BGH Urteil v. - VIa ZR 37/21

Deliktische Haftung des Fahrzeugherstellers in einem sog. Dieselfall: Umfang des Schadensersatzanspruchs bei Schutzgesetzverletzung; Feststellungsinteresse

Leitsatz

§ 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gewähren dem Käufer eines vom sogenannten Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs gegen den Fahrzeughersteller neben dem der Höhe nach auf 15% des gezahlten Kaufpreises begrenzten Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens keinen Anspruch auf Ersatz weiterer möglicher Vermögensnachteile. Für einen auf die Pflicht zum Ersatz solcher Vermögensnachteile gerichteten Feststellungsantrag besteht kein Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO.

Gesetze: § 31 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 6 Abs 1 EG-FGV, § 27 Abs 1 EG-FGV, § 256 Abs 1 ZPO, Art 3 Nr 10 EGV 715/2007, Art 5 Abs 2 EGV 715/2007

Instanzenzug: Az: 12 U 1363/20vorgehend LG Mainz Az: 2 O 47/20

Tatbestand

1Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2Die Klägerin erwarb im Dezember 2015 von der Beklagten einen gebrauchten Mercedes-Benz C 200 CDI, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgestattet ist. In dem Fahrzeug kommt eine temperaturgesteuerte Abgasrückführung (AGR) zur Anwendung. Es ist nicht von einem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) betroffen.

3Mit ihrer Klage hat die Klägerin Zahlung in Höhe von 19.250 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie Zug um Zug gegen Zahlung einer von der Beklagten darzulegenden Nutzungsentschädigung verlangt. Sie hat außerdem die Feststellung der Ersatzpflicht für darüberhinausgehende Schäden sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist zurückgewiesen worden. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin zuletzt nach teilweiser Rücknahme des Rechtsmittels ihre Anträge weiter, soweit sie ihre Ansprüche auf eine deliktische Schädigung durch die Beklagte stützt.

Gründe

4Die Revision der Klägerin hat Erfolg.

A.

5Das angefochtene Urteil unterliegt aufgrund der Zulassungsentscheidung des Berufungsgerichts der revisionsrechtlichen Nachprüfung insoweit, als die Berufung hinsichtlich einer deliktischen Schädigung der Klägerin durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs zurückgewiesen worden ist. Die weitergehende Beschränkung der Zulassung durch das Berufungsgericht allein "in Bezug auf die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung" ist entgegen der Rechtsmeinung der Revisionserwiderung unwirksam.

6Eine Beschränkung der Revisionszulassung ist zulässig und damit wirksam, wenn der von der Zulassung erfasste Teil des Streitstoffs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unabhängig vom übrigen Prozessstoff beurteilt werden und auch nach einer möglichen Zurückverweisung der Sache kein Widerspruch zum unanfechtbaren Teil des Streitstoffs auftreten kann. Dabei muss es sich nicht um einen eigenen Streitgegenstand handeln und der betroffene Teil des Streitstoffs auf der Ebene der Berufungsinstanz nicht teilurteilsfähig sein. Eine Beschränkung der Revision auf einzelne Rechtsfragen, bestimmte Anspruchselemente oder einzelne von mehreren miteinander konkurrierenden Anspruchsgrundlagen ist indes unzulässig (vgl. VIa ZR 8/21, BGHZ 233, 16 Rn. 17 mwN).

7Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht die Zulassung zwar wirksam auf deliktische Ansprüche beschränkt. Dagegen konnte das Berufungsgericht die Revision nicht wirksam auf eine Abschalteinrichtung "in Bezug auf die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung" begrenzen. Bei natürlicher Betrachtungsweise stellt die Implementierung diverser Abschalteinrichtungen bezogen auf eine Übereinstimmungsbescheinigung einen einheitlichen Lebensvorgang dar ( VIa ZR 533/21, NJW 2023, 2270 Rn. 34). Der maßgebliche Streitstoff besteht für die in Betracht kommenden Ansprüche nach §§ 826, 31 BGB und nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV darin, ob der Fahrzeughersteller auf der Grundlage einer erwirkten EG-Typgenehmigung und der hinzutretenden materiell unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung schuldhaft ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstetes Fahrzeug in den Verkehr gebracht und dadurch dem jeweiligen Fahrzeugerwerber einen an seine Vertrauensinvestition bei Kaufvertragsabschluss anknüpfenden Schaden zugefügt hat (vgl. VIa ZR 680/21, NJW-RR 2022, 1251 Rn. 26; Urteil vom - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 45, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ; Urteil vom - VIa ZR 1620/22, juris Rn. 6). Die einzelne Abschalteinrichtung ist dabei nur ein nicht für sich zulassungsfähiges Anspruchselement.

B.

8Die Revision ist in der Sache begründet.

I.

9Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:

10Die Beklagte hafte nicht gemäß §§ 826, 31 BGB. Bezogen auf die KSR und weiterer behaupteter Einrichtungen habe die Klägerin schon nicht ausreichend dargelegt, dass es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handele. Einzelne Fahrzeuge, die eine KSR enthielten, seien vom KBA nicht als mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen eingestuft worden, weil die Grenzwerte bei jenen Fahrzeugen auch ohne Nutzung dieser Funktion eingehalten würden. Unabhängig davon habe die Klägerin die Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung hinsichtlich Thermofenster und KSR unterstellt - nicht schlüssig behauptet. Es fehle an berücksichtigungsfähigem, auf tatsächliche Anhaltspunkte gestütztem Vortrag zu einem vorsätzlichen Verhalten von Repräsentanten der Beklagten. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 scheitere bereits daran, dass es sich bei diesen Normen nicht um Schutzgesetze handele.

II.

11Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

121. Soweit das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus §§ 826, 31 BGB mangels greifbarer Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten verneint hat, wendet die Revision zwar zutreffend ein, dass die Frage, ob es sich bei der KSR um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, unabhängig davon zu beantworten ist, ob die Grenzwerte auch ohne diese Funktion eingehalten würden.

13Ob die Grenzwerte unter den Bedingungen des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) auch bei veränderter Funktion eingehalten würden, ist mit Rücksicht auf den Wortlaut des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht von Bedeutung. Die Prüfung im NEFZ lässt nur in Bezug auf die dabei wirksamen Emissionskontrollsysteme Prognosen für den gewöhnlichen Fahrbetrieb zu und auch das nur dann, wenn die Wirksamkeit der betreffenden Systeme im gewöhnlichen Fahrbetrieb nicht verringert wird. Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 knüpft - ohne Rücksicht auf die jeweils eingesetzten Technologien - an die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit an und nicht an die Einhaltung der Grenzwerte im NEFZ (vgl. , NJW 2022, 3769 Rn. 92; VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 51).

14Es begegnet indessen keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB hinsichtlich des Thermofensters und der KSR mangels vorsätzlichen Verhaltens der für sie handelnden Repräsentanten verneint und hinsichtlich weiterer behaupteter Einrichtungen schon eine ausreichende Darlegung dazu vermisst hat, dass sie im Fahrzeug der Klägerin vorhanden sind. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.

152. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).

16Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

III.

17Das Berufungsurteil ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

18Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.

19Das Berufungsgericht wird zu beachten haben, dass auf der Grundlage von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV mögliche künftige Vermögensnachteile infolge der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung bereits bei der Bemessung des Differenzschadens zu berücksichtigen (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 76; zum "kleinen" Schadensersatz vgl. auch , BGHZ 230, 224 Rn. 23 f.; Urteil vom - VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033 Rn. 15) und deshalb nicht gesondert ersatzfähig sind (zum "kleinen" Schadensersatz vgl. aaO, Rn. 34). Dem Berufungsantrag zu 2 auf Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz weiterer Schäden wird das Berufungsgericht daher nur entsprechen können, wenn es sonstige Tatsachen feststellen sollte, aufgrund derer die Beklagte nach §§ 826, 31 BGB haftet (vgl. , NJW 2020, 2806 Rn. 29; Urteil vom - VIa ZR 1031/22, NJOZ 2023, 1133 Rn. 28).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:161023UVIAZR37.21.0

Fundstelle(n):
BB 2023 S. 2690 Nr. 47
NJW 2024 S. 49 Nr. 1
WM 2023 S. 2191 Nr. 47
YAAAJ-52490