Instanzenzug: Az: 9 U 2158/21vorgehend LG Bad Kreuznach Az: 2 O 320/20
Tatbestand
1Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Die Klägerin kaufte im Februar 2016 von einem Dritten einen gebrauchten Mercedes-Benz ML 250 BlueTEC 4MATIC, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet ist. In die Steuerung des Motors sind ein sogenanntes Thermofenster sowie eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) implementiert. Die Abgasanlage des Fahrzeugs ist mit einem SCR-Katalysator ausgestattet. In Abhängigkeit verschiedener Parameter werden beim Betrieb dieses Katalysators zwei unterschiedliche Betriebsmodi zur Eindüsung von Reagens (AdBlue) verwendet. Das Fahrzeug ist von einem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) betroffen.
3Mit ihrer Klage hat die Klägerin zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von mindestens 25 % des Kaufpreises (9.625 €) sowie zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten - jeweils nebst Prozesszinsen - zu verurteilen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Anträge nach teilweiser Rücknahme ihres Rechtsmittels weiter, soweit sie ihre Ansprüche auf eine deliktische Schädigung durch die Beklagte stützt.
Gründe
4Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - im Wesentlichen wie folgt begründet:
6Die Beklagte hafte nicht gemäß §§ 826, 31 BGB. Die Klägerin habe die Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung unterstellt - nicht schlüssig behauptet. Dabei könne offenbleiben, ob die Funktionen Thermofenster, KSR sowie die "Strategie A" als unzulässige Abschalteinrichtungen im Rechtssinne zu qualifizieren seien. Mangels Prüfstandsbezogenheit der genannten Einrichtungen seien für die Annahme des Gesamtverhaltens der Beklagten als sittenwidrig weitere Umstände erforderlich, die von der Klägerin weder hinreichend dargetan noch ersichtlich seien. Soweit die Klägerin eine Prüfstandbezogenheit der "Strategie A" behaupte, sei die "Existenz einer entsprechenden Einrichtung" bereits nicht hinreichend dargetan. Der vom KBA angeordnete Rückruf ändere daran nichts. Die Klägerin habe "nicht ansatzweise mit Substanz dargetan, dass die entsprechende Anordnung des KBA gerade wegen der hier in Rede stehenden Funktion" erfolgt sei. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 scheitere bereits daran, dass es sich bei diesen Normen nicht um Schutzgesetze handele.
II.
7Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
81. Allerdings hat das Berufungsgericht bei einer Gesamtschau der Entscheidungsgründe eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB mangels sittenwidrigen vorsätzlichen Verhaltens der für sie handelnden Repräsentanten zutreffend verneint.
9Es hat im Ausgangspunkt entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung angenommen, dass ein objektiv sittenwidriges Handeln der Beklagten nicht allein daraus abgeleitet werden kann, dass im Fahrzeug der Klägerin Einrichtungen vorhanden sind, die die Abgasemissionen beeinflussen und möglicherweise als unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sind. Der darin liegende Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz der emissionsbeeinflussenden Einrichtungen im Verhältnis zur Klägerin als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlich handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der emissionsbeeinflussenden Einrichtung(en) in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (vgl. , VersR 2021, 1252 Rn. 13; Urteil vom - VI ZR 1154/20, VersR 2021, 1575 Rn. 13; Urteil vom - VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721 Rn. 16; Beschluss vom - VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 19; Beschluss vom - VI ZR 889/20, NJW 2021, 1814 Rn. 28; Beschluss vom - VII ZR 126/21 juris Rn. 12 ff.; Beschluss vom - VIa ZR 51/21, juris Rn. 20). Das Berufungsgericht hat überdies zu Recht erwogen, dass eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der für die Beklagte handelnden Repräsentanten indiziert wäre, wenn eine im Fahrzeug der Klägerin verbaute Einrichtung ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivierte (vgl. , juris Rn. 15 und 25; Beschluss vom - VII ZR 720/21, juris Rn. 25; Beschluss vom - VII ZR 471/21, MDR 2022, 1340 Rn. 10). Es hat jedoch greifbare Anhaltspunkte für eine solche von der Klägerin behauptete Funktionsweise nicht festzustellen vermocht.
10Soweit das Berufungsgericht hinsichtlich der von der Klägerin behaupteten Prüfstandbezogenheit der "Strategie A" ausführt, bereits "die Existenz einer entsprechenden Einrichtung" sei nicht hinreichend dargetan, folgt aus den unstreitig vorhandenen zwei Betriebsmodi und dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe, dass das Berufungsgericht mit der Formulierung "entsprechende Einrichtung" auf die Prüfstandsbezogenheit der Einrichtung abgehoben hat, nicht jedoch das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung als solcher (ohne Prüfstandsbezug) in Frage gestellt hat. Das Berufungsgericht hat Ausführungen des KBA, im Fahrzeug sei "die unzulässige Emissionsstrategie A in vergleichbarer Ausprägung" wie in anderen Fahrzeugen enthalten, vielmehr in Bezug genommen. Gleiches gilt für die Erwägung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe greifbare Anhaltspunkte für die Implementierung der hier in Rede stehenden "vermeintlichen Abschalteinrichtungen" nicht vorgetragen und sie habe nicht einmal ansatzweise mit Substanz dargetan, dass der Rückruf des KBA gerade wegen der hier "in Rede stehenden Funktionen" erfolgte. Auch insoweit hat das Berufungsgericht ersichtlich hinreichendes Vorbringen zu prüfstandbezogenen Abschalteinrichtungen und Funktionen vermisst.
11Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
122. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
13Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "kleinen" Schadensersatzes aus §§ 826, 31 BGB verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen - vom "kleinen" Schadensersatz zu unterscheidenden - Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
14Das Berufungsurteil ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
15Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:161023UVIAZR1255.22.0
Fundstelle(n):
NAAAJ-52887