamtsitzzahl schrittweise, in sich wiederholenden Rechengängen zu erhöhen und jedes Mal unter Anwendung des Divisorverfahrens mit Standardrundung zu prüfen, ob die durch § 6 Abs. 6 in Verbindung mit § 6 Abs. 5 BWahlG vorgegebenen Anforderungen bei der Verteilung erfüllt sind (vgl. Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 451 f.; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 22, 24).

92(3) Diesen Regelungsgehalt von § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG bestätigt die Begründung des Gesetzentwurfs. Dort heißt es (BTDrucks 19/22504, S. 8): "Absatz 5 regelt, wie bisher, die Erhöhung der Gesamtsitzzahl für die endgültige Sitzverteilung in der zweiten Stufe der Sitzverteilung nach Absatz 6. Nach Satz 1 wird die Gesamtsitzzahl so weit erhöht, bis jede Partei bei der bundesweiten Oberverteilung nach Absatz 6 Satz 1 die Summe der Sitze, die den Landeslisten dieser Partei nach Maßgabe des Absatzes 5 Sätze 2 und 3 zugeordnet sind, erhält". Die Formulierung "wie bisher" verweist darauf, dass der Gesetzgeber das bisherige Verfahren der Sitzzahlerhöhung nach dem BWahlG 2013 grundsätzlich beibehalten wollte (vgl. auch BTDrucks 19/22504, S. 1, 5). Bei diesem wurde die Gesamtsitzzahl schrittweise erhöht, bis bei der Verteilung auf die Landeslisten nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG 2013 die Bedingung des § 6 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 BWahlG 2013 erreicht war (vgl. BTDrucks 17/11819, S. 5; Lang, GreifRecht 2019, S. 76 <81>; Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 6 Rn. 1c, 26, 26c; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 22).

93(4) Diese Auslegung entspricht schließlich auch dem Sinn und Zweck der Regelung. Diese wurde im Grundsatz bereits durch das Zweiundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 1082) geschaffen und sollte in Reaktion auf das (BVerfGE 131, 316) die Entstehung ausgleichsloser Überhangmandate vermeiden (vgl. BTDrucks 17/11819, S. 1). Während sich der Gesetzgeber zunächst für einen Vollausgleich aller potenziellen Überhangmandate entschied (vgl. BTDrucks 17/11819, S. 5 f.), ließ er mit der erneuten Änderung durch das verfahrensgegenständliche Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom wieder bis zu drei unausgeglichene Überhangmandate mit dem Ziel zu, das Anwachsen des Deutschen Bundestages zu dämpfen (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5, 6). Dies ändert aber nichts daran, dass sowohl das Bundeswahlgesetz 2013 als auch das Bundeswahlgesetz in der hier zur Überprüfung gestellten Fassung mit der Wechselbezüglichkeit von § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG darauf abzielen, eine Erhöhung der Sitzzahl nur so lange stattfinden zu lassen, bis der jeweils gewünschte Ausgleichseffekt erzielt ist (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 22 ff.).

94bb) Auch § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG genügen den vorgenannten Bestimmtheitsanforderungen. Sie regeln eindeutig, welche Sitzzahl jeder Landesliste beziehungsweise Partei bei der Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG zu berücksichtigen ist, und legen damit "Mindestsitzzahlen" (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 28) der Parteien fest. Der Regelung lässt sich mit hinreichender Bestimmtheit entnehmen, dass bei der Sitzzahlerhöhung pro Land entweder sämtliche Direktmandate einer Partei oder der (höhere) Mittelwert aus den Direktmandaten und den auf die jeweilige Landesliste dieser Partei entfallenden Mandaten anzusetzen und diese Zahlen zu addieren, mindestens aber die (Gesamt-)Summe der für jede Partei bei der ersten (fiktiven) Verteilung ermittelten Sitze in Ansatz zu bringen sind.

95(1) Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG wird jeder Landesliste zunächst die Zahl der im Land von Wahlbewerbern der Partei in den Wahlkreisen nach § 5 BWahlG errungenen Sitze, das heißt die Zahl ihrer Direktmandate, garantiert (§ 6 Abs. 5 Satz 2 Alternative 1 BWahlG). Alternativ wird der auf ganze Sitze aufgerundete Mittelwert zwischen der Zahl der von der jeweiligen Partei erzielten Direktmandate und den für die Landesliste nach der ersten Verteilung (§ 6 Abs. 2 und 3 BWahlG) ermittelten Sitze in Ansatz gebracht (§ 6 Abs. 5 Satz 2 Alternative 2 BWahlG). Garantiert wird jeweils der höhere Wert der beiden Alternativen, wobei die erste Alternative in den Fällen einschlägig ist, in denen eine Landesliste ebenso viele Direktmandate wie oder mehr Direktmandate als Listenmandate errungen hat, die zweite Alternative dagegen in den Fällen, in denen die Anzahl der Listenmandate die der Direktmandate übersteigt (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 28). Darüber hinaus bestimmt § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG, dass jede Partei mindestens die bei der ersten Verteilung (§ 6 Abs. 2 und 3 BWahlG) für ihre Landeslisten ermittelten Sitze erhält. Nach der Entwurfsbegründung zielt dies auf den Fall, dass die Summe der nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG ermittelten Sitze die Summe der in der ersten Verteilung für die Landeslisten der jeweiligen Partei ermittelten Sitze unterschreitet (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 8).

96(2) Verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit dieser Regelungen bestehen nicht. Dies gilt auch in Bezug auf § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG. Insoweit lässt bereits der Wortlaut der Norm, der von "Landeslisten" im Plural spricht, erkennen, dass auf die Gesamtzahl der bei der ersten Verteilung für eine Partei ermittelten Sitze abzustellen ist. Dem entspricht die Begründung des Gesetzentwurfs, die explizit jeweils auf die "Summe" der Sitze Bezug nimmt (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 8). Der Regelungszweck bestätigt diese Auslegung. § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG soll verhindern, dass es bei Parteien, die wenige Direktmandate gewonnen haben, aufgrund von § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG zu einer übermäßigen Reduzierung der Sitzansprüche und damit zu zusätzlichen Proporzverzerrungen kommt (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 29). Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn im Rahmen des § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG alle für eine Partei bei der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 und 3 BWahlG ermittelten Sitze garantiert werden.

97cc) Auch § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG genügt bei methodengerechter Auslegung den Bestimmtheitsanforderungen.

98(1) Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bleiben bei der Sitzzahlerhöhung in den Wahlkreisen errungene Sitze, die nicht nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG von der Zahl der für die Landesliste ermittelten Sitze abgezogen werden können, bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt. Folglich geht es um Direktmandate einer Partei, welche die Zahl der in dem jeweiligen Land nach Zweitstimmen errungenen Mandate übersteigen. Es handelt sich demgemäß um Quasi-Überhangmandate (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 25, der von "drohenden Überhangmandaten" spricht).

99(2) Entgegen der Auffassung der Antragstellerinnen und Antragsteller fehlt es in § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals "bis zu einer Zahl von drei" nicht an der notwendigen Bestimmtheit. Die Auslegung ergibt, dass § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG lediglich für bis zu drei Überhangmandate insgesamt gilt, ohne dass es auf deren Identifizierbarkeit ankommt.

100(a) Zwar ist den Antragstellerinnen und Antragstellern zuzugestehen, dass sich aus dem Wortlaut der Norm allein nicht erschließt, ob die Zahl "bis zu drei" pro Landesliste, pro Partei oder auf alle Landeslisten aller Parteien bezogen zu verstehen ist (vgl. auch Pukelsheim/Bischof, DVBl 2021, S. 417 <420>). Der Wortlaut eines Gesetzes bildet aber regelmäßig nur den Ausgangspunkt seiner Auslegung (vgl. BVerfGE 133, 168 <205 Rn. 66> m.w.N.).

101(b) Die systematische Auslegung ergibt, dass gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG nur insgesamt bis zu drei Quasi-Überhangmandate nicht ausgeglichen werden sollen.

102(aa) Bei der systematischen Auslegung ist darauf abzustellen, dass einzelne Rechtssätze, die der Gesetzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gestellt hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, dass sie logisch miteinander vereinbar sind; es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber sachlich Zusammenhängendes so geregelt hat, dass die gesamte Regelung einen durchgehenden, verständlichen und widerspruchsfreien Sinn ergibt (vgl. BVerfGE 48, 246 <257>; 124, 25 <40 f.>). Gerade die Stellung einer Vorschrift im Gesetz und ihr sachlich-logischer Zusammenhang mit anderen Vorschriften können den Sinn und Zweck der Norm freilegen (vgl. BVerfGE 35, 263 <279>; 48, 246 <255 f.>).

103(bb) Demgemäß ist vorliegend in Rechnung zu stellen, dass § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG auf die Sitzzahlerhöhung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG ("Bei der Erhöhung") Bezug nimmt. Diese ist auf die Feststellung der Gesamtzahl der Sitze im Deutschen Bundestag gerichtet, die im Rahmen der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 BWahlG konkret zur Verfügung stehen müssen. Dafür wird nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG die Zahl der nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BWahlG verbleibenden Sitze so lange erhöht, bis jede Partei in der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG mindestens die ihren Landeslisten zugeordneten Mindestsitze (§ 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG) erhält. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, auch die Zahl der bei dieser Erhöhung nicht zu berücksichtigenden Sitze im Sinne von § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG auf die Gesamtzahl der zur Verfügung zu stellenden Sitze zu beziehen (vgl. auch Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 25).

104Für die Auffassung der Antragstellerinnen und Antragsteller, dass sich die Zahl von bis zu drei nicht zu berücksichtigenden Quasi-Überhangmandaten auch auf die Summe der den Landeslisten einer Partei zugeordneten Sitze beziehen kann, mithin pro Partei verstanden werden könnte, gibt es in § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG keinen Anhaltspunkt. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG, wonach "jede Partei" mindestens die bei der ersten Verteilung ermittelten Sitze erhält. § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG betrifft die Zahl der einer Partei mindestens garantierten Sitze, deren Summe die Gesamtzahl der Sitze bildet, die es im Wege der Sitzzahlerhöhung gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG zu erreichen gilt. § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bezieht sich demgegenüber auf das Verfahren der Sitzzahlerhöhung in seiner Gesamtheit. Die Norm nimmt damit gerade nicht die Zahl der den einzelnen Parteien garantierten Sitze in den Blick. Dem steht auch der Hinweis der Antragstellerinnen und Antragsteller nicht entgegen, dass § 6 Abs. 5 Satz 1 und 3 BWahlG jeweils auf den "Landeslisten" zugeordnete Sitze der Parteien Bezug nehmen. In beiden Vorschriften stellen sich diese Sitze lediglich als Rechengröße dar, um daraus die Gesamtzahl der im Wege der Sitzzahlerhöhung gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG zur Verfügung zu stellenden Sitze zu ermitteln. Wenn aber § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bestimmt, dass "dabei" bis zu drei Quasi-Überhangmandate außer Betracht bleiben, kann dies nur auf den Prozess der Sitzzahlerhöhung insgesamt bezogen sein.

105Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht, dass § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bei der Beschreibung der Mandate, die unberücksichtigt bleiben, den Begriff der "Landesliste" - anders als § 6 Abs. 5 Satz 1 und 3 BWahlG - in der Einzahl verwendet. Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller meinen, dies lege nahe, dass die Zahl "bis zu drei" auf die einzelne Landesliste einer Partei bezogen sei, lassen sie unberücksichtigt, dass § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG den Begriff Landesliste hier unter Bezugnahme auf § 6 Abs. 4 BWahlG verwendet. Dieser bestimmt, dass von der für jede Landesliste ermittelten Sitzzahl (§ 6 Abs. 2 und 3 BWahlG) die Zahl der von der Partei im jeweiligen Land errungenen Direktmandate abgerechnet wird (Satz 1) und diese Mandate einer Partei auch dann erhalten bleiben, wenn ihre Zahl die Zahl der Listenmandate übersteigt (Satz 2). Gemäß § 6 Abs. 4 BWahlG werden die Direktmandate folglich im Rahmen der jeweiligen Landesliste angerechnet. Deshalb verwendet die Regelung den Begriff der Landesliste in der Einzahl. § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG nimmt auf diese Formulierung des § 6 Abs. 4 BWahlG Bezug und benutzt daher den Begriff der Landesliste ebenfalls in der Einzahl. Dass die einzelne Landesliste damit zugleich Bezugspunkt der Nichtberücksichtigung von bis zu drei Quasi-Überhangmandaten sein soll, ergibt sich daraus nicht.

106Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller schließlich einwenden, dass mehrere Parteien nach der ersten Verteilung über Quasi-Überhangmandate verfügten und anhand des Wortlauts von § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG nicht entschieden werden könne, welche dieser Mandate bis zu einer Zahl von drei nicht ausgeglichen werden sollen, verkennen sie, dass es im Rahmen der Sitzzahlerhöhung einer konkreten Zuordnung der nicht zu berücksichtigenden Quasi-Überhangmandate nicht bedarf. Vielmehr geht es lediglich um die Ermittlung der Gesamtzahl der Sitze für die zweite Verteilung gemäß § 6 Abs. 6 BWahlG. Bei welchen Parteien nicht ausgeglichene Überhangmandate entstehen, entscheidet sich erst im Rahmen dieser zweiten Verteilung. Der Zuordnung der unausgeglichenen Überhangmandate zu den jeweiligen Landeslisten kommt schließlich Relevanz im Falle des Nachrückens für ausscheidende Abgeordnete nach § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG zu (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 25, 31, 34, 36).

107(c) Auch die genetische Auslegung bestätigt, dass gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bei der Sitzzahlerhöhung bis zu drei Quasi-Überhangmandate insgesamt hinzunehmen sind.

108(aa) In der Begründung des Gesetzentwurfs wird zu § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG ausgeführt (BTDrucks 19/22504, S. 8 f.; ähnlich auch S. 6): "Die erhöhte Gesamtsitzzahl fällt […] im Ergebnis um so viele Sitze zu niedrig für eine vollständige Anrechnung aller Wahlkreismandate aus, dass bei der endgültigen Verteilung nach Absatz 6 im Ergebnis bis zu drei Überhangmandate entstehen". Dies setzt voraus, dass auch im Rahmen der der zweiten Verteilung vorgeschalteten Erhöhung nach § 6 Abs. 5 BWahlG nur bis zu drei Quasi-Überhangmandate insgesamt nicht berücksichtigt werden.

109(bb) Von dieser Auslegung sind auch die Sachverständigen im Rahmen der Anhörung vor dem Ausschuss für Inneres und Heimat ausgegangen. Trotz zum Teil geäußerter Bedenken, dass das Tatbestandsmerkmal "bis zu einer Zahl von drei" in § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG unterschiedlich verstanden werden könne (vgl. Behnke, BTAusschussdrucks 19<4>584 D, S. 8 f.; Schönberger, BTAusschussdrucks 19<4>584 B, S. 5), haben sie im Ergebnis einhellig ausgeführt, dass insbesondere die Begründung des Gesetzentwurfs dafür spreche, dass bis zu drei Quasi-Überhangmandate insgesamt bei der Sitzzahlerhöhung hinzunehmen seien (vgl. Behnke, BTAusschussdrucks 19<4>58 D, S. 8; Schönberger, BTAusschussdrucks 19<4>584 B, S. 5; Pukelsheim, BTAusschussdrucks 19<4>584 A neu, S. 2 sowie Anlage 4; Vehrkamp, BTAusschussdrucks 19<4>584 C, S. 3, 4 f.; Vosgerau, BTAusschussdrucks 19<4>584 F, S. 2; Grzeszick, BTAusschussdrucks 19<4>584 E, S. 6).

110(cc) Die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat bestätigt, dass der Änderung von § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG diese Vorstellung zugrunde lag (vgl. BTDrucks 19/23187, S. 6, 7, 8). Auch wenn angemerkt wurde, dass eine klarere Formulierung wünschenswert gewesen wäre, wurde eindeutig von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten insgesamt ausgegangen (vgl. BTDrucks 19/23187, S. 7).

111(dd) Schließlich belegen zahlreiche Beiträge in der parlamentarischen Debatte diese Regelungskonzeption des Gesetzgebers (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/177, S. 22326; 19/183, S. 23042, 23048, 23051). Dass dort auch andere Auffassungen vertreten wurden (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/177, S. 22327, 22328; 19/183, S. 23044), steht dem nicht entgegen. Für die Frage nach Regelungskonzeption und Zweck eines Gesetzes kommt den Gesetzesmaterialien, in denen sich regelmäßig die im Verfahren als wesentlich erachteten Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen finden, zwar eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu (vgl. BVerfGE 149, 126 <154 f. Rn. 74> m.w.N.; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom - 2 BvE 1/17 -, Rn. 45 - Organstreit Finanzierungsausschluss NPD). Nicht entscheidend sind dabei aber die subjektiven Vorstellungen einzelner Mitglieder der beteiligten Organe (vgl. BVerfGE 157, 223 <263 f. Rn. 106> m.w.N. - Berliner Mietendeckel; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom - 2 BvE 1/17 -, Rn. 45). Bei der ausschließlich von Abgeordneten der damaligen Oppositionsfraktionen geäußerten Auffassung, dass sich die Formulierung "bis zu einer Zahl von drei" in § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG auch auf jede einzelne Landesliste beziehen könne (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/177, S. 22327, 22328; 19/183, S. 23044), handelt es sich um eine solche subjektive Bewertung einzelner Abgeordneter der Parlamentsminderheit.

112(d) Des Weiteren sprechen Sinn und Zweck der Regelung für das gefundene Auslegungsergebnis. Ziel des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom ist es nach der Entwurfsbegründung, einer stetigen Erhöhung der Sitzzahl des Deutschen Bundestages durch Vollausgleich von Überhangmandaten zu begegnen, um dessen Arbeits- und Funktionsfähigkeit zu erhalten. Dieses Ziel soll erreicht werden, indem ausgehend vom System der personalisierten Verhältniswahl in begrenztem Umfang auf den Ausgleich von Überhangmandaten verzichtet und ein "angemessener Ausgleich zwischen dem Anliegen möglichst proportionaler Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Deutschen Bundestag und dem mit der Personalwahl verbundenen Belang uneingeschränkten Erhalts von Wahlkreismandaten" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angestrebt wird (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 6). Diesbezüglich hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass im System der personalisierten Verhältniswahl ein solcher Ausgleich dann noch als gewahrt angesehen werden kann, wenn die Zahl unausgeglichener Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten (vgl. § 10 Abs. 1 GO-BT) nicht überschreitet (vgl. BVerfGE 131, 316 <369>). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Gesetzentwurf darauf abzielt, zur Reduzierung der Bundestagsgröße unausgeglichene Überhangmandate nur unterhalb dieser Schwelle zuzulassen (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 6). Dies lässt sich mit der Auslegung, dass bei der Erhöhung der Bundestagsgröße gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bis zu drei Quasi-Überhangmandate insgesamt nicht berücksichtigt und damit im Rahmen der zweiten Verteilung zu echten Überhangmandaten werden, sicher erreichen. Anders wäre es, wenn bis zu drei Quasi-Überhangmandate pro Partei beziehungsweise pro Landesliste einer jeden Partei nicht berücksichtigt würden. In letzterem Fall ließe die Norm offensichtlich das Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zu, der den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl aufheben und Bedenken gegen deren Verfassungskonformität begründen würde (vgl. BVerfGE 131, 316 <368 ff.>); im ersteren Fall wäre dies jedenfalls nicht ausgeschlossen.

113(e) Vor diesem Hintergrund spricht auch das Gebot verfassungskonformer Auslegung für ein Verständnis von § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG im Sinne einer Nichtberücksichtigung von bis zu drei Quasi-Überhangmandaten insgesamt. Danach ist diejenige Auslegung der Norm vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht (vgl. BVerfGE 148, 69 <130 f. Rn. 150> m.w.N.). Selbst wenn vorliegend mehrere Auslegungsvarianten in Betracht kämen, spräche dies für eine Auslegung im dargestellten Sinn, da diese verlässlich ausschließt, dass Überhangmandate in einem Umfang entstehen können, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl missachtet (vgl. auch Behnke, BTAusschussdrucks 19<4>584 D, S. 8).

114(f) Schließlich spricht auch das Verständnis, das die Wahlorgane § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG in der Praxis zugrunde gelegt haben, für eine Bestimmung des Regelungsgehalts der Norm im Sinne einer Beschränkung auf drei unausgeglichene Quasi-Überhangmandate insgesamt.

115(aa) Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption einem Gesetz zugrunde liegt, kommt dem Verständnis der Vorschrift in der Praxis - zumal wenn es sich um ein einheitliches, über einen längeren Zeitraum unverändertes Verständnis handelt - eine gewisse Indizwirkung zu (vgl. BVerfGE 122, 248 <283 f.> [Sondervotum]; vgl. für die Berücksichtigung der Praxis bei der Auslegung von Wahlrechtsnormen BVerfGE 95, 335 <347 f.>; 121, 266 <309>). Soweit - wie vorliegend - zu beurteilen ist, ob ein Gesetz den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügt, die Normanwender in ihm mithin hinreichend steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden, liegt der Rückgriff auf deren Auslegungs- und Anwendungspraxis besonders nahe (vgl. zu Divergenzen in der Judikatur als Indiz für die Unbestimmtheit einer Norm BVerfGE 92, 1 <18>).

116(bb) Die Feststellung, wie viele Sitze auf die einzelnen Landeslisten entfallen und welche Bewerber gewählt sind, obliegt gemäß § 42 BWahlG in Verbindung mit § 78 Abs. 2 BWO dem Bundeswahlausschuss nach Prüfung der Wahlunterlagen durch den Bundeswahlleiter, der gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 BWahlG auch Vorsitzender des Bundeswahlausschusses ist. Bereits die von dem Bundeswahlleiter veröffentlichte Musterberechnung zur Sitzverteilung nach dem Fünfundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017 hat gezeigt, dass er § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG dahingehend auslegt, dass im Rahmen der Erhöhung der Sitzzahl des Deutschen Bundestages nach § 6 Abs. 5 BWahlG bis zu drei Quasi-Überhangmandate insgesamt unberücksichtigt bleiben (vgl. Bundeswahlleiter, Musterberechnung: Sitzverteilung nach dem 25. BWahlGÄndG mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017, 2020, S. 8). Auch der Ermittlung der Sitzverteilung für den 20. Deutschen Bundestag wurde diese Auslegung zugrunde gelegt (vgl. Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 421). Zweifel, ob die Norm auch anders verstanden werden könnte, hat der Bundeswahlleiter weder anlässlich dieser Berechnungen noch im Rahmen der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht.

117(3) Soweit § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG weiter bestimmt, dass die Quasi-Überhangmandate bei der Erhöhung "unberücksichtigt bleiben", genügt auch dies den dargelegten Bestimmtheitsanforderungen. Die Regelung sieht vor, dass bis zu drei Quasi-Überhangmandate bei der Berechnung der Sitzzahlerhöhung außer Betracht zu lassen und nicht lediglich - wie von den Antragstellerinnen und Antragstellern erörtert - von der gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG ermittelten Gesamtsitzzahl in Abzug zu bringen sind. Letzteres führte dazu, dass sich die Größe des Deutschen Bundestages im Vergleich zu seiner Sitzzahl bei einem Vollausgleich lediglich um maximal drei Sitze verringerte. Eine derart geringfügige Reduzierung des Anwachsens der Größe des Deutschen Bundestages trägt dem im Fünfundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers erkennbar nicht Rechnung.

118§ 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG normiert zudem ausdrücklich, dass Quasi-Überhangmandate "bei der Erhöhung" der Sitzzahlen bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt bleiben. Daraus folgt, dass diese Mandate bereits im Prozess der Berechnung der erhöhten Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG nicht in Ansatz zu bringen sind. Voraussetzungen und Grenzen des Erhöhungsprozesses ergeben sich aus § 6 Abs. 5 Satz 2 bis 4 BWahlG. Demnach endet die Erhöhung in dem Moment, in dem bei der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG jede Partei die ihr garantierten Mindestsitze (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 BWahlG) erhält und zugleich die Summe der verbleibenden Quasi-Überhangmandate nicht mehr als drei beträgt. Dass bis zu drei Quasi-Überhangmandate bei der Erhöhung "unberücksichtigt" bleiben, besagt folglich, dass sie in die Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages nicht einbezogen, mithin nicht ausgeglichen werden (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 25). Dieses Verständnis hat auch in der Begründung des Entwurfs zum Fünfundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom einen deutlichen Niederschlag gefunden (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 6, 8 f.) und entspricht der Vorgehensweise, die die im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zu der Gesetzesänderung angehörten Sachverständigen erläutert haben (vgl. Pukelsheim, BTAusschussdrucks 19<4>584 A neu, Anlage 5, S. 2, 6, 10, 14, 18; Behnke, BTAusschussdrucks 19<4>584 D, S. 7).

119dd) Schließlich ist § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG ein hinreichend bestimmter Normbefehl zu entnehmen. Demnach erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze im Sinne von § 1 Abs. 1 BWahlG um die "Unterschiedszahl". Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller rügen, aus dem Wortlaut ergebe sich nicht, welche Unterschiedszahl gemeint sei, überzeugt dies nicht. Ernstliche Zweifel, dass der Begriff der "Unterschiedszahl" in § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG die Differenz zwischen der gesetzlichen Regelgröße des Deutschen Bundestages einerseits und der erhöhten Mandatszahl aufgrund der Sitzzahlerhöhung andererseits bezeichnet, bestehen nicht. § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG soll sicherstellen, dass sich die Gesamtgröße des Deutschen Bundestages um die Zahl erhöht, die erforderlich ist, um den Parteien bei der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 BWahlG sämtliche, sich aus § 6 Abs. 5 Satz 1 bis 4 BWahlG ergebenden Sitze zuweisen zu können. Diese Zahl wird in § 6 Abs. 5 Satz 5 BWahlG mit dem Begriff der "Unterschiedszahl" bezeichnet.

120b) Auch die Regelung der zweiten (tatsächlichen) Sitzzuteilung in § 6 Abs. 6 BWahlG genügt bei methodengerechter Auslegung den Bestimmtheitsanforderungen.

121aa) Dies gilt zunächst für § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG. Danach werden die nach Absatz 5 zu vergebenden Sitze bundesweit nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG beschriebenen Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers auf die nach § 6 Abs. 3 BWahlG zu berücksichtigenden Parteien verteilt. Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller geltend machen, dabei sei unklar, was mit den "nach § 6 Abs. 5 BWahlG zu vergebenden Sitze[n]" gemeint sei, ist dem nicht zu folgen. Sie räumen selbst zutreffend ein, dass damit die erhöhte Sitzzahl ohne Überhangmandate bezeichnet sein dürfte.

122§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG regelt im Rahmen der zweiten (tatsächlichen) Mandatszuteilung die bundesweite Verteilung der nach § 6 Abs. 5 BWahlG zu vergebenden Sitze auf die nach § 6 Abs. 3 BWahlG zu berücksichtigenden Parteien und bestimmt, dass diese nach der Zahl der Zweitstimmen erfolgt. Da aufgrund § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG im Rahmen der Sitzzahlerhöhung kein vollständiger Ausgleich von Quasi-Überhangmandaten stattfindet, sondern bis zu drei Quasi-Überhangmandate nicht ausgeglichen werden, kann es sich bei der nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG proportional nach dem Zweitstimmenergebnis auf die Parteien zu verteilenden Sitzzahl nur um die nach § 6 Abs. 5 Satz 1 bis 4 BWahlG ermittelte Sitzzahl (ohne die drei unausgeglichenen Überhangmandate) handeln (vgl. auch Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 30 f.). Dies wird durch § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG bestätigt. Danach verbleiben den Parteien die in den Wahlkreisen errungenen Sitze auch dann, wenn sie die nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG ermittelte Zahl übersteigen. Ein dahingehender Regelungsbedarf besteht aber nur, wenn bei der Berechnung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG unausgeglichene Überhangmandate nicht berücksichtigt werden. Dem entspricht die Anwendung der Norm durch den Bundeswahlleiter (vgl. Bundeswahlleiter, Musterberechnung: Sitzverteilung nach dem 25. BWahlGÄndG mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017, 2020, S. 8 f.; ders., Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 421 f., 451).

123bb) (1) Soweit § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG sodann bestimmt, dass in den Parteien die Sitze nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen in dem in § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG beschriebenen Berechnungsverfahren auf die Landeslisten verteilt werden, ist - anders als in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG - die Zahl der Sitze inklusive möglicher unausgeglichener Überhangmandate zugrunde zu legen (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 31 f.; Pukelsheim/Bischof, DVBl 2021, S. 417 <421>). Dies folgt aus § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG, wonach bei der Unterverteilung auf die Landeslisten der Parteien jeder Landesliste mindestens die nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG für sie ermittelte Sitzzahl zugeteilt wird. Diese Mindestsitze sichern sämtliche Direktmandate, und zwar auch dann, wenn diese den Zweitstimmenanteil trotz Sitzzahlerhöhung übersteigen (vgl. Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 422; ders., Musterberechnung: Sitzverteilung nach dem 25. BWahlGÄndG mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017, 2020, S. 9; Grzeszick, BTAusschussdrucks 19<4>584 E, S. 9 f.). Demgemäß werden nach § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG insgesamt bis zu drei Sitze mehr an die Landeslisten verteilt als im Rahmen der Oberverteilung auf die Parteien nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 32).

124(2) Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller einen Wechsel der Bezugsgröße in Satz 1 und 2 des § 6 Abs. 6 BWahlG rügen, der im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut stehe, scheinen sie davon auszugehen, dass durch die Formulierung "die Sitze" in § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG die Sitzzahl des § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG in Bezug genommen sei (vgl. auch Pukelsheim/Bischof, DVBl 2021, S. 417 <421>). Dies ergibt sich aber aus dem Wortlaut der Norm nicht. § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG spricht von den "nach Absatz 5 zu vergebenden Sitzen". In § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG heißt es hingegen allgemein "die Sitze", nicht aber zum Beispiel "diese Sitze". Daher führt das alleinige Abstellen auf den Wortlaut nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Diskrepanz der Sitzzahlen nach § 6 Abs. 6 Satz 1 und § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG ist nach Systematik und Telos der Regelung gerade intendiert (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 31 f.). Sie dient der Umsetzung der gesetzgeberischen Grundentscheidung, bis zu drei ausgleichslose Überhangmandate zuzulassen. Dazu ist für die Oberverteilung auf die Parteien allein auf die Sitze abzustellen, die proportional zu verteilen sind. Die anschließende Unterverteilung auf die Landeslisten der jeweiligen Partei muss hingegen auch die Sitze berücksichtigen, die als ausgleichslose Überhangmandate zu Proporzverzerrungen führen, da andernfalls nicht alle von den Parteien gewonnenen Sitze umfasst wären.

125(3) Entgegen den Bedenken der Antragstellerinnen und Antragsteller ist § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG im Wege der Auslegung auch hinreichend bestimmt zu entnehmen, wie die Unterverteilung auf die Landeslisten zu erfolgen hat.

126(a) § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG regelt durch den Verweis auf das Berechnungsverfahren nach § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG zunächst, dass die Unterverteilung innerhalb der Parteien nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers stattfindet. Zugleich bestimmt § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG, dass jeder Landesliste mindestens die nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG für sie ermittelte Sitzzahl zugeteilt wird. In der Folge ist der Zuteilungsdivisor so zu bestimmen, dass die Landeslisten, bei denen nach der ersten Verteilung neben Direktmandaten (auch) Listenmandate anfallen, sämtliche Direktmandate und jedenfalls die Hälfte der nach Anrechnung dieser Direktmandate verbleibenden Listenmandate erhalten. Dafür ist der anfängliche Divisor, der durch Teilung der zu berücksichtigenden Zweitstimmen durch die Zahl der zu verteilenden Sitze bestimmt wird, iterativ zu verändern, bis diese Bedingung erfüllt ist (vgl. Bundeswahlleiter, Musterberechnung: Sitzverteilung nach dem 25. BWahlGÄndG mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017, 2020, S. 9; ders., Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 422, 453 ff.).

127(b) Diese Auslegung der Norm entspricht sowohl ihrem Sinn und Zweck als auch ihrer Entstehungsgeschichte. Die Mindestsitzzahlgarantie des § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 BWahlG ist darauf gerichtet, durch die vorrangige Verteilung von Sitzen an Landeslisten mit Direktmandaten eine länderübergreifende Kompensation von Quasi-Überhangmandaten einer Partei zu ermöglichen und dadurch die Sitzansprüche bei Überhängen zu reduzieren, zugleich aber zu verhindern, dass einer Landesliste gar keine beziehungsweise weniger Sitze zugeteilt werden, als ihr nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG zustehen (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 6 f.; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 28, 32). Um dies zu erreichen, bestimmt § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG eine zusätzliche Bedingung für die Wahl des Zuteilungsdivisors im Rahmen der Unterverteilung der Sitze auf die Landeslisten. Damit orientiert sich die Norm an der Technik der Vorgängerregelung, welche für die Unterverteilung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien ebenfalls das Divisorverfahren mit Standardrundung vorsah und als zusätzliche Bedingung formulierte, dass jede Landesliste mindestens die Zahl der in den Wahlkreisen des Landes von der Partei errungenen Sitze erhalten sollte (§ 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG 2013). Auch nach der Vorgängerregelung musste bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung der Divisor so gewählt werden, dass die Partei die ihr zustehende Zahl an Sitzen und zusätzlich jede Landesliste mindestens so viele Sitze erhielt, wie sie Wahlkreise gewonnen hatte (vgl. Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 6 Rn. 26c).

128cc) Schließlich genügen auch § 6 Abs. 6 Satz 3 und 4 BWahlG im Ergebnis den Bestimmtheitsanforderungen.

129(1) Gemäß § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG ist von der nach § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG für jede Landesliste einer Partei ermittelten Gesamtzahl der Sitze die Anzahl der von ihr in dem jeweiligen Land erzielten Direktmandate abzuziehen. Die Norm ordnet mithin die für die personalisierte Verhältniswahl typusbestimmende Anrechnung der Direktmandate auf die Ergebnisse der Verhältniswahl an (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 33). Zweifel hinsichtlich ihrer Bestimmtheit bestehen nicht.

130(2) Sodann bestimmt § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG, dass die in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei auch dann verbleiben, wenn sie die nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG ermittelte Zahl übersteigen. Dies ist bei methodengerechter Auslegung dahingehend zu verstehen, dass die von einer Partei in den Wahlkreisen eines Landes errungenen Direktmandate ihr auch dann verbleiben, wenn sie die Zahl der Mandate übersteigen, die der entsprechenden Landesliste unter Zugrundelegung der erhöhten Gesamtsitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG) ohne Berücksichtigung der Landesmindestsitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG) zustehen.

131(a) Zwar ließe sich § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG allein nach seinem Wortlaut aufgrund der Bezugnahme auf die bundesweite Oberverteilung der Sitze auf die Parteien gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG auch dahingehend verstehen, dass nur Fälle erfasst sind, in denen die Zahl der Direktmandate, die eine Partei bundesweit errungen hat, die Zahl der Sitze übersteigt, die der Partei nach ihrem bundesweiten Zweitstimmenergebnis unter Berücksichtigung der Sitzzahlerhöhung zustehen.

132(b) Der Rückgriff auf die übrigen Auslegungsmethoden zeigt jedoch, dass im Rahmen von § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG keine bundesweite, sondern eine landeslistenbezogene Betrachtung vorzunehmen ist.

133(aa) Dafür spricht zunächst die systematische Auslegung. § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG schließt unmittelbar an § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG an, nach dem von der für jede Landesliste ermittelten Sitzzahl die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze abgerechnet werden. § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG nimmt die Anrechnung der Direktmandate auf die Listenmandate einer Partei folglich bezogen auf die einzelnen Landeslisten vor. § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG will in unmittelbarem Zusammenhang damit sicherstellen, dass die in den Wahlkreisen eines Landes errungenen Direktmandate der Partei auch dann verbleiben, wenn diese Anrechnung nicht vollständig möglich ist (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 25). Auch § 6 Abs. 6 Satz 5 BWahlG spricht für ein landeslistenbezogenes Verständnis von § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG, indem er bestimmt, dass sich in diesem Fall die Gesamtzahl der Sitze im Sinne von § 1 Abs. 1 BWahlG um die Unterschiedszahl erhöht und eine erneute Berechnung nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG nicht stattfindet. Mit der Formulierung "in diesem Fall" knüpft er unmittelbar daran an, dass eine Differenz im Sinne von § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG vorliegt. Es geht § 6 Abs. 6 Satz 5 BWahlG mithin darum, dass die bei der Sitzzahlerhöhung gemäß § 6 Abs. 5 BWahlG nicht berücksichtigten bis zu drei Quasi-Überhangmandate tatsächlich zu Überhangmandaten werden und die Gesamtzahl der Sitze entsprechend ansteigt (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 34 f.). Dies lässt sich aber nur erreichen, wenn die in § 6 Abs. 6 Satz 5 BWahlG genannte "Unterschiedszahl" nicht lediglich den Fall einer bundesweiten Differenz zwischen Direktmandaten und Listenmandaten einer Partei bezeichnet, sondern die Differenz zwischen den Sitzzahlen, die der jeweiligen Landesliste nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG zustehen, und der Zahl der von der entsprechenden Partei in dem Land darüber hinausgehend errungenen Direktmandate.

134(bb) Auch die genetische und die teleologische Auslegung sprechen für das dargelegte Verständnis von § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG.

135Zum einen knüpft die Formulierung des § 6 Abs. 6 Satz 3 bis 5 BWahlG erkennbar an entsprechende Regelungen in früheren Bundeswahlgesetzen an. Schon § 6 BWahlG 1956 (BGBl I S. 383) bestimmte:

(2) Von der für jede Landesliste so ermittelten Abgeordnetenzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze abgerechnet. […]

(3) In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach Absatz 1 ermittelte Zahl [der Sitze, die der jeweiligen Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen] übersteigen. In einem solchen Fall erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze […] um die Unterschiedszahl; eine erneute Berechnung nach Absatz 1 findet nicht statt.

136Zum anderen soll durch § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Zuteilung der gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG aus dem Ausgleich ausgenommenen bis zu drei Überhangmandate garantiert werden (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 9). Dies setzt voraus, dass § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG nicht lediglich den Fall einer bundesweiten Differenz von Direkt- und Listenmandaten einer Partei erfasst, sondern auch solche Überhangkonstellationen, die auf einer Differenz von Direkt- und Listenmandaten einer Partei in einem Land beruhen.

137(c) Zuzugestehen ist dabei, dass § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG in seinem Regelungsgehalt nicht über § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG hinausgeht. Durch die dortige Regelung, wonach jeder Landesliste mindestens die nach § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG für sie ermittelte Sitzzahl zugeteilt wird, ist gewährleistet, dass jeder Partei sämtliche Direktmandate unabhängig davon zugeteilt werden, ob deren Zahl die der Partei bundesweit zugeteilte Zahl an Sitzen gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG übersteigt. Weitergehende Gewährleistungen enthält § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG nicht. Dies führt jedoch nicht zu einer anderen möglichen Auslegung der Regelung und demzufolge nicht zur Unbestimmtheit.

138c) Davon ausgehend genügt auch § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Die Regelung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit § 48 Abs. 1 Satz 1 BWahlG. Danach wird, wenn ein gewählter Bewerber stirbt oder dem Landeswahlleiter schriftlich die Ablehnung des Erwerbs der Mitgliedschaft erklärt oder wenn ein Abgeordneter stirbt oder sonst nachträglich aus dem Deutschen Bundestag ausscheidet, der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die der gewählte Bewerber oder ausgeschiedene Abgeordnete bei der Wahl angetreten ist. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gilt dies nicht, solange die Partei in dem betreffenden Land Mandate gemäß § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG innehat. Die Regelung schließt die Listennachfolge in unausgeglichene Überhangmandate aus. Entgegen den Bedenken der Antragstellerinnen und Antragsteller ist dabei § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG hinreichend deutlich zu entnehmen, wann eine solche Überhangsituation vorliegt (aa) und in welchem Land sie besteht (bb).

139aa) (1) § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nimmt hinsichtlich des Ausschlusses der Listennachfolge ausdrücklich auf Mandate im Sinne von § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG Bezug. Dies sind auf der Grundlage der vorstehenden Auslegung der Norm die von einer Partei in den Wahlkreisen eines Landes errungenen Sitze, die die Zahl der Sitze übersteigen, die der entsprechenden Landesliste der Partei unter Zugrundelegung der erhöhten Gesamtsitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG) ohne Berücksichtigung der Landesmindestsitzzahl (§ 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG) zustehen. Im Ergebnis sind dies die unausgeglichenen Überhangmandate.

140(2) Dies entspricht auch der genetischen sowie teleologischen Auslegung von § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG. Die Begründung des Gesetzentwurfs stellt darauf ab, dass zukünftig wieder bis zu drei (echte) Überhangmandate auftreten können. Dadurch werde die in § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG 2008 getroffene Regelung erneut erforderlich. Sie führe dazu, dass die Nachbesetzung aus der Landesliste nicht zur Anwendung gelange, wenn der Abgeordnete aus einem Land komme, in dem die betroffene Partei über unausgeglichene Überhangmandate im Sinne des § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG verfüge (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 9). Folglich ist § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG 2008 darauf gerichtet, die Vorgaben des (BVerfGE 97, 317) umzusetzen. Danach kommt bei dem Ausscheiden eines Wahlkreisabgeordneten aus dem Bundestag eine Listennachfolge nicht in Betracht, solange die Partei in dem betroffenen Land über mehr Direktmandate verfügt, als ihr Listensitze zustehen (vgl. BVerfGE 97, 317 <322 ff.>). Der Gesetzgeber verfolgt mit § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG erkennbar den Zweck, entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Nachrücken aus der Landesliste auszuschließen, solange in dem Land ein unausgeglichener Überhang an Wahlkreismandaten gegenüber den der Landesliste nach Zweitstimmen zustehenden Sitzen besteht (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 36).

141bb) Entgegen den Bedenken der Antragstellerinnen und Antragsteller ergibt die Auslegung von § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG auch hinreichend bestimmt, welcher Landesliste die bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandate zuzuordnen sind. Dem steht nicht entgegen, dass der Wortlaut der Norm dem Rechtsanwender hierfür keine Kriterien an die Hand gibt. Ungeachtet dessen ist nach der Gesamtkonzeption der Regelung davon auszugehen, dass die unausgeglichenen Überhangmandate den Landeslisten einer Partei dadurch zugeordnet werden, dass die Zahl der Sitze, die einer Partei nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG bundesweit zustehen, mit der Zahl der Sitze verglichen wird, die ihren Landeslisten nach § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG zufallen. Ein Überhangmandat liegt bei den Landeslisten vor, bei denen nur aufgrund der Mindestsitzzahlgarantie nach § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG alle Wahlkreismandate erhalten bleiben (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 36).

142(1) Für dieses Normverständnis spricht zunächst die genetische Auslegung.

143Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens hat der Sachverständige Grzeszick für die Zuordnung der Überhangmandate auf die Landeslisten eine entsprechende Vergleichsrechnung vorgeschlagen. Demnach entstünden die unausgeglichenen Überhangmandate bei den Landeslisten, bei denen nach Verteilung der Sitze nach § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 1 BWahlG weniger Sitze anfielen als gemäß § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG (vgl. Grzeszick, BTAusschussdrucks 19<4>584 E, S. 9 f.). Soweit die Antragstellerinnen und Antragsteller diesen Vorschlag für unklar halten, weil er zwei verschiedene Rechenwege zulasse, überzeugt dies nicht. Der Sachverständige hat in der Anhörung keinen Zweifel daran gelassen, wie die von ihm vorgeschlagene Vergleichsrechnung durchzuführen sei (vgl. Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll Nr. 19/100, S. 28 f.). Darüber hinaus lässt die von den Antragstellerinnen und Antragstellern alternativ erwogene Zuordnung der Überhangmandate zu den Landeslisten nach dem Durchschnitt von Zweitstimmen pro Sitz außer Betracht, dass im Rahmen der zweiten Verteilung die Unterverteilung auf die Landeslisten nicht streng proportional nach Zweitstimmen erfolgt, sondern unter Berücksichtigung garantierter Mindestsitzzahlen.

144Der Vorschlag des Sachverständigen ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren aufgegriffen worden. So verweist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Begründung der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Inneres und Heimat darauf, dass für die Zuordnung der Überhangmandate zu einer Landesliste im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG eine "am Normzweck ausgerichtete Vergleichsberechnung" durchzuführen sei; dafür sei bei einer Partei mit Überhangmandaten die Sitzzahl fiktiv so lange zu erhöhen, bis alle Mindestsitzansprüche dem Zweitstimmenergebnis bis auf die Anzahl der Überhangmandate entsprächen (vgl. BTDrucks 19/23187, S. 6). Abweichende Stellungnahmen zum Verfahren der Zuordnung von Überhangmandaten zu den Landeslisten im Rahmen von § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG sind weder der Beschlussempfehlung noch den Äußerungen in der parlamentarischen Debatte zu entnehmen (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/177, S. 22326 ff.; 19/183, S. 23041 ff.). Dies spricht dafür, dass es sich bei der Begründung der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Inneres und Heimat durch die CDU/CSU-Fraktion, die den Gesetzentwurf mit eingebracht hat, um Ausführungen von maßgeblich am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten handelt, denen bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens eine nicht unerhebliche Indizwirkung zukommt (vgl. BVerfGE 149, 126 <154 f. Rn. 74> m.w.N.).

145Dem steht nicht entgegen, dass der Sachverständige Pukelsheim in der Anhörung vor dem Ausschuss für Inneres und Heimat die Auffassung vertreten hat, gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG finde keine Listennachfolge statt, wenn der ausgeschiedene Abgeordnete aus einem Land komme, in dem in der ersten Verteilung Quasi-Überhangmandate angefallen seien (vgl. Pukelsheim, BTAusschussdrucks 19<4>584 A neu, Anlage 4, Fn. 1). Dieser Vorschlag, der im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht aufgegriffen wurde, lässt außer Betracht, dass es sich bei den Quasi-Überhangmandaten um eine rein rechnerische Größe handelt und sie zudem im Rahmen der Sitzzahlerhöhung weitgehend ausgeglichen werden. Tatsächlich entstehen Überhangmandate erst im Rahmen der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 BWahlG. Nur insoweit ist aber eine Listennachfolge nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeschlossen. Eine Auslegung, welche für § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG darauf abstellte, ob in einem Land im Rahmen der ersten Verteilung Quasi-Überhangmandate angefallen sind, dehnte den Kreis der von einer Listennachfolge ausgeschlossenen Landeslisten systemwidrig aus.

146(2) Auch das konkrete Berechnungsverfahren zur Bestimmung der Länder, in denen unausgeglichene Überhangmandate auftreten und eine Listennachfolge gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG daher ausgeschlossen ist, ergibt sich im Wege der systematischen Auslegung. § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der zweiten Verteilung gemäß § 6 Abs. 6 BWahlG, in der die Sitze zunächst bundesweit auf die Parteien (Satz 1) und sodann in den Parteien auf die Landeslisten (Satz 2) verteilt werden. Für beide Verteilungen wird auf das Divisorverfahren mit Standardrundung verwiesen, welches in § 6 Abs. 2 Satz 2 bis 7 BWahlG geregelt ist. Dies spricht dafür, dieses Verfahren auch für die Bestimmung der von einer Listennachfolge ausgeschlossenen Länder nach § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG zur Anwendung zu bringen, indem die auf diesem Wege ermittelten Sitzzahlen nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG einerseits und § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG andererseits verglichen werden.

147(3) Dieses Auslegungsergebnis entspricht auch Sinn und Zweck der Regelung. § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG soll sicherstellen, dass entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Nachrücken in den Überhang nicht stattfindet (vgl. BVerfGE 97, 317). Demgemäß ist es erforderlich, aber auch ausreichend, die Listennachfolge so lange auszuschließen, wie die betroffene Partei in dem jeweiligen Land über mindestens eines der insgesamt bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandate verfügt, die im Rahmen der zweiten Verteilung auftreten können.

148(4) Schließlich spricht auch die Anwendung der Norm durch die Wahlorgane für das gefundene Auslegungsergebnis. Nach deren Praxis erfolgt die Feststellung, auf welche Landeslisten die bis zu drei Überhangmandate entfallen, dadurch, dass für jede Landesliste mit drohendem Überhang die Zweitstimmen durch die Mindestsitzzahl abzüglich 0,5 beziehungsweise bei zwei oder drei verbleibenden Überhängen zusätzlich durch die Mindestsitzzahl abzüglich 1,5 und 2,5 dividiert werden. Bei den bis zu drei Landeslisten mit dem kleinsten Quotienten verbleibt der Überhang (vgl. Bundeswahlleiter, Musterberechnung: Sitzverteilung nach dem 25. BWahlGÄndG mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017, 2020, S. 15; ders., Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am , Heft 3, S. 432; soweit der Bundeswahlleiter jeweils von der zweiten Unterverteilung auf die Landeslisten "gemäß § 6 Absatz 2 Satz 2 BWG" spricht, handelt es sich erkennbar um ein Versehen). Die Bundeswahlleiterin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar ausgeführt, dass es nach Inkrafttreten des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom keine Zweifel gegeben habe, dass für die Zuordnung der Überhangmandate zu einer konkreten Landesliste das beschriebene Verfahren anzuwenden sei.

149d) Eine andere verfassungsrechtliche Bewertung folgt auch nicht daraus, dass wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger allein auf Grundlage des Gesetzestextes ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen nicht in der Lage sein dürften, die Regelungen der § 6 Abs. 5 und 6, § 48 BWahlG im Einzelnen zu erfassen.

150aa) Besondere, über die Bestimmtheit der Norm hinausgehende Klarheitsanforderungen ergeben sich nicht aus ihrem Adressatenkreis. Die §§ 6, 48 BWahlG sind primär an die Wahlorgane als Rechtsanwender gerichtet, nicht hingegen unmittelbar an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger. Diesen wird durch die Vorschriften weder ein bestimmtes Verhalten abverlangt noch sind sie in sonstiger Weise belastenden Maßnahmen ausgesetzt. Vielmehr geben §§ 6, 48 BWahlG den Wahlorganen, die mit der Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses betraut sind (§§ 37 ff. BWahlG, §§ 67 ff. BWO), vor, wie aufgrund der abgegebenen Stimmen zu berechnen ist, wie viele Sitze auf die einzelnen Landeslisten entfallen und welche Bewerberinnen und Bewerber gewählt sind. Eigenständige Regelungsspielräume verbleiben den Wahlorganen dabei nicht.

151bb) Das Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze verlangt darüber hinaus nur das Maß an Bestimmtheit und Klarheit, welches nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (vgl. BVerfGE 49, 168 <181>; 59, 104 <114>; 78, 205 <212>; 103, 332 <384>; 134, 141 <184 Rn. 126>; 145, 20 <69 f. Rn. 125>; 149, 293 <323 Rn. 77>; stRspr). Deshalb ist es hinnehmbar, eine Norm zur Ergebnisermittlung so zu fassen, dass die damit betrauten Wahlorgane sie bei methodengerechter Auslegung ordnungsgemäß anwenden können, wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sie aber in der Regel nicht allein aufgrund des Normtextes, sondern erst unter Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen im Einzelnen erfassen können.

152(1) Die Regelung des § 6 BWahlG, die das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahl des Deutschen Bundestages betrifft, muss der Entscheidung des Gesetzgebers zum Wahlsystem Rechnung tragen. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG hat der Gesetzgeber sich in verfassungskonformer Weise (vgl. BVerfGE 6, 84 <90>; 6, 104 <111>; 95, 335 <349 f.>; 121, 266 <296>) für eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl entschieden. In einem solchen Wahlsystem ist ein gewisses Maß an Komplexität des Sitzzuteilungsverfahrens nicht zu vermeiden (vgl. Lang, Wahlrecht und Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 79). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber sich für einen Ausgleich von Überhangmandaten entschieden hat und deshalb die Sitzzahl des Deutschen Bundestages nicht als absolute Größe im Gesetz festgelegt ist. Vielmehr muss auch die Berechnung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages gesetzlich beschrieben werden. Eine weitere Erhöhung der Komplexität ergibt sich aus der Entscheidung des Gesetzgebers, hierbei auch föderale Gesichtspunkte zu berücksichtigen, mithin die Berechnungsschritte sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene anzusiedeln. Die Entscheidung des Gesetzgebers, das Element der Personenwahl bei der Bundestagswahl zu stärken sowie die Vergrößerung des Bundestages zu begrenzen und dies nicht nur mithilfe eines, sondern zweier Instrumente zu bewirken, steigert die Komplexität erneut. Gleichwohl müssen die Vorschriften des Sitzzuteilungsverfahrens die Wahlorgane hinreichend bestimmt anleiten, was potenziell zulasten der Allgemeinverständlichkeit gehen kann (vgl. Lang, Wahlrecht und Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 79; vgl. grundsätzlich zu diesem Zielkonflikt Towfigh, Der Staat 48 <2009>, S. 36 f., 71 f.).

153(2) Das Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze führt nicht dazu, dass der Gesetzgeber in seinem Spielraum gemäß Art. 38 Abs. 3 GG zur Auswahl des Wahlsystems (vgl. BVerfGE 95, 335 <349>) eingeschränkt wäre. Es verpflichtet ihn nicht, das Bundestagswahlrecht in der Sache möglichst einfach zu konzipieren, um es im Gesetz dann auch einfach darstellen zu können. Insbesondere ist der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Bestimmtheit und Normenklarheit nicht daran gehindert, sich - wie geschehen - für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit zwei Stimmen, für die grundsätzliche Verrechnung von Wahlkreismandaten mit den von der jeweiligen Partei gewonnenen Listenmandaten, für die Garantie des über die Erststimme gewonnenen Wahlkreismandats, für den grundsätzlichen Ausgleich nicht durch Listenmandate gedeckter Wahlkreismandate und für eine Begrenzung des Anwachsens des Bundestages mit den Mitteln dreier nicht ausgeglichener Überhangmandate sowie einer begrenzten länderübergreifenden Verrechnung von Direktmandaten zu entscheiden. Angesichts der hohen Komplexität des vom Gesetzgeber gemäß Art. 38 Abs. 3 GG festgelegten Wahlsystems sind die darauf bezogenen Vorschriften notwendigerweise kompliziert. Eine verfassungsrechtliche Anforderung, das bestimmte (vgl. Rn. 86 ff.) Sitzzuteilungsverfahren klarer zu fassen, könnte daher allein auf eine andere Formulierung, nicht aber - wie das Sondervotum meint (vgl. dort Rn. 20) - auf den Inhalt der Wahlrechtsregelung gerichtet sein. Auch wenn verständlichere Gesetzesfassungen uneingeschränkt wünschenswert sind, führt eine unzureichende Umsetzung dieses Anliegens nicht zu einem Verfassungsverstoß.

154cc) Unabhängig davon ist (weiterhin) sichergestellt, dass sich die Wählerinnen und Wähler über die grundsätzlichen Wirkungen ihres Stimmverhaltens für die Sitzberechnung und die Zuteilung der Mandate verlässlich informieren können. Insofern genügen §§ 6, 48 BWahlG in der hier verfahrensgegenständlichen Fassung auch den Anforderungen des Demokratieprinzips, aus dem sich ergibt, dass die Wahl im demokratischen Verfassungsstaat in besonderer Weise die Aufgabe erfüllt, als Integrationsvorgang des Volkes zu wirken (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 71, 81 <97>; 95, 408 <419>). Diese Integrationsfunktion vermag der Wahlvorgang nur zu erfüllen, wenn für die Wählerinnen und Wähler in groben Zügen erkennbar und verständlich ist, wie die einzelne Wählerstimme in Mandate umgerechnet wird. Die Fassung der Norm gefährdet diese Integrationsfunktion der Wahl jedoch nicht.

155(1) Der Wortlaut der §§ 6, 48 BWahlG mag zwar für interessierte Wählerinnen und Wähler nicht ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen klar verständlich sein. Jedoch enthält er keine den wahren Regelungsgehalt verschleiernde Formulierungen. Ihm lassen sich vielmehr durchaus wesentliche Informationen entnehmen, so etwa in § 6 Abs. 1 Satz 1 BWahlG (Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nach Zweitstimmen), in § 6 Abs. 6 Satz 3 und 4 BWahlG (Verrechnung von Wahlkreismandaten mit Listenmandaten unter Garantie der Wahlkreismandate) und in § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG (Hinnahme von bis zu drei nicht ausgeglichenen Überhangmandaten).

156(2) In den Blick zu nehmen sind zudem Normumfeld, Regelungsgeschichte und Verfassungswirklichkeit.

157Das Bundeswahlgesetz in der Fassung des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom benennt - etwa in § 1 ("mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl") oder § 4 ("zwei Stimmen") - wesentliche Elemente des Wahlrechtssystems, die in das Verständnis der Sitzberechnung und Mandatszuteilung einfließen. Überdies wurde mit der Vorschrift des Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG nicht etwa ein neues Wahlsystem etabliert. Sie nimmt lediglich begrenzte Korrekturen und Modifikationen an dem in der Bundesrepublik Deutschland seit langem bestehenden System eines personalisierten Verhältniswahlrechts vor. Dabei hat sie das zuvor etablierte Verfahren der Ausgleichsmandate und der damit verbundenen Vergrößerung des Bundestages grundsätzlich beibehalten und nur modifizierend weiterentwickelt. Wählerinnen und Wähler können daher auf Erfahrungen und Praxis vorangehender Wahlen auch für das Verständnis der Neuregelung zurückgreifen. Außerdem wurde die verfahrensgegenständliche Änderung politisch kontrovers diskutiert. In diesem Kontext wurden ausführliche Modellrechnungen angestellt, die der Bundeswahlleiter öffentlich zugänglich gemacht hat. Mit ihnen ist die Sitzberechnung und Mandatszuteilung auch im Einzelnen nachvollziehbar. Entgegen der Auffassung des Sondervotums (vgl. dort Rn. 17) entstehen hierdurch keine Spielräume der Norminterpretation, da die gesetzlichen Vorgaben bestimmt sein müssen und bestimmt sind.

II.

158Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie die Chancengleichheit der Parteien (1.) liegt nicht vor (2.).

1591. a) Gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert dabei die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürgerinnen und Bürger (vgl. BVerfGE 99, 1 <13>; 121, 266 <295>; 124, 1 <18>; 135, 259 <284 Rn. 44>; 146, 327 <349 Rn. 59>; stRspr). Als eine der wesentlichen Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 6, 84 <91>; 11, 351 <360>; 121, 266 <295>; 124, 1 <18>; 135, 259 <284 Rn. 44>; 146, 327 <349 Rn. 59>; stRspr) gebietet er, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist daher im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 51, 222 <234>; 78, 350 <357 f.>; 82, 322 <337>; 121, 266 <295>; 135, 259 <284 Rn. 44>; 146, 327 <349 f. Rn. 59>; stRspr).

160Aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wählerinnen und Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen können (vgl. BVerfGE 95, 335 <353, 369 f.>; 121, 266 <295>; 124, 1 <18>; 129, 300 <317 f.>; 131, 316 <337>; 146, 327 <350 Rn. 59>; stRspr). Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Volksvertretung haben muss (vgl. BVerfGE 16, 130 <139>; 95, 335 <353, 372>; 131, 316 <338>; 146, 327 <350 Rn. 59>; stRspr). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwert- und Erfolgschancengleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu, die verlangt, dass jede gültige Stimme mit gleichem Gewicht bewertet wird, ihr mithin ein anteilsmäßig gleicher Erfolg zukommt (vgl. BVerfGE 120, 82 <103>; 129, 300 <318>; 131, 316 <337 f.>; 135, 259 <284 Rn. 45>; 146, 327 <350 Rn. 59>; stRspr).

161Die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen bei der Verhältniswahl verlangt nicht, dass sich - bei einer ex-post-Betrachtung - ergibt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zu exakt gleichen Teilen zur Sitzzuteilung beigetragen hat. Die Ermittlung des Anteils, den eine Stimme an den Gesamtstimmen hat, und die verhältnismäßige Verteilung der zur Verfügung stehenden Sitze erfordern ein mathematisches Verfahren, das in keinem Fall zu dem Ergebnis führen kann, dass die vorhandenen Sitze genau dem ermittelten verhältnismäßigen Anteil jeder einzelnen Wählerstimme entsprechend verteilt sind. Soweit dieser Anteil sich nur als Bruchteil einer ganzen Zahl darstellt, kann er schon deshalb nicht auf die Sitzvergabe übertragen werden, weil es Bruchteile von Sitzen nicht gibt.

162b) Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert, dass die Wählerinnen und Wähler die Abgeordneten selbst auswählen. Er schließt jedes Wahlverfahren aus, bei dem zu den Wählerinnen und Wählern eine weitere Instanz hinzutritt, die nach ihrem eigenen Ermessen die Abgeordneten endgültig auswählt und damit deren direkte Wahl ausschließt (vgl. BVerfGE 7, 63 <68>; 7, 77 <84 f.>; 47, 253 <279 f.>). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl setzt demgemäß ein Wahlverfahren voraus, in dem die Wählerinnen und Wähler vor dem Wahlakt erkennen können, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirkt (vgl. BVerfGE 47, 253 <279 ff.>; 95, 335 <350>; 97, 317 <326>; 121, 266 <307>). Für den Grundsatz der Unmittelbarkeit ist nicht entscheidend, dass die Stimme tatsächlich die von den Wählerinnen und Wählern beabsichtigte Wirkung entfaltet. Ausreichend ist die Möglichkeit einer der Intention des jeweiligen Wählers entsprechenden positiven Beeinflussung des Wahlergebnisses (vgl. BVerfGE 121, 266 <307>).

163c) Um die verfassungsrechtlich gebotene Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Von dieser Einsicht her empfängt der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Verfassungsgrundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien das ihm eigene Gepräge (vgl. BVerfGE 148, 11 <24 Rn. 42>). Er beinhaltet, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden müssen. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wählerinnen und Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die auf die Chancen der Parteien im politischen Wettbewerb zurückwirkt, sind ihrem Ermessen besonders enge Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 120, 82 <104 f.>; 129, 300 <319>; 135, 259 <285 Rn. 48>; 146, 327 <350 Rn. 60>).

164d) Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus ihrem formalen Charakter, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Diese bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes. Das bedeutet nicht, dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können aber nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 120, 82 <106 f.>; 121, 266 <297>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>; 135, 259 <286 Rn. 51>; 146, 327 <351 Rn. 61>; 162, 207 <238 Rn. 92> - Äußerungsbefugnisse der Bundeskanzlerin; jeweils m.w.N.).

165Hierzu zählen Gründe, die sich aus der Natur der Wahl einer Volksvertretung ergeben, insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Solche stellen die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung dar (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 121, 266 <297 f.>; 129, 300 <320 f.>; 135, 259 <286 Rn. 52>; 146, 327 <351 Rn. 62>; jeweils m.w.N.). Auch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl, die darauf abzielt, dem Wähler im Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen, stellt einen Grund dar, der zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 7, 63 <74 f.>; 16, 130 <140>; 95, 335 <358 ff.>; 131, 316 <363, 365 ff.>).

166Es ist grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers, die verfolgten Zwecke mit dem Gebot der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien zum Ausgleich zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 51, 222 <237 f.>; 95, 408 <420>; 121, 266 <303 f.>; 131, 316 <338 f.>; 146, 327 <352 Rn. 63>). Es kann, sofern die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl oder der Chancengleichheit der Parteien nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Ziels Erforderlichen überschreitet (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 95, 408 <420>; 120, 82 <107>; 121, 266 <304>; 129, 300 <321>; 131, 316 <339>; 135, 259 <287 Rn. 53>; 146, 327 <352 f. Rn. 64>; 162, 207 <238 Rn. 92>).

167e) Dies ändert nichts daran, dass dem Gesetzgeber für Differenzierungen im Rahmen der Wahlgleichheit nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>; 129, 300 <322>; 135, 259 <289 Rn. 57>; 146, 327 <352 Rn. 63>). Da gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen von dem Ziel des eigenen Mandatserhalts leiten lässt, unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts hinsichtlich der Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben strikter verfassungsgerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerfGE 120, 22 <105>; 129, 300 <322 f.>; 130, 212 <229>; 135, 259 <287>). Das Gericht prüft daher in vollem Umfang, ob eine Regelung, die in die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien eingreift, durch einen Grund gerechtfertigt ist, der von der Verfassung legitimiert und von einem Gewicht ist, das den genannten Grundsätzen die Waage halten kann, sowie ob die getroffene Regelung zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich ist.

1682. Nach diesen Maßstäben verstößt das durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom modifizierte Sitzzuteilungsverfahren nicht gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien. Dies gilt, soweit es das Anfallen von Überhangmandaten ohne Ausgleich zulässt (a), ebenso wie mit Blick darauf, dass es eine teilweise Verrechnung von Direktmandaten, die eine Partei in einem Land errungen hat, mit Listenmandaten derselben Partei in einem anderen Land erlaubt (b). Verfassungsrechtlich relevante Effekte des negativen Stimmgewichts sind mit dem zur Überprüfung gestellten Sitzzuteilungsverfahren nicht verbunden (c).

169a) Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Bundestagswahl unbeschadet der Direktwahl der Wahlkreiskandidaten den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt (vgl. BVerfGE 6, 84 <90>; 16, 130 <139>; 95, 335 <357 f.>; 121, 266 <297>; 131, 316 <359>). Daran ist auch mit Blick auf die Neuregelung der Sitzverteilung durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom festzuhalten. Der gemäß § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG durchzuführende Verhältnisausgleich unterliegt daher uneingeschränkt den allgemeinen Anforderungen an Durchbrechungen des Gebots der Erfolgswertgleichheit im Verhältniswahlrecht (vgl. BVerfGE 1, 208 <246 f.>; 6, 84 <90>; 95, 335 <386>; 131, 316 <361>). Indem § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG die Zuteilung von bis zu drei Überhangmandaten ohne Ausgleich erlaubt, werden Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich behandelt und es wird in die Wahlgleichheit sowie die Chancengleichheit der Parteien eingegriffen (aa). Dies ist durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl, den Wählerinnen und Wählern im Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen, jedoch gerechtfertigt (bb).

170aa) (1) Mit dem Anfall von Überhangmandaten erhalten die abgegebenen Stimmen einen unterschiedlichen Erfolgswert. Aufgrund des durch die Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Listenmandate einer Partei herbeigeführten Verhältnisausgleichs kann grundsätzlich jeder Wähler nur einmal (mit seiner Zweitstimme) Einfluss auf die proportionale Zusammensetzung des Parlaments nehmen. Die Erststimme bleibt demgegenüber grundsätzlich ohne Auswirkung auf die Verteilung der Mandate auf die politischen Parteien (vgl. BVerfGE 79, 161 <167>; 131, 316 <362>). Fällt jedoch ein Überhang an, so tragen Wählerinnen und Wähler mit ihrer Erststimme zum Gewinn von Wahlkreismandaten bei, die nicht mehr mit Listenmandaten verrechnet werden können und die deshalb den auf der Grundlage des Zweitstimmenergebnisses ermittelten Proporz durchbrechen. Damit gewinnt neben der Zweitstimme auch die Erststimme Einfluss auf die politische Zusammensetzung des Bundestages. Da diese Wirkung nur bei denjenigen Wählerinnen und Wählern eintritt, die ihre Erststimme einem erfolgreichen Wahlkreisbewerber gegeben haben, dessen Partei in dem betreffenden Land einen Überhang erzielt, ist die Erfolgswertgleichheit beeinträchtigt. Zwar hat jeder Wähler gleichermaßen die Chance, zur Gruppe derjenigen zu gehören, deren Stimmen stärkeren Einfluss auf die politische Zusammensetzung des Parlaments nehmen. Jedoch ist - schon ex ante betrachtet - gerade nicht gewährleistet, dass alle Wählerinnen und Wähler durch ihre Stimmabgabe gleichen Einfluss auf die Sitzverteilung nehmen können (vgl. BVerfGE 131, 316 <362 f.>). Unausgeglichene Überhangmandate stellen daher einen Eingriff in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG dar.

171(2) Auch die Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG wird durch Überhangmandate beeinträchtigt. Sie ist nur gewahrt, wenn jede Partei, ungeachtet der den mit einem Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl unausweichlich verbundenen Rundungsabweichungen, annähernd dieselbe Stimmenzahl benötigt, um ein Mandat zu erringen. Bei einer Partei, die einen Überhang erzielt, entfallen jedoch auf jeden ihrer Sitze weniger Zweitstimmen als bei einer Partei, der dies nicht gelingt (vgl. BVerfGE 131, 316 <363> m.w.N.).

172(3) Die unterschiedliche Behandlung der Wählerstimmen in Fällen fehlender Anrechenbarkeit auf erlangte Listenmandate schlägt sich nach Maßgabe des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom in der Zusammensetzung des Parlaments nieder, weil ein vollständiger Ausgleich oder eine vollständige Verrechnung der überhängenden Mandate nicht mehr stattfindet. Im Rahmen der Erhöhung der Sitzzahl des Deutschen Bundestages gemäß § 6 Abs. 5 BWahlG bleiben in den Wahlkreisen errungene Sitze, die nicht nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG von der Zahl der für die Landesliste ermittelten Sitze abgerechnet werden können, bis zu einer Zahl von drei unberücksichtigt (§ 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG). In der Folge kann es dazu kommen, dass bis zu drei Wahlkreismandate nicht gemäß § 6 Abs. 6 Satz 3 BWahlG auf die für die jeweilige Landesliste derselben Partei ermittelte Sitzzahl angerechnet werden können. Das Gesetz bestimmt für diesen Fall, dass die Direktmandate der Partei verbleiben und sich die Gesamtzahl der Parlamentssitze um die Unterschiedszahl erhöht, ohne dass der Proporz wiederhergestellt wird (§ 6 Abs. 6 Satz 5 BWahlG).

173bb) Der mit der gesetzlich vorgesehenen Zuteilung von bis zu drei Überhangmandaten verbundene Eingriff in die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien ist mit Blick auf die in der Entscheidung des (BVerfGE 131, 316) entwickelten Maßstäbe (1) gerechtfertigt (2).

174(1) Die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen kann verfassungsrechtlich in begrenztem Umfang durch das besondere Anliegen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 131, 316 <365 ff.>). Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor Einführung der Ausgleichsmandate festgestellt.

175(a) Danach ist die Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl, die darin besteht, den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit zu geben, auch im Rahmen der Verhältniswahl Persönlichkeiten zu wählen, von der Verfassung gedeckt (vgl. BVerfGE 131, 316 <365>). Auf diese Weise möchte der Gesetzgeber die Verbindung zwischen den Wählerinnen und Wählern und den Abgeordneten stärken und zugleich in gewissem Umfang der dominierenden Stellung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) ein Korrektiv im Sinne der Unabhängigkeit der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) entgegensetzen. Durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten soll annähernd die Hälfte der Abgeordneten in einer engeren persönlichen Beziehung zu ihrem Wahlkreis stehen (vgl. BVerfGE 7, 63 <74>; 16, 130 <140>; 41, 399 <423>; 95, 335 <352, 358, 360>; 131, 316 <365 f.>). Dieses Ziel kann nur verwirklicht werden, wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach dem Proporz ermittelte Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei zur Verrechnung nicht ausreicht (vgl. BVerfGE 95, 335 <394>; 131, 316 <366>).

176Dieses Anliegen ist hinreichend gewichtig, um die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten in begrenztem Umfang zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 7, 63 <74 f.>; 16, 130 <140>; 95, 335 <360>; 131, 316 <366>). Der Gesetzgeber hat sich für ein Wahlsystem entschieden, das sowohl dem Anliegen einer Personenwahl als auch dem Ziel der Verhältniswahl, alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis im Parlament abzubilden, Rechnung tragen will. Beide von der Verfassung legitimierten Ziele lassen sich innerhalb dieses Wahlsystems nicht in voller Reinheit verwirklichen. So trifft es zwar zu, dass die durch den Anfall von Überhangmandaten bewirkte Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen mit einer personalisierten Verhältniswahl nicht zwangsläufig verbunden ist, weil der als Ergebnis des unvollständig durchgeführten Verhältnisausgleichs gestörte Proporz etwa durch Zuteilung von Ausgleichsmandaten wiederhergestellt werden könnte (vgl. BVerfGE 95, 335 <394 f.>; 131, 316 <366>). Allerdings erforderte eine vollständige Verwirklichung des Ziels der Verhältniswahl eine im Einzelnen nicht vorhersehbare Erhöhung der Sitzzahl des Bundestages. Dies stünde im Widerspruch zu der Zielsetzung, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages annähernd zur Hälfte personenbezogen zu legitimieren. Zugleich wären Beeinträchtigungen des föderalen Proporzes zu erwarten. Das Anliegen der Personenwahl und das mit der Verhältniswahl verfolgte Ziel weitgehender Proportionalität stehen mithin in einem Spannungsverhältnis, das sich nur durch einen vom Gesetzgeber vorzunehmenden Ausgleich beider Prinzipien auflösen lässt. Im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber das Anliegen einer proportionalen Verteilung der Gesamtzahl der Sitze grundsätzlich zurückstellen und Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes zulassen (vgl. BVerfGE 131, 316 <366 f.>).

177(b) Das Ausmaß der mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundenen Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen muss sich jedoch innerhalb des gesetzgeberischen Konzepts einer personalisierten Verhältniswahl halten (vgl. BVerfGE 95, 408 <421>; 131, 316 <367>). Die Zuteilung zusätzlicher Bundestagssitze außerhalb des Proporzes darf nicht dazu führen, dass der Grundcharakter der Wahl als einer am Ergebnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen orientierten Verhältniswahl aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 95, 335 <361, 365 f.>; 131, 316 <367>). Es ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, die Zahl hinnehmbarer Überhangmandate festzulegen (vgl. BVerfGE 131, 316 <367>). Dabei hat er jedoch zu beachten, dass Überhangmandate nur in eng begrenztem Umfang mit dem Charakter der Wahl als Verhältniswahl vereinbar sind. Fallen sie regelmäßig in größerer Zahl an, widerspricht dies der Grundentscheidung des Gesetzgebers für die personalisierte Verhältniswahl (vgl. BVerfGE 95, 335 <365 f.>; 131, 316 <368>). Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Anliegen möglichst proportionaler Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Deutschen Bundestag und dem mit der Personenwahl verbundenen Belang uneingeschränkten Erhalts von Wahlkreismandaten dann nicht mehr als gewahrt angesehen, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl überschreitet (vgl. BVerfGE 131, 316 <368 ff.>).

178(2) Nach diesen Maßstäben, an denen der Senat festhält, ist die durch die Zuteilung von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten bewirkte Beeinträchtigung der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom gerechtfertigt. Mit der Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens verfolgt der Gesetzgeber das verfassungslegitime Ziel einer Stärkung des Elements der Personenwahl (a). Die Zulassung von bis zu drei Überhangmandaten ist zudem geeignet und erforderlich, dieses Ziel zu erreichen, insbesondere können Überhangmandate nicht in einem Umfang anfallen, der den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl aufhebt (b). Auch darf der Gesetzgeber den Anfall von bis zu drei Überhangmandaten ohne Ausgleich bewusst in Kauf nehmen (c).

179(a) Mit der Zulassung von bis zu drei Überhangmandaten strebt der Gesetzgeber weiterhin das verfassungslegitime Ziel an, das Element der Personenwahl bei der Wahl zum Deutschen Bundestag zu stärken (aa). Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob Befürchtungen, der Deutsche Bundestag könne infolge einer weiteren Vergrößerung die Grenzen seiner Arbeits- und Handlungsfähigkeit erreichen (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5), eigenständig die durch die Zulassung von Überhangmandaten bewirkten Gleichheitsbeeinträchtigungen rechtfertigen können (bb).

180(aa) § 6 BWahlG in der Fassung des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom dient unverändert der Umsetzung der Grundentscheidung des Gesetzgebers für eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG), da die Sitze auf die Parteien und in den Parteien auf die Landeslisten grundsätzlich nach dem Zweitstimmenergebnis verteilt werden (§ 6 Abs. 6 Satz 1 und 2 Halbsatz 1 BWahlG). Das Element der Personenwahl findet darin Ausdruck, dass 299 Abgeordnete und somit die Hälfte der Ausgangsgröße von 598 Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) mit der Erststimme auf der Grundlage von Kreiswahlvorschlägen nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl gewählt werden (§ 1 Abs. 2, § 4 Halbsatz 1, § 5 BWahlG; vgl. dazu BVerfGE 131, 316 <357>). Die Zuteilung dieser Mandate wird durch § 6 Abs. 4 Satz 2, § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 5 Satz 2 sowie § 6 Abs. 6 Satz 4 BWahlG garantiert. Um eine übermäßige Proporzverzerrung durch den Anfall von Überhangmandaten zu verhindern und den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Erfolgswertgleichheit möglichst Rechnung zu tragen, sieht § 6 Abs. 5 BWahlG eine die Überhänge ausgleichende Erhöhung der Sitzzahl des Deutschen Bundestages vor. Dabei findet im Unterschied zum Bundeswahlgesetz 2013 jedoch kein vollständiger Ausgleich der rechnerisch anfallenden Überhangmandate mehr statt. Vielmehr werden gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG bis zu drei der Quasi-Überhangmandate aus der ersten Verteilung nicht ausgeglichen. Sie bleiben in der zweiten Verteilung nach § 6 Abs. 6 BWahlG erhalten und werden als echte Überhangmandate zugeteilt. Im Ergebnis sichert das Sitzzuteilungsverfahren nach § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG damit weiterhin den Erhalt aller Direktmandate als Ausdruck des Elements der Personenwahl.

181Die Begründung des Entwurfs des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom verweist dementsprechend darauf, dass am System der personalisierten Verhältniswahl festgehalten werde, und bekennt sich ausdrücklich zum Grundcharakter der Verhältniswahl (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1). Die Proporzbeeinträchtigung, die durch den Anfall von bis zu drei Überhangmandaten in Kauf genommen werde, führe nicht dazu, dass der Ausgleich zwischen dem Anliegen der Personenwahl und dem mit der Verhältniswahl verfolgten Ziel weitgehender Proportionalität nicht mehr als gewahrt anzusehen sei (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 6). Damit liegt dem Gesetzentwurf erkennbar die Vorstellung zugrunde, der proporzverzerrende Anfall von Überhangmandaten sei dem Anliegen der personalisierten Verhältniswahl geschuldet (vgl. auch BTDrucks 19/23187, S. 2, 6 f.).

182Die Zulassung von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten stellt sich als Weiterentwicklung der Reaktion des Gesetzgebers auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dar, wonach dieser verpflichtet ist, bei der Umsetzung der mit der Personenwahl verfolgten engen Bindung zwischen Wählerschaft und Abgeordneten Vorkehrungen gegen einen übermäßigen Anfall von Überhangmandaten zu treffen (vgl. BVerfGE 131, 316 <370 ff.>). Während das Bundeswahlgesetz 2011 keinerlei Regelung zum Ausgleich von Überhangmandaten traf, sah der Gesetzgeber unter Hinweis auf die Senatsentscheidung vom (BVerfGE 131, 316) in § 6 Abs. 5 BWahlG 2013 einen Vollausgleich vor (vgl. BTDrucks 17/11819, S. 5 f.). In der Folge wuchs der Deutsche Bundestag 2017 auf 709 Abgeordnete an. Um einer weiteren Vergrößerung des Parlaments entgegenzusteuern, ergänzte der Gesetzgeber die zunächst zur Erfüllung des verfassungsrechtlichen Regelungsauftrags gefundene Lösung um die verfahrensgegenständliche Neuregelung und nahm den Vollausgleich partiell zurück (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5, 6). Dies ändert nichts daran, dass mit dem etablierten Wahlsystem am Grundcharakter einer personalisierten Verhältniswahl festgehalten wird.

183Zwar weicht es von dem Ziel, exakt die Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Wege der Personenwahl zu bestimmen, ab, denn die zum Ausgleich von Proporzverzerrungen durchgeführte Erhöhung der Sitzzahl des Deutschen Bundestages (§ 6 Abs. 5 BWahlG) führt dazu, dass sich das Verhältnis von Wahlkreismandaten und Listenmandaten zugunsten der Listenmandate verschiebt. Dies ändert aber nichts daran, dass weiterhin jedenfalls ein maßgeblicher Anteil der Abgeordneten des Deutschen Bundestages direkt in den Wahlkreisen gewählt und damit dem Element der Personenwahl Rechnung getragen wird. Dabei wirkt die Zulassung von bis zu drei Überhangmandaten der Verschiebung des Verhältnisses von Direkt- und Listenmandaten, die mit dem Ausgleich von Quasi-Überhangmandaten verbunden ist, entgegen. Dies dient dem verfassungslegitimen Ziel, das Element der Personenwahl zu stärken.

184(bb) Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die hinter der Begrenzung des Anwachsens der Bundestagsgröße stehenden Befürchtungen, der Deutsche Bundestag könne die Grenzen seiner Arbeits- und Handlungsfähigkeit erreichen (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 1, 5), für sich genommen die durch die Zulassung von Überhangmandaten bewirkten Gleichheitsbeeinträchtigungen rechtfertigen können. Bei der Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments handelt es sich um einen verfassungsrechtlichen Belang von höchstem Rang (vgl. BVerfGE 95, 335 <404>), der dem Grunde nach der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. Ob dieser Belang aber bei einer Fortsetzung des Vollausgleichs von Überhangmandaten überhaupt tangiert wäre, bedarf angesichts des Rückgriffs auf den verfassungsrechtlich legitimierten Belang der Stärkung des Elements der Personenwahl keiner Entscheidung.

185(b) Die Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten ist geeignet und erforderlich, das Ziel der Aufrechterhaltung und Stärkung des Elements der Personenwahl zu erreichen. Die Neuregelung bewegt sich innerhalb des dem Gesetzgeber eröffneten Gestaltungskorridors zur Schaffung eines personalisierten Verhältniswahlrechts (vgl. auch Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 26, 58).

186(aa) Der Senat hält daran fest, dass ein angemessener Ausgleich zwischen dem Anliegen möglichst proportionaler Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Deutschen Bundestag und dem mit der Personenwahl verbundenen Belang des uneingeschränkten Erhalts von Wahlkreismandaten und des annähernd ausgeglichenen Verhältnisses von Wahlkreismandaten und Listenmandaten dann nicht mehr gewahrt ist, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet (vgl. BVerfGE 131, 316 <369 f.>). Ausgehend von § 10 Abs. 1 Satz 1 GO-BT in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl I S. 1237) sind dies 15 Abgeordnete (vgl. bereits BVerfGE 131, 316 <369 f.>). Diese Grenze ist durch die zur Überprüfung gestellte Neuregelung des § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG bei Weitem nicht überschritten, da bundesweit höchstens drei unausgeglichene Überhangmandate anfallen können. Dies begrenzt das Gewicht der damit einhergehenden Gleichheitsbeeinträchtigung deutlich.

187(bb) Der Erforderlichkeit der Regelung steht auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber die mit der Personalisierung verfolgten Zwecke ebenso gut ohne Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit durch einen Vollausgleich aller Überhangmandate erreichen könnte. Zwar ist die durch den Anfall von Überhangmandaten bewirkte Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen mit einer personalisierten Verhältniswahl nicht zwangsläufig verbunden, weil der gestörte Proporz durch Zuteilung von Ausgleichsmandaten wiederhergestellt werden könnte (vgl. BVerfGE 95, 335 <394 f.>; 131, 316 <366>). Allerdings erforderte eine vollständige Verwirklichung des Ziels der Verhältniswahl eine im Einzelnen nicht vorhersehbare Erhöhung der Sitzzahl des Bundestages, wodurch das Ziel, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages annäherungsweise zur Hälfte personenbezogen zu legitimieren, nicht erreicht werden könnte (vgl. BVerfGE 131, 316 <366>). Demnach stellt der Vollausgleich kein gegenüber der begrenzten Zulassung von Überhangmandaten ebenso wirksames Mittel zur Stärkung des Elements der Personenwahl dar. Im Fall eines Vollausgleichs blieben zwar alle Direktmandate erhalten. Es veränderte sich aber das Verhältnis zwischen in den Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten und solchen, die über die Landeslisten der Parteien in den Deutschen Bundestag einziehen. Das Element der Personenwahl würde dadurch relativ geschwächt (vgl. auch Möllers, RuP 2012, S. 1 <7 f.> m.w.N.). In einer solchen Situation obliegt es dem Gesetzgeber, sich innerhalb der aus der Grundentscheidung für das System der personalisierten Verhältniswahl ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen zu entscheiden, inwieweit durch einen Vollausgleich von Überhangmandaten dem Proportionalitätsprinzip Rechnung getragen oder durch eine annähernd gleiche Zahl an Direkt- und Listenmandaten das Element der Personenwahl gestärkt wird.

188(c) Der Verfassungsmäßigkeit der vorliegend zur Überprüfung gestellten Regelung steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber die Entstehung von bis zu drei Überhangmandaten in Kauf nimmt. Die Argumentation der Antragstellerinnen und Antragsteller, der Gesetzgeber dürfe Überhangmandate nur als Nebenfolge seiner Wahlsystementscheidung hinnehmen, geht fehl.

189(aa) Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass die mit der Zulassung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien nur insoweit mit dem Grundsatz der gleichen Wahl vereinbar ist, als sie sich als notwendige Folge des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl darstellt (vgl. BVerfGE 16, 130 <140>; 95, 335 <358>). Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass Überhangmandate nur eine Nebenfolge der Wahlsystementscheidung des Gesetzgebers sein dürften. Der Gesetzgeber ist im Rahmen des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG übertragenen Gestaltungsauftrags befugt, ein Wahlsystem zu schaffen, das sowohl dem Anliegen einer Personenwahl als auch dem Ziel der Verhältniswahl, alle Parteien in einem den Stimmenzahlen entsprechenden Verhältnis im Parlament abzubilden, möglichst Rechnung trägt. Beide von der Verfassung legitimierten Ziele lassen sich innerhalb eines Wahlsystems nicht in voller Reinheit verwirklichen. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis, das sich nur durch einen vom Gesetzgeber vorzunehmenden Ausgleich beider Prinzipien auflösen lässt. Im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gesetzgebungsauftrags darf der Gesetzgeber das Anliegen einer proportionalen Verteilung der Gesamtzahl der Sitze zurückstellen und Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes zulassen, solange sich die damit verbundene Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen innerhalb des gesetzgeberischen Konzepts hält (vgl. BVerfGE 95, 408 <421>; 131, 316 <366 f.>). Ob es sich dabei um eine bewusst herbeigeführte Konsequenz oder nur um eine ungewollte Nebenfolge der gesetzgeberischen Systementscheidung handelt, ist ohne Belang.

190(bb) Auch soweit das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit auf das Vorliegen eines "zwingenden Grundes" als Voraussetzung für die Rechtfertigung von Differenzierungen der Wahlgleichheit abgestellt hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <92>; 51, 222 <236>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>), bedeutet dies nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als notwendig darstellen muss. Dies ändert nichts daran, dass Differenzierungen im Wahlrecht durch Gründe gerechtfertigt sein können, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 162, 207 <238 Rn. 92>). Dabei ist nicht erforderlich, dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet (vgl. BVerfGE 120, 82 <107> m.w.N.). Gleiches gilt für Differenzierungen der Chancengleichheit der Parteien (vgl. BVerfGE 162, 207 <238 Rn. 92>).

191(cc) Zudem hat der Gesetzgeber den Anfall von Überhangmandaten bereits in der Vergangenheit hingenommen, wenn Wahlkreismandate auf die für die jeweilige Landesliste ermittelte Sitzzahl nicht angerechnet werden konnten, und sich nicht veranlasst gesehen, das Entstehen von Überhangmandaten zu neutralisieren (vgl. nur BVerfGE 95, 335 <356 f.>). Das Bundesverfassungsgericht hat dies unter dem Aspekt einer bewussten Inkaufnahme von Überhangmandaten nicht beanstandet. Vielmehr hat es festgestellt, dass das Anliegen der Personenwahl und das mit der Verhältniswahl verfolgte Ziel weitgehender Proportionalität in einem Spannungsverhältnis stehen, welches sich nur durch einen vom Gesetzgeber vorzunehmenden Ausgleich beider Prinzipien auflösen lässt. Im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes in begrenztem Umfang zulassen. Dabei ist es im Rahmen der sich aus seiner Wahlsystementscheidung ergebenden Grenzen seine Sache, die Zahl hinnehmbarer Überhangmandate konkret festzulegen (vgl. BVerfGE 131, 316 <366 f.>).

192b) Soweit es die zur Überprüfung gestellte Änderung des Bundeswahlgesetzes nach § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 BWahlG erlaubt, Direktmandate einer Partei mit Listenmandaten derselben Partei in einem anderen Land zu verrechnen, ist damit eine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit verbunden (aa). Diese ist jedoch durch das verfassungslegitime Anliegen einer Stärkung der Personenwahl ebenfalls gerechtfertigt (bb).

193aa) Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG wird im Rahmen der Sitzzahlerhöhung jeder Landesliste der höhere Wert aus entweder der Zahl der im Land von Wahlbewerbern der Partei in den Wahlkreisen nach § 5 BWahlG errungenen Sitze oder dem auf ganze Sitze aufgerundeten Mittelwert zwischen diesen und den für die Landesliste der Partei nach der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 und 3 BWahlG ermittelten Sitze zugeordnet. Dies stellt die Mindestsitzzahl dar, die jeder Landesliste im Rahmen der tatsächlichen zweiten Verteilung gemäß § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG zugeteilt wird. In der Konsequenz kann dieser Verrechnungsmechanismus dazu führen, dass einer Partei in einem Land mit relativ schwachen Erststimmenergebnissen Listenmandate, die ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis im Land zustünden, nicht zugeteilt, sondern diese zur Verrechnung von Quasi-Überhangmandaten derselben Partei in anderen Ländern verwendet werden.

194Die länderübergreifende Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten hat eine Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit der Stimmen der Wählerinnen und Wähler, die die zur Kompensation herangezogene Landesliste gewählt haben, zur Folge (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 60 m.w.N.). Entgegen einer dazu vertretenen Auffassung (vgl. Grzeszick, BTAusschussdrucks 19<4>584 E, S. 5) wird die Erfolgswertgleichheit im System der Verhältniswahl nicht ausschließlich parteiübergreifend, mithin zwischen den Wählerinnen und Wählern verschiedener Parteien, gewährleistet. Die Erfolgswertgleichheit verlangt, dass jede gültig abgegebene Stimme bei dem anzuwendenden Rechenverfahren mit gleichem Gewicht bewertet wird und ihr ein anteilsmäßig gleicher Erfolg zukommt (vgl. BVerfGE 95, 335 <353>; 131, 316 <338>; 146, 327 <350 Rn. 59>; jeweils m.w.N.). Sie ist Ausfluss der Gleichheit der Staatsbürger und gilt daher absolut und nicht nur relativ im Vergleich zwischen verschiedenen Parteien. Durch die Regelung des § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 BWahlG wird sie beeinträchtigt, weil den Stimmen derjenigen Wähler, die mit ihrer Zweitstimme die Landesliste einer Partei wählen, deren Mandate zur Kompensation von Quasi-Überhangmandaten derselben Partei in einem anderen Land herangezogen werden, ein geringerer Erfolgswert zukommt als den Stimmen derjenigen Wähler, die für eine andere Landesliste dieser Partei abgegeben worden sind, deren Mandate nicht zu Kompensationszwecken verrechnet werden (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 7; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 60 m.w.N.). Darüber hinaus sinkt der Erfolgswert der Stimmen, die für die zu Kompensationszwecken herangezogene Landesliste abgegeben worden sind, auch im Vergleich zu den für die Landeslisten anderer Parteien in diesem Land abgegebenen Stimmen (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 60 m.w.N.). Ebenso berührt ist die passive Wahlgleichheit in Form der Chancengleichheit der betroffenen Wahlbewerber, denen trotz der rechnerisch ausreichenden Zahl an Zweitstimmen für die Landesliste ihrer Partei kein Mandat zugeteilt wird (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 60 m.w.N.).

195bb) Der mit der internen Verrechnung von Direktmandaten und Listenmandaten verbundene Eingriff in die Wahlgleichheit ist jedoch zur Aufrechterhaltung und Stärkung des Elements der Personenwahl bei der Wahl des Deutschen Bundestages gerechtfertigt.

196(1) Die Möglichkeit der länderübergreifenden Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten dient dem Ziel, die Zuweisung sämtlicher Direktmandate zu gewährleisten, und stärkt damit das Element der Personenwahl.

197(2) Sie ist zur Erreichung dieses Ziels auch geeignet und erforderlich. Die Möglichkeit der länderübergreifenden Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten derselben Partei trägt zur Erhaltung aller von einer Partei bundesweit gewonnenen Wahlkreismandate und einer annähernd gleichen Zahl von Direkt- und Listenmandaten bei. Mildere, die Wahlgleichheit weniger einschränkende Instrumente, die dieses Ziel ebenso gut erreichten, stehen nicht zur Verfügung. Würde auf die Möglichkeit der länderübergreifenden Verrechnung verzichtet, könnten Überhangsituationen nicht kompensiert werden und fielen Überhangmandate in einem größeren Ausmaß an. Würden diese nicht ausgeglichen, hätte das in die Gleichheit der Wahl eingreifende Proporzverzerrungen zur Folge, die nicht weniger gewichtig wären als die Eingriffe in die Erfolgswertgleichheit, die mit dem vorliegend zu beurteilenden Verrechnungsmodell verbunden sind. Erfolgte hingegen ein Vollausgleich der Quasi-Überhangmandate, würde das Ziel, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages annähernd zur Hälfte personenbezogen zu legitimieren (vgl. BVerfGE 131, 316 <366>), in geringerem Umfang erreicht. Gleiches gälte, wenn an dem Modell des teilweisen Ausgleichs festgehalten und die Sitzzahl des Deutschen Bundestages so lange erhöht würde, bis nicht mehr als drei Überhangmandate verblieben. Ohne das Element der internen Verrechnung stiege die Zahl der auszugleichenden Quasi-Überhangmandate. Damit nähme die Größe des Bundestages zu (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 28), sodass sich das Verhältnis von Wahlkreisabgeordneten und Abgeordneten, die über die Landeslisten der Parteien in den Deutschen Bundestag einziehen, zulasten Ersterer verschöbe. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber mit der Verrechnungsklausel des § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG den ihm eingeräumten Spielraum zur Ausgestaltung des Bundestagswahlrechts nicht überschritten.

198(3) Dem steht nicht entgegen, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Pukelsheim in der mündlichen Verhandlung die Mindestsitzgarantie nach dem Bundeswahlgesetz 2013 zu einer gegenüber der Garantie von Mindestsitzen nach dem Fünfundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom geringeren Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit führte (vgl. auch Pukelsheim/ Bischof, DVBl 2021, S. 417 <425>; Pukelsheim, BTAusschussdrucks 19<4>584 A neu, Anlage 1). Denn die mit dem Fünfundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom eingeführte parteiinterne Verrechnung von Listen- mit Direktmandaten führt zu einer geringeren Zahl an auszugleichenden Mandaten und vermindert den Umfang der Sitzzahlerhöhung gemäß § 6 Abs. 5 BWahlG (vgl. Pukelsheim/ Bischof, DVBl 2021, S. 417 <419>). Dies dient dem Ziel eines ausgeglichenen Verhältnisses von Direkt- und Listenmandaten. Der Verrechnungsmechanismus des § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG stärkt dadurch das Element der Persönlichkeitswahl und genügt damit den verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen, auch wenn damit ein im Vergleich zu den Regelungen des Bundeswahlgesetzes 2013 stärkerer Eingriff in die Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen verbunden ist.

199(4) Soweit gegen die parteiinterne Verrechnung von Listen- mit Direktmandaten eingewandt wird, dass Gerechtigkeits- und Fairnessvorstellungen von Wählerinnen und Wählern verletzt würden, wenn ihre beziehungsweise die für ihre Landesliste abgegebene Zweitstimme für ein Direktmandat in einem anderen Land bezahle, statt zur Wahl der Personen auf der gewählten Landesliste beizutragen (vgl. Behnke, ZParl 2012, S. 675 <684 f.>; ders., ZParl 2019, S. 630 <643 ff.>), folgt daraus nichts anderes. Die Entscheidung des Wahlgesetzgebers für eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG) verlangt eine Anrechnung der Direktmandate auf Sitze, die sich nach der Verhältniswahl berechnen. Dabei ist die Priorisierung der Direktmandate dem System der personalisierten Verhältniswahl in der Ausgestaltung des Bundeswahlgesetzes auch in der Fassung des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom immanent. Dieses Wahlsystem ist darauf angelegt, die Ergebnisse der vorgeschalteten Personenwahl zu erhalten (vgl. BVerfGE 131, 316 <359>; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 19 ff.). Vor diesem Hintergrund ist mit der länderübergreifenden Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten ein wahlsystemwidriger Effekt nicht verbunden.

200(5) Allerdings kann das Verrechnungsmodell nicht sicherstellen, dass die einzelnen Landesverbände der Parteien im Bundestag in der Stärke vertreten sind, wie dies dem Anteil der auf sie entfallenden Zweitstimmen entspricht. Vielmehr nimmt die Regelung eine Verzerrung des föderalen Proporzes in Kauf (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 7; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 60 m.w.N.). Dieser Effekt tritt aber auch dann auf, wenn Überhangmandate ohne Verrechnung oder Ausgleich zugeteilt werden, denn in diesem Fall erzielt jede hiervon begünstigte Landesliste eine Überrepräsentation gegenüber anderen Landeslisten (vgl. BVerfGE 95, 335 <401 f.>). Zwar wird diese föderale Proporzverzerrung durch den Verrechnungsmechanismus des § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG verschärft, weil er nicht nur zu einer Überrepräsentation der Landeslisten mit Überhangmandaten, sondern zugleich dazu führt, dass andere Landeslisten derselben Partei mit Blick auf die erzielten Wahlergebnisse bei der Sitzzuteilung benachteiligt werden (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 60 m.w.N.). Bei der Gewichtung des Anliegens einer föderalen Zuordnung der Stimmen ist aber zu berücksichtigen, dass es bei der Wahl zum Deutschen Bundestag um die Wahl des unitarischen Vertretungsorgans des Bundesvolkes geht (vgl. BVerfGE 121, 266 <305> m.w.N.). Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag berechtigt, aber nicht verpflichtet, föderalen Belangen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 6, 84 <99>; 16, 130 <143>; 95, 335 <402>; 121, 266 <305> m.w.N.). Ebenso steht es ihm im Rahmen seines Regelungsauftrags gemäß Art. 38 Abs. 3 GG frei, föderalen Belangen ein größeres oder geringeres Gewicht beizumessen (vgl. BVerfGE 131, 316 <345>). Dass er diesen Spielraum vorliegend überschritten hätte, ist nicht ersichtlich.

201(6) Hinzu kommt, dass das Gewicht der Beeinträchtigung sowohl der Erfolgswertgleichheit als auch des föderalen Proporzes begrenzt ist. Den Landeslisten ist nach § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 BWahlG garantiert, dass sie mindestens einen Teil der ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis im Land zustehenden Mandate erhalten, nämlich jedenfalls die Hälfte der nach Anrechnung der Direktmandate verbleibenden Listenmandate (vgl. Pukelsheim/Bischof, DVBl 2021, S. 417 <419 f.>; Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 28). Es kann also nicht dazu kommen, dass eine Landesliste entgegen dem Votum der Wählerinnen und Wähler im betreffenden Land gar keine Sitze erhält, weil die ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze vollständig zur Anrechnung von Direktmandaten derselben Partei in anderen Ländern verwendet werden (vgl. BTDrucks 19/22504, S. 7).

202(7) Soweit unterschiedlich beurteilt wird, in welchem Umfang die Verrechnung von Listenmandaten mit Direktmandaten derselben Partei in einem anderen Land dazu beiträgt, das Anwachsen der Größe des Deutschen Bundestages zu bremsen (vgl. Pukelsheim/ Bischof, DVBl 2021, S. 417 <419, 425> m.w.N.; Behnke, BTAusschussdrucks 19<4>584 D, S. 21), kann dahinstehen, ob die mit der Verrechnung einhergehenden Beeinträchtigungen des Proporzes unter dem Gesichtspunkt der Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments (vgl. BVerfGE 95, 335 <404>) gerechtfertigt werden können. Sie sind bereits durch das verfassungsrechtlich anerkannte Ziel, das Element der Personenwahl bei der Wahl des Deutschen Bundestages aufrechtzuerhalten und zu stärken, hinreichend legitimiert. Auf die Frage, ob und inwiefern die Neuregelung der Sitzzuteilung der Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages dient, kommt es daher nicht an.

203c) Mit dem zur Überprüfung gestellten Sitzzuteilungsverfahren ist ein verfassungsrechtlich relevanter Effekt des negativen Stimmgewichts, der die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien sowie der Unmittelbarkeit der Wahl verletzte (aa), nicht verbunden (bb).

204aa) Die Mandatszuteilung darf grundsätzlich nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts; vgl. BVerfGE 131, 316 <346 f.>). Dies ist der Fall, wenn ein Zweitstimmengewinn zu einem Sitzverlust der betroffenen Partei führen kann und dieser auch einen Sitzanteilsverlust für diese Partei bedeutet. Gleiches gilt, wenn ein Zweitstimmenverlust zu einem Sitzgewinn der betroffenen Partei führen kann und dieser einen Sitzanteilsgewinn dieser Partei nach sich zieht.

205(1) Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 f.>; 131, 316 <347>). Die Erfolgswertgleichheit beinhaltet, dass eine Stimme für die Partei, für die sie abgegeben wurde, positive Wirkung entfalten können muss. Ein Wahlsystem, das darauf ausgelegt ist oder doch jedenfalls in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen (vgl. BVerfGE 121, 266 <299>). Ein Berechnungsverfahren, das dazu führt, dass eine Wählerstimme für eine Partei Wirkung gegen diese Partei entfaltet, widerspricht Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl (vgl. BVerfGE 121, 266 <300>; 131, 316 <347>). Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt neben der Erfolgswertgleichheit auch die Erfolgschancengleichheit. Diese erlaubt zwar, dass - wie zum Beispiel im Mehrheitswahlrecht - Stimmen nicht gewertet werden, nicht aber, dass einer Wahlstimme neben der Chance, zum beabsichtigten Erfolg beizutragen, auch die Gefahr innewohnt, dem eigenen Wahlziel zu schaden (vgl. BVerfGE 121, 266 <300 f.>).

206(2) Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt zudem den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, weil die Wählerinnen und Wähler nicht erkennen können, ob sich ihre Stimme stets für die präferierte Partei und deren Wahlbewerber positiv auswirkt oder ob sie durch ihre Stimme den Misserfolg eines Kandidaten oder der präferierten Partei verursachen. Gesetzliche Regelungen, die derartige Unwägbarkeiten nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen hervorrufen, sind mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfGE 121, 266 <307 f.>; 131, 316 <347>).

207bb) Davon ausgehend sind die zur Überprüfung gestellten Normen unter dem Gesichtspunkt des negativen Stimmgewichts von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Ungeachtet der unterschiedlichen Auffassungen zu der Frage, inwieweit sich aufgrund des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom Fälle des negativen Stimmgewichts überhaupt ergeben können (1), ist davon auszugehen, dass dieser Effekt jedenfalls nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise auftreten kann (2).

208(1) Die Frage, ob sich nach den Regelungen des § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG der Effekt des negativen Stimmgewichts überhaupt ergeben kann, ist sowohl im Gesetzgebungsverfahren (a) als auch in der Literatur (b) unterschiedlich beurteilt und in der mündlichen Verhandlung durch den Sachverständigen Pukelsheim bejaht worden (c).

209(a) (aa) Im Gesetzgebungsverfahren hat die Sachverständige Schönberger die Auffassung vertreten, der Effekt des negativen Stimmgewichts sei evident. Die Zulassung unausgeglichener Überhangmandate habe zur Folge, dass das Weniger an Zweitstimmen für eine Partei, das zur Entstehung eines unausgeglichenen Überhangmandats führe, automatisch eine geringere Mandatszahl für andere, konkurrierende Parteien und somit eine erwartungswidrige Korrelation mit der Sitzzahl einer anderen Partei bewirke (vgl. Schönberger, BTAusschussdrucks 19<4>584 B, S. 6). In einer Nachwahlkonstellation bestehe die Möglichkeit, ein Direktmandat zu einem Überhangmandat zu machen, indem weniger Zweitstimmen für die entsprechende Partei abgegeben würden, und dadurch die Mandatszahl konkurrierender Parteien zu reduzieren (vgl. Schönberger, Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll Nr. 19/100, S. 11).

210(bb) Der Sachverständige Grzeszick hat im Gesetzgebungsverfahren hingegen kein unzulässiges negatives Stimmgewicht erkannt. Zwar könne der den Überhangmandaten eigene Effekt, dass durch mehr Zweitstimmen für eine Partei in einem Land ein Überhangmandat zum Listensitz werden könne, diesen Zweitstimmen die positive Sitzrelevanz nehmen. Er verkehre das Mehr an Zweitstimmen aber nicht in ihr Gegenteil, denn dazu sei ein Sitzverlust nötig. Entsprechendes gelte für den umgekehrten Effekt, dass ein Weniger an Zweitstimmen sich nicht nachteilig auf die Sitzzahl auswirke, soweit dadurch ein unausgeglichenes Überhangmandat entstehe. Zudem habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom (BVerfGE 131, 316) bis zu 15 ausgleichslose Überhangmandate für verfassungsgemäß, den Effekt des negativen Stimmgewichts aber zugleich für verfassungswidrig erklärt. Bedingte bereits die proportionale Besserstellung einer Partei durch Überhangmandate ein unzulässiges negatives Stimmgewicht, sei die Entscheidung widersprüchlich (vgl. Grzeszick, BTAusschussdrucks 19<4>584 E, S. 8; ders., Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll Nr. 19/100, S. 18 f.). Der "Dresdener Nachwahleffekt" der föderalen Verschiebung könne nicht mehr vorkommen. Dies werde zum einen durch die festen Kontingente in der ersten Verteilung verhindert, zum anderen durch die Garantie des § 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BWahlG. Jedenfalls sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur ein Effekt relevant, der nicht nur ganz außergewöhnlich auftrete (vgl. Grzeszick, Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll Nr. 19/100, S. 19). Dies sei hier nicht der Fall.

211(cc) Der Sachverständige Vehrkamp vertrat in der Anhörung des Bundestagsausschusses für Inneres und Heimat die Auffassung, das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom ermögliche das Auftreten negativer Stimmgewichte, wenn sich bei einer Nachwahl ein durch Zweitstimmen gedecktes Direktmandat in ein durch Zweitstimmen nicht gedecktes Überhangmandat verwandele (vgl. Vehrkamp, Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll Nr. 19/100, S. 10).

212(b) (aa) In der Literatur gehen Pukelsheim und Bischof davon aus, dass mit dem Auftreten negativer Stimmgewichte zu rechnen sei. Eine Partei könne bei mehr Zweitstimmen schlechter dastehen, da diese tendenziell zu einem Abbau von Überhangmandaten führten. Umgekehrt könnten weniger Zweitstimmen bewirken, dass sich Proporzmandate zu Überhangmandaten wandelten. Konstellationen, in denen das negative Stimmgewicht sichtbar werde, dürften jedoch eine nur marginale Rolle spielen (vgl. Pukelsheim/Bischof, DVBl 2021, S. 417 <424>).

213(bb) Boehl vertritt hingegen die Ansicht, der Effekt des negativen Stimmgewichts trete aufgrund des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom nicht auf, weil die Sitzverteilung im Ausgangspunkt nach voneinander getrennten Sitzkontingenten der Länder erfolge und sich Zweitstimmenverluste nicht zugunsten einer anderen Landesliste der gleichen Partei auswirken könnten. Wenn weniger Wählerinnen und Wähler einer Landesliste ihre Zweitstimme gäben, könne dies allenfalls deren Sitzzahl zugunsten der Landeslisten anderer Parteien in diesem Land vermindern. In einer Überhangsituation bleibe hingegen die Sitzzahl der Partei gleich, weil sie in diesem Fall durch die Zahl der Direktmandate bestimmt werde und nicht von der Zweitstimmenzahl abhänge. Diese Folgen stellten aber keinen paradoxen Effekt dar.

214Grundlage der Sitzzahlerhöhung seien die Mandatszahlen, die sich in der ersten Verteilung unter Ausschluss des Effekts des negativen Stimmgewichts ergäben. Durch die Sitzzahlerhöhung könne daher kein negatives Stimmgewicht in die zweite Verteilung und das Endergebnis transportiert werden. Nach der Sitzzahlerhöhung würden die Sitze auf die Parteien exakt nach deren Zweitstimmenverhältnis verteilt.

215Auch die bis zu drei Überhangmandate könnten nicht zu negativen Stimmgewichten führen. Überhangmandate seien zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Entstehen von negativem Stimmgewicht. Wenn sich weniger Zweitstimmen für eine Landesliste auf die Sitzzahl einer anderen Landesliste der gleichen Partei nicht positiv auswirken könnten, sei für die Annahme eines negativen Stimmgewichts kein Raum (vgl. Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 6 Rn. 65).

216(c) In der mündlichen Verhandlung hat der Sachverständige Pukelsheim die Auffassung vertreten, dass unter den Vorgaben des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom Konstellationen existierten, in denen ein negatives Stimmgewicht auftrete. Er hat dabei auf ein Szenario verwiesen, in dem mehr Zweitstimmen für eine Partei dazu führen könnten, dass ein nicht auszugleichendes Überhangmandat dieser Partei zu einem über den Mindestsitzanspruch der Partei gemäß § 6 Abs. 5 Satz 3 BWahlG garantierten Mandat werde. Dies bewirke keinen Sitzgewinn für die Partei selbst, führe über das Ausgleichsverfahren aber zu zusätzlichen Sitzen für die konkurrierenden Parteien. Zur Frage nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit des Effekts des negativen Stimmgewichts gab der Sachverständige Pukelsheim an, dies nicht belastbar beantworten zu können.

217(2) Davon ausgehend ergibt sich aus den zur Überprüfung gestellten Normen kein verfassungsrechtlich relevanter Effekt des negativen Stimmgewichts.

218(a) Die wesentliche Ursache für das Auftreten des negativen Stimmgewichts unter dem Bundeswahlgesetz in der Fassung des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 2313) bestand in der Bestimmung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl (vgl. BVerfGE 131, 316 <347 ff.>). Diese Ursache ist bereits durch das Zweiundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 1082) entfallen. Gemäß dem bei der nachfolgenden Gesetzesänderung unangetastet gebliebenen § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG wird das Ländersitzkontingent in der ersten Verteilung nach dem Bevölkerungsanteil bestimmt. Die Abgabe oder Nichtabgabe einer Stimme wirkt sich damit auf die Höhe der Sitzkontingente der Länder nicht aus. Sitzplatzverschiebungen zwischen den Ländern in Abhängigkeit von der Wählerzahl sind ausgeschlossen. Auch ist die Möglichkeit der Listenverbindungen entfallen, die nach dem Bundeswahlgesetz in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom (BGBl I S. 674) im Zusammenhang mit Überhangmandaten den Effekt des negativen Stimmgewichts auslösten (vgl. BVerfGE 121, 266 <298 ff., 305>).

219(b) Die in Abweichung hierzu durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom eröffnete Möglichkeit der ausgleichslosen Zuteilung von bis zu drei Überhangmandaten löst den Effekt des negativen Stimmgewichts jedenfalls nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise aus.

220(aa) Zwar geht mit der Zulassung ausgleichsloser Überhangmandate einher, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei dazu führen kann, dass ein ausgleichsloses Überhangmandat wegfällt. Ein derartiger Stimmenzuwachs führte aber nicht dazu, dass die betroffene Partei erwartungswidrig Mandate verlöre. Vielmehr bliebe die Zahl der auf sie entfallenden Mandate gleich, und es würde lediglich ein ausgleichsloses Überhangmandat durch ein mit Zweitstimmen unterlegtes Direktmandat ersetzt. Ein widersinniger, dem Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl widersprechender Effekt (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 ff.>; 131, 316 <346 f.>) zum Nachteil der von dem Zweitstimmenzuwachs betroffenen Partei wäre damit nicht verbunden.

221Allerdings hat der Sachverständige Pukelsheim in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass der durch den Zweitstimmenzuwachs mögliche Verlust eines Überhangmandats zugunsten eines mit Zweitstimmen unterlegten Direktmandats über das Ausgleichsverfahren zu zusätzlichen Sitzen für konkurrierende Parteien führen kann. Dabei handelt es sich jedoch um eine bloß mittelbare Auswirkung des Zweitstimmenzuwachses einer Partei, die keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begründet.

222So ist diese Auswirkung zunächst nicht mit einem eigenständigen Eingriff in den Grundsatz der Wahlgleichheit verbunden. Zwar hat die durch einen Zweitstimmenzuwachs verursachte Umwandlung eines ausgleichslosen Überhangmandats in ein ausgleichspflichtiges, mit Zweitstimmen unterlegtes Direktmandat im Ergebnis eine relative Besserstellung konkurrierender Parteien durch die Zuteilung von Ausgleichsmandaten zur Folge. Ursache hierfür ist aber der im Verfahren der Sitzzahlerhöhung gemäß § 6 Abs. 5 BWahlG angelegte Ausgleichsmechanismus. Dieser zielt gerade darauf, den durch die Garantie des Erhalts aller Direktmandate verursachten Eingriff in die Erfolgswertgleichheit jeder abgegebenen Stimme zu korrigieren. Werden zusätzliche Ausgleichsmandate vergeben, hat dies einen geringeren Eingriff in die Erfolgswertgleichheit aller abgegebenen Stimmen zur Folge.

223Ebenso wenig liegt ein Eingriff in den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl vor. Da das Mehr an Zweitstimmen nicht zu einer Verminderung der Sitzzahl der präferierten Partei führt, fehlt es an einem inversen, der Erwartungshaltung der Wählerinnen und Wähler widersprechenden Effekt. Die mittelbare Konsequenz der Zuteilung weiterer Ausgleichsmandate an konkurrierende Parteien genügt hierfür nicht. Sie ist im System der Verhältniswahl angelegt und jedenfalls durch das Ziel der Wiederherstellung der Wahlgleichheit gerechtfertigt.

224Hinzu kommt, dass es sich bei der durch einen Zuwachs an Zweitstimmen bedingten Ersetzung eines unausgeglichenen Überhangmandats um einen äußerst seltenen und daher verfassungsrechtlich unbedenklichen Ausnahmefall handeln dürfte (vgl. BVerfGE 121, 266 <307 f.>; 131, 316 <347>). Voraussetzung wäre, dass ein echtes Überhangmandat betroffen ist, dessen Zahl gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG auf höchstens drei begrenzt ist. Dass ein solcher Fall über seltene Ausnahmefälle hinaus eintreten könnte, ist nicht ersichtlich. Auch der Sachverständige Pukelsheim hat in der mündlichen Verhandlung keine Angaben zur Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer solchen Konstellation machen können.

225(bb) Umgekehrt kann der Verlust von Zweitstimmen dazu führen, dass die von der betroffenen Partei in dem Land gewonnenen Wahlkreismandate nicht mehr vollständig auf die ihr nach der Landesliste zustehenden Mandate angerechnet werden können, sodass ein unausgeglichenes Überhangmandat anfällt. Auch in diesem Fall bliebe die Zahl der auf die betroffene Partei entfallenden Mandate gleich. Ein erwartungswidriger Effekt in dem Sinne, dass das Weniger an Zweitstimmen zu einem Mehr an Mandaten der betroffenen Partei führte, träte nicht ein.

226Allenfalls könnten Mandate konkurrierender Parteien entfallen, da das auf diese Weise entstandene echte Überhangmandat nicht mehr am Ausgleichsmechanismus gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG teilnähme. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht. Der Wegfall von Ausgleichsmandaten bei der Umwandlung eines nicht mehr durch Zweitstimmen gedeckten Direktmandats in ein unausgeglichenes Überhangmandat ist Folge der durch den Gesetzgeber im Rahmen des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumten Gesetzgebungsauftrags getroffenen Wahlsystementscheidung. Ist er - wie dargestellt (s.o. Rn. 174 ff.) - befugt, eine begrenzte Zahl an echten Überhangmandaten zuzulassen, stellt sich die hierauf bezogene Nichtzuteilung von Ausgleichsmandaten nicht als widersinniger, dem Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl widersprechender Effekt (vgl. BVerfGE 121, 266 <300>; 131, 316 <346 f.>) dar. Auch insoweit liegt daher ein verfassungsrechtlich relevantes negatives Stimmgewicht nicht vor.

III.

227Die zu überprüfenden Normen sind schließlich nicht deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil sie weniger als ein Jahr vor der Wahl des 20. Deutschen Bundestages in Kraft getreten sind. Weder der Verhaltenskodex für Wahlen der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission, 1.) noch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (ZP I EMRK, 2.) haben zur Folge, dass durch den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom die Stabilität des Wahlrechts in verfassungswidriger Weise beeinträchtigt worden ist (3.). Sonstige verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich (4.).

2281. a) Nach Ziffer II. 2. b der Leitlinien des Verhaltenskodex für Wahlen der Venedig-Kommission (Verhaltenskodex für Wahlen - Leitlinien und erläuternder Bericht - CDL-AD <2002> 23rev2-cor) sollen die Grundelemente des Wahlrechts bis ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr verändert werden. In dem erläuternden Bericht wird ausgeführt:

63. Die Stabilität des Rechts ist ein wichtiges Element für die Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses und selbst von wesentlicher Bedeutung für die Konsolidierung der Demokratie. Denn wenn sich die Regeln häufig ändern, kann der Wähler desorientiert sein und sie nicht mehr verstehen, insbesondere wenn sie sehr kompliziert sind; er kann vor allem zu Recht oder zu Unrecht denken, dass das Wahlrecht ein Instrument ist, das diejenigen, die die Macht ausüben, zu ihren Gunsten manipulieren, und dass die Stimme des Wählers daher nicht das Element ist, das über das Ergebnis der Abstimmung entscheidet.

64. Die Stabilität muss in der Praxis nicht so sehr in Bezug auf die Grundprinzipien garantiert werden, deren formale Infragestellung schwer denkbar ist, sondern in Bezug auf bestimmte genauere Regeln des Wahlrechts, insbesondere in Bezug auf das Wahlrecht im eigentlichen Sinne, die Zusammensetzung der Wahlausschüsse und die Einteilung der Wahlkreise. Diese drei Elemente erscheinen häufig - zu Recht oder zu Unrecht - als die entscheidenden Faktoren für das Ergebnis der Abstimmung und es sollten nicht nur Manipulationen zugunsten der Partei, die an der Macht ist, sondern auch nur der Anschein selbst von Manipulationen vermieden werden.

229b) Nach diesen Erwägungen soll durch die Stabilität des Wahlrechts die Glaubwürdigkeit des für die Demokratie konstitutiven Wahlprozesses gewährleistet werden. Die Wählerinnen und Wähler sollen darauf vertrauen können, dass ihre Stimme dasjenige Element ist, das über die Zusammensetzung des Parlaments entscheidet, und dieses nicht durch Manipulationen des Wahlrechts zugunsten der herrschenden Mehrheit unterlaufen wird. Hierbei soll bereits der Anschein von Manipulationen verhindert werden (vgl. BVerfGE 151, 152 <171 Rn. 50>).

230c) Indes begreift die Venedig-Kommission die zur Wahrung hinreichender Stabilität des Wahlrechts aufgestellte Jahresfrist nicht als unverrückbar. Vielmehr hat sie in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ausgeführt, dass Abweichungen von der Jahresfrist zulässig und mit dem Grundsatz der Stabilität des Wahlrechts vereinbar sein können, etwa wenn die Änderungen eher technischer Art sind oder auf Empfehlungen fundierter Sachverständigengutachten zurückgehen. Allerdings müsse sichergestellt sein, dass der Wahlleitung und den politischen Entscheidungsträgern eine angemessene Zeit verbleibt, um die Wahlen ordnungsgemäß zu organisieren (vgl. Venedig-Kommission, OSZE/ODIHR: Armenia, Joint Urgent Opinion on Amendments to the Electoral Code and Related Legislation, CDL-PI <2021> 006, Rn. 22).

2312. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können Beeinträchtigungen der Stabilität des Wahlrechts Art. 3 ZP I EMRK verletzen (vgl. EGMR, Georgian Labour Party v. Georgia, Urteil vom , Nr. 9103/04, §§ 88 f.; <GK>, Tănase v. Moldova, Urteil vom , Nr. 7/08, § 179; Ekoglasnost c. Bulgarie, Urteil vom , Nr. 30386/05, §§ 68 ff.). Dieser verpflichtet die Vertragsstaaten, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. Der Gerichtshof hat ausgeführt, die Stabilität des Wahlrechts sei von besonderer Bedeutung für die Achtung der in Art. 3 ZP I EMRK garantierten Rechte. Wenn ein Staat die grundlegenden Wahlvorschriften zu häufig oder "am Vorabend" einer Wahl ändere, könne er die Achtung der Öffentlichkeit vor den Garantien, die die Freiheit der Wahl gewährleisten, oder ihr Vertrauen in deren Existenz untergraben (vgl. EGMR, Ekoglasnost c. Bulgarie, Urteil vom , Nr. 30386/05, § 68). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist bei der Anwendung von Art. 3 ZP I EMRK indes jedes Wahlgesetz im Lichte der politischen Entwicklung des betreffenden Landes zu beurteilen (vgl. EGMR, Georgian Labour Party v. Georgia, Urteil vom , Nr. 9103/04, § 89).

2323. Demgemäß ist vorliegend der Zeitpunkt des Inkrafttretens der zur Überprüfung gestellten Änderung des Bundeswahlgesetzes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

233a) Zwar stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - innerhalb der deutschen Rechtsordnung (nur) im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 111, 307 <316 f.>; 128, 326 <367>; 141, 1 <19 Rn. 45>; 148, 296 <350 f. Rn. 127>; 151, 1 <26 f. Rn. 61> - Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl). Gleichwohl besitzen sie verfassungsrechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Gewährleistungen des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; 111, 307 <317, 329>; 120, 180 <200 f.>; 128, 326 <367 f.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 151, 1 <27 Rn. 62>). Ihre Heranziehung ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das einer Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet (vgl. BVerfGE 151, 1 <27 Rn. 62>). Allerdings zielt die Heranziehung als Auslegungshilfe nicht auf eine schematische Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe (vgl. BVerfGE 137, 273 <320 f. Rn. 128>; 141, 1 <30 Rn. 72>; 148, 296 <353 Rn. 131>; 151, 1 <27 Rn. 63>). Vielmehr gilt auch für die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes, dass Ähnlichkeiten im Normtext nicht über Unterschiede, die sich aus dem Kontext der Rechtsordnungen ergeben, hinwegtäuschen dürfen (vgl. BVerfGE 148, 296 <353 Rn. 131>; 151, 1 <27 f. Rn. 63>). Im Rahmen der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, und zwar auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand wie das verfassungsgerichtliche Verfahren betreffen. Dies beruht auf der Orientierungs- und Leitungsfunktion, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt (vgl. BVerfGE 128, 326 <368>; 148, 296 <351 f. Rn. 129>; 151, 1 <28 Rn. 64>).

234Stellungnahmen von Ausschüssen und vergleichbaren Organen internationaler Organisationen kommt im innerstaatlichen Bereich keine unmittelbare Bindungswirkung zu (vgl. BVerfGE 151, 1 <29 Rn. 65> m.w.N.; 151, 152 <170 Rn. 48>). Der Venedig-Kommission ist nach Art. 1 ihres Statuts vom (Committee of Ministers' Resolution <2002> 3: Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law <21 February 2002>) eine (lediglich) beratend-kooperative Funktion zugewiesen (vgl. BVerfGE 151, 152 <170 Rn. 48> m.w.N.).

235b) Davon ausgehend genügen die zur Überprüfung gestellten Änderungen des Bundeswahlgesetzes den Anforderungen an die Stabilität des Wahlrechts.

236aa) Zwar traten die antragsgegenständlichen Regelungen des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes am in Kraft (Art. 2 Abs. 1 BWahlGÄndG). Der Termin für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wurde mit Anordnung vom (BGBl I S. 2769) auf den bestimmt. Danach lagen zwischen dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens und dem Termin der Bundestagswahl nur etwas über zehn Monate. Auch betrifft das zu überprüfende Gesetz das Sitzzuteilungsverfahren, auf dessen Änderung die Jahresfrist der Venedig-Kommission ausdrücklich Anwendung finden soll (vgl. Venedig-Kommission, Auslegungserklärung über die Stabilität des Wahlrechts, CDL-AD <2005> 043, II. Nr. 3 und 4).

237bb) Allerdings liegt der Anschein einer manipulativen Verfestigung existierender Regierungsmehrheiten durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom fern. Dies folgt schon daraus, dass die zur Überprüfung gestellte Neufassung des Bundeswahlgesetzes nichts daran geändert hat, dass die Sitze - wie bereits nach § 6 BWahlG 2013 - gemäß § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG grundsätzlich nach der Zahl der zu berücksichtigenden Zweitstimmen im Divisorverfahren mit Standardrundung vergeben werden. Sofern die Neuregelung die Zuteilung von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten ermöglicht hat, kommt dies zwar tendenziell den Parteien zugute, deren Fraktionen den antragsgegenständlichen Gesetzentwurf - noch außerhalb der Jahresfrist (vgl. BTDrucks 19/22504) - in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Eine grundlegende Veränderung des politischen Wettbewerbs um Wählerstimmen ist mit der Neuregelung aber nicht verbunden. Hinzu kommt, dass die Wahlrechtsänderung das Ergebnis einer Debatte war, die bereits in der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages intensiv geführt worden war (vgl. nur Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3-3000-055/16). Das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom wurde weder überraschend noch "am Vorabend" der Wahl des 20. Deutschen Bundestages beschlossen. Schließlich betraf es im Wesentlichen lediglich die Regelungen der Sitzzuteilung. Die Vorbereitung der Wahl des 20. Deutschen Bundestages einschließlich der Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten war von den Änderungen nicht betroffen. Die Wahlrechtsänderung ist daher nicht geeignet, das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Beachtung der Garantien, die die Freiheit der Wahl gewährleisten, und in das Unterbleiben von Manipulationen der Wahl zugunsten der herrschenden Mehrheit zu erschüttern.

2384. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob und gegebenenfalls durch welche Vorschriften des Grundgesetzes der Grundsatz der Stabilität des Wahlrechts auch unmittelbar verfassungsrechtlich gewährleistet ist. Der Zeitpunkt der Änderung des Bundeswahlgesetzes stellt diesen Grundsatz aus den dargelegten Gründen nicht infrage. Dass sein verfassungsrechtlich garantierter Gewährleistungsgehalt über das vorstehend Ausgeführte hinausgehen könnte, ist nicht ersichtlich.

D.

239Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2023:fs20231129.2bvf000121

Fundstelle(n):
SAAAJ-53584