Gesetze: § 261 StPO
Instanzenzug: LG Bielefeld Az: 1 KLs 23/20
Gründe
1Das Landgericht Bielefeld hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und wegen schweren sexuellen Missbrauchs „eines Kindes“ in 55 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
2Das vom Angeklagten geltend gemachte Verfahrenshindernis liegt nicht vor. Die Anklage genügt – wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat – ihrer Umgrenzungsfunktion und ist daher wirksam.
II.
3Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der Angeklagte in 50 Fällen (Ziffer II. 2. a) aa) der Urteilsgründe) seine damals neun Jahre und zehn Monate bis 13 Jahre alte Stieftochter, indem er sie mindestens einmal monatlich in der Zeit vom bis zum in ihrem Zimmer am unbedeckten Rücken, Gesäß, Bauch und an der Scheide streichelte, sodann einen Finger in ihre Scheide einführte und sich anschließend von ihr manuell am Glied befriedigen ließ, wobei es in einigen Fällen zum Samenerguss kam. In weiteren fünf Fällen (Ziffer II. 2. a) bb) der Urteilsgründe) missbrauchte er seine im Tatzeitraum neun bis 13 Jahre alte Stieftochter, indem er ihr beim gemeinsamen Baden in der Badewanne den Intimbereich streichelte und dabei einen Finger in ihre Scheide einführte. In einem weiteren Fall (Ziffer II. 2. b) bb) der Urteilsgründe) vollzog er im Mai 2005 an der inzwischen 15 Jahre alten Stieftochter in deren Zimmer in der Weise den Oralverkehr, dass er ihre Beine auseinander drückte und seine Zunge in ihre Scheide einführte. Dabei versuchte sie vergebens, ihre Beine zusammenzudrücken und den Kopf des Angeklagten wegzuschieben, weil der Angeklagte dagegen- und ihre Beine festhielt.
III.
4Das Urteil kann nicht bestehen bleiben, weil die Beweiswürdigung an durchgreifenden Darstellungsmängeln leidet und lückenhaft ist.
51. Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tatgeschehen im Wesentlichen auf die als vollumfänglich glaubhaft bewertete Zeugenaussage der Geschädigten gestützt. Zur Begründung hat es im Kern ausgeführt, dass diese das Tatgeschehen detailreich, ausführlich, in sich schlüssig und nachvollziehbar wiedergegeben habe. Dabei habe die Geschädigte originelle Details geschildert, eigene Gefühle preisgegeben, Erinnerungslücken eingeräumt und keine überschießende Belastungstendenz gezeigt. Die Entstehung der Aussage spreche ebenfalls für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Die Geschädigte habe erstmals im Alter von etwa 15 Jahren ihrer Freundin von den sexuellen Übergriffen erzählt. Mit 18 Jahren habe sie sich ihrem damaligen Partner und ihrer Mutter anvertraut und im Alter von 23/24 Jahren ihrem Arbeitskollegen. Schließlich habe sie mit ihrem jetzigen Ehemann hierüber gesprochen, bevor sie im September 2016 – inzwischen 26-jährig – Strafanzeige gegen den Angeklagten erstattet habe. Die Konstanz der Aussage der Geschädigten, die mittlerweile seit vielen Jahren die gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe aufrechterhalte, spreche gegen eine bewusste Falschaussage.
62. Diese Ausführungen werden den rechtlich gebotenen Darstellungsanforderungen nicht gerecht.
7a) Im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen gelten besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht seine Überzeugung allein auf die Angaben der Geschädigten stützt (vgl. Rn. 5 mwN; Beschluss vom – 1 StR 331/21 Rn. 9 mwN). Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist der entscheidende Teil der Aussage der einzigen Belastungszeugin in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben (vgl. etwa Rn. 11; Urteil vom – 1 StR 114/11 Rn. 14); grundsätzlich nicht ausreichend sind einzelne, aus dem Zusammenhang der Aussage gerissene Angaben. Die Darstellung hat auch vorangegangene, frühere Aussagen der Zeugin zu umfassen, denn anderenfalls kann das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat (vgl. Rn. 6; Beschluss vom – 2 StR 409/16 Rn. 20 mwN). Ungeachtet der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ist schließlich auch eine Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung des Angeklagten erforderlich (vgl. Rn. 13, 14; Beschluss vom – 1 StR 525/20 Rn. 15, 16).
8b) Gemessen daran reichen die Ausführungen im angefochtenen Urteil – gerade auch im Hinblick auf die 55 Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern – nicht aus, um zu belegen, dass die Geschädigte originelle Details geschildert, dabei eigene Gefühle preisgegeben, Erinnerungslücken eingeräumt und keine überschießende Belastungstendenz gezeigt habe. Die Darstellung der Aussage der Geschädigten in der Hauptverhandlung beschränkt sich auf die Mitteilung, die Zeugin habe „das Geschehen wie festgestellt geschildert“ (UA S. 11). Da auch ihre Angaben bei der Polizei im Ermittlungsverfahren und gegenüber Dritten nicht wiedergegeben werden, ist die Annahme einer Aussagekonstanz vom Senat nicht nachprüfbar. Schließlich vermag der Senat selbst dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe das Einlassungsverhalten des Angeklagten nicht zu entnehmen.
93. Darüber hinaus erweist sich die Beweiswürdigung als lückenhaft.
10a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen ein Denkgesetz oder einen gesicherten Erfahrungssatz verstößt (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 7 mwN; Urteil vom – 1 StR 180/06 Rn. 38 mwN).
11b) Danach war das Landgericht hier auch gehalten, die Möglichkeit einer unbewussten Falschbelastung des Angeklagten durch die Geschädigte zu erörtern. Denn nach den getroffenen Feststellungen nahm diese im Jahr 2014 für die Dauer von zwei Jahren eine Psychotherapie in Anspruch, bevor sie im September 2016 Strafanzeige gegen den Angeklagten erstattete. Im Jahr 2018 suchte die Geschädigte nach der Geburt ihres ersten Kindes erneut einen Psychologen auf und befindet sich seither zur Bewältigung ihres Alltags in ambulanter therapeutischer Behandlung. Insoweit lassen die Urteilsgründe eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob es durch diesen langen Zeitraum ambulanter psychotherapeutischer Gespräche zu suggestiven Einflüssen auf das Aussageverhalten der Geschädigten und infolgedessen zu Scheinerinnerungen gekommen sein könnte. Dies gilt im Besonderen für die Psychotherapie vor Anzeigeerstattung. Soweit das Landgericht in diesem Zusammenhang festgestellt hat, dass diese Therapie vorrangig der Bewältigung des Alltags gedient habe, während die sexuellen Übergriffe des Angeklagten nur am Rande aufgearbeitet worden seien, reicht dies vor dem Hintergrund, dass das Tatgeschehen danach zumindest auch thematisiert wurde und das Therapieende zeitlich in etwa mit der Anzeigeerstattung der Geschädigten zusammenfällt, nicht aus.
124. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung, ohne dass es des Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf.
135. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:
14Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird – sollte es wiederum zur Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gelangen – im Rahmen der Strafzumessung zu beachten haben, dass eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer einen bestimmenden Strafzumessungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO darstellt und ungeachtet eines geringeren Strafbedürfnisses auf Grund des zeitlichen Abstands zwischen Tatbegehung und Urteil sowie eines etwa gewährten Vollstreckungsabschlags bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist (vgl. nur Rn. 12 mwN).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:270923B4STR148.23.0
Fundstelle(n):
GAAAJ-51929