Aussetzung wegen vorgreiflicher Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Gesetze: § 94 VwGO
Gründe
I
1Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darüber, ob der Kläger von der Beklagten zu 1, einer bundesunmittelbaren Anstalt des öffentlichen Rechts, Verhandlungen über die Anpassung des Generalvertrages über die abschließende Finanzierung der ökologischen Altlasten im Freistaat Thüringen vom (im Folgenden: Generalvertrag) beanspruchen kann.
2Ziel des Generalvertrages war eine abschließende Vereinbarung über die künftige Abarbeitung der ökologischen Altlastenverpflichtungen durch den Kläger in eigener Finanzverantwortung und in eigener Regie ohne Rückkoppelung an den Bund (vgl. Präambel des Generalvertrages). Altlastenverpflichtungen ergaben sich einerseits daraus, dass die Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (im Folgenden: Treuhandanstalt) ehemalige volkseigene Unternehmen der DDR privatisierte und in vielen Fällen vertraglich von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Ansprüchen und anderen Kosten im Zusammenhang mit ökologischen Altlasten freistellte. Andererseits bestand für Unternehmen seit dem Inkrafttreten des Umweltrahmengesetzes vom (GBl. I S. 649) die Möglichkeit, von der Haftung für vor dem entstandene Altlasten freigestellt zu werden. Zuständig für die Bearbeitung der Anträge nach dem Umweltrahmengesetz waren die neu entstandenen Bundesländer. Dies führte dazu, dass Unternehmen teilweise sowohl privatisierungsvertraglich von der Haftung für ökologische Altlasten freigestellt wurden als auch Freistellungsanträge nach dem Umweltrahmengesetz stellten. In der Folge kam es zu Verzögerungen bei der Bearbeitung der Freistellungsanträge nach dem Umweltrahmengesetz. Darauf reagierten die Beklagte zu 2 und die neu entstandenen Bundesländer sowie das Land Berlin mit dem Abschluss des Verwaltungsabkommens über die Regelung der Finanzierung der ökologischen Altlasten vom (im Folgenden: Verwaltungsabkommen), in dem vereinbart wurde, dass sich die Treuhandanstalt mit 60 % bzw. 75 % an den Kosten der Freistellungen nach dem Umweltrahmengesetz beteiligt. Da auch das Verwaltungsabkommen nicht die erhoffte Beschleunigung der Antragsbearbeitung zur Folge hatte, einigten sich der Kläger und die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (im Folgenden: BvS) auf den Abschluss des Generalvertrages. Dieser sieht eine abschließende Abgeltung der Refinanzierungsverpflichtungen des Bundes und der BvS aus dem Verwaltungsabkommen gegenüber dem Kläger einerseits und die Übernahme der privatisierungsvertraglichen Verpflichtungen der BvS durch den Kläger andererseits vor. Der Kläger erhielt eine pauschalierte Einmalzahlung in Höhe von 443 778 000 DM. Nach § 2.5 des Generalvertrages sollten mit Abschluss und Durchführung des Vertrages auch im Falle von Mehr- oder Minderkosten grundsätzlich sämtliche Ansprüche ausgeglichen und erledigt sein. § 2.6 des Generalvertrages lautet:
Sollte nach Ablauf von 10 Jahren nach Wirksamwerden dieses Vertrages feststehen, dass dem Freistaat bis dahin aufgrund dieses Vertrages Mehrausgaben von über 20 % gegenüber den in § 2.1 angenommenen Gesamtkosten entstanden sind, so erklärt sich die BvS ausnahmsweise bereit, in Verhandlungen mit dem Freistaat einzutreten mit dem Ziel, einen Anteil an den 20 % überschreitenden Mehrausgaben entsprechend dem Finanzierungsschlüssel des Verwaltungsabkommens zu übernehmen.
Voraussetzung dafür ist, daß die Mehrausgaben nachweislich durch von beiden Vertragsparteien nicht erwartete neue Risiken in bezug auf ökologische Schäden verursacht wurden. Der Freistaat kann von der BvS in diesem Fall binnen eines Jahres unter Offenlegung und Nachweis der angefallenen Kosten und deren Ursachen die Aufnahme der vorgenannten Verhandlungen verlangen. Im übrigen verbleibt es bei der abschließenden Regelung nach § 2.5.
3Aus Sicht des Klägers sind die Voraussetzungen des § 2.6 des Generalvertrages seit 2017 erfüllt. Die Beklagten lehnen die Aufnahme von Verhandlungen über die Anpassung des Generalvertrages im Wesentlichen mit Verweis auf die Entstehung etwaiger Mehrkosten erst nach Ablauf von zehn Jahren ab. Im Juni 2021 hat der Kläger beim Bundesverfassungsgericht die Durchführung eines Bund-Länder-Streitverfahrens beantragt. Die Weigerung des Bundes verstoße gegen Art. 104a Abs. 1 GG sowie das Gebot der föderativen Gleichbehandlung und der Bundestreue. Mit Blick auf dieses Bund-Länder-Streitverfahren regen die Beteiligten die Aussetzung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens an.
II
4Die Aussetzung beruht auf § 94 VwGO. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet.
51. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens sind erfüllt.
6a) Gegenstand des beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Bund-Länder-Streitverfahrens zwischen dem Kläger und dem Bund ist ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 94 VwGO.
7Der Begriff des Rechtsverhältnisses in § 94 VwGO entspricht dem in § 43 Abs. 1 VwGO. Unter einem Rechtsverhältnis in diesem Sinne sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht (vgl. etwa 3 C 44.02 - Buchholz 418.32 AMG Nr. 37 S. 17). Der Kläger und der Bund streiten vor dem Bundesverfassungsgericht über das Bestehen einer solchen verdichteten Rechtsbeziehung. Der Kläger begehrt dort die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Weigerung des Bundes, sich an den weiteren Kosten der Altlastensanierung in Thüringen zu beteiligen und mit ihm unter Anwendung der Konditionen, wie sie mit dem Freistaat Sachsen vereinbart wurden, über die Anpassung des Generalvertrages zu verhandeln. Ein Verfassungsverstoß des Bundes setzt voraus, dass zwischen dem Kläger und dem Bund im konkreten Einzelfall verfassungsrechtliche Rechte und Pflichten bestehen und der Bund gegen eine verfassungsrechtliche Pflicht verstößt. Aus Sicht des Klägers bestehen solche Rechte und Pflichten aufgrund eines materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses, das sich aus Art. 104a Abs. 1 GG sowie dem Gebot der föderativen Gleichbehandlung ergebe. Der Kläger begehrt nicht lediglich eine bestimmte Interpretation einer Bestimmung des Grundgesetzes, sondern macht einen Anspruch geltend, den er unmittelbar aus der Verfassung herleitet. Damit unterscheidet sich das kontradiktorische Bund-Länder-Streitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG von den verwaltungs- und verfassungsrechtlichen Verfahren, in denen die Gültigkeit einer Rechtsnorm und damit eine abstrakte Rechtsfrage inmitten steht (siehe dazu BVerwG, Beschlüsse vom - 4 B 248.95 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 30 S. 2, vom - 3 B 55.99 - Buchholz 310 § 94 VwGO Nr. 13 S. 1, vom - 4 B 75.00 - Buchholz 310 § 94 VwGO Nr. 15 S. 6, vom - 6 B 21.06 - Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 208 Rn. 5, vom - 2 C 1.14 - Buchholz 11 Art. 91e GG Nr. 1 Rn. 3 und vom - 9 C 18.16 - juris Rn. 1; - juris Rn. 5).
8b) Die Entscheidung im vorliegenden Verfahren hängt von der Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens dieses (Verfassungs-)Rechtsverhältnisses ab.
9aa) Im Rahmen der Prüfung des Bestehens oder Nichtbestehens dieses (Verfassungs-)Rechtsverhältnisses durch das Bundesverfassungsgericht sind Ausführungen zu erwarten, die jedenfalls den im vorliegenden Verfahren geltend gemachten vertraglichen Anspruch auf Vertragsanpassung rechtlich beeinflussen.
10Das Bundesverfassungsgericht prüft zwar nicht, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen aus § 2.6 des Generalvertrages ganz oder teilweise erfüllt sind. Es hat aber ausgehend von den konkreten Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, ob der Bund gegen Art. 104a Abs. 1 GG und/oder das Gebot der föderativen Gleichbehandlung und der Bundestreue verstößt, indem er sich weigert, in Verhandlungen über die Anpassung des Generalvertrages einzutreten, und dies damit begründet, dass eine vertragliche Regelung zur abschließenden Bestimmung der Refinanzierungsverpflichtungen des Bundes gegenüber dem Kläger (§ 2.5 des Generalvertrages) sowie eine Abrede bestehe, die Nachverhandlungen abschließend nur für innerhalb der ersten zehn Jahre nach Wirksamwerden des Vertrages entstandene Mehrkosten vorsehe (§ 2.6 des Generalvertrages). Sollte das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass eine derart eingeschränkte Möglichkeit der Vertragsnachverhandlung, wie sie in § 2.5 und § 2.6 des Generalvertrages vorgesehen ist, gegen Art. 104a Abs. 1 GG verstößt, stünde auch fest, dass das Verständnis der Beklagten von § 2.6 des Generalvertrages einen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot im Sinne von § 59 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 134 BGB zur Folge hat (vgl. 10 C 7.15 - BVerwGE 155, 230 Rn. 16). Die Frage der verfassungskonformen Auslegung des § 2.6 des Generalvertrages stellt sich auch im vorliegenden Verfahren in entscheidungserheblicher Weise.
11bb) Als vorgreiflich könnte sich auch die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens dieses (Verfassungs-)Rechtsverhältnisses erweisen, sofern sich das Bundesverfassungsgericht der Auffassung des Klägers anschließt, dass ihm unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen aus § 2.6 des Generalvertrages ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Vertragsanpassung zustehe. Ob ein auf eine verfassungsunmittelbare Anspruchsgrundlage gestützter Anspruch vom bereits anhängig gemachten verwaltungsgerichtlichen Streitgegenstand umfasst wäre, richtet sich danach, ob der prozessuale Anspruch, der durch die erstrebte, im Klageantrag zum Ausdruck gebrachte Rechtsfolge sowie durch den Klagegrund, nämlich den Sachverhalt, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll, gekennzeichnet ist (vgl. etwa 8 C 2.12 - Buchholz 316 § 49a VwVfG Nr. 12 Rn. 12), identisch ist und eine Anspruchsnormenkonkurrenz vorliegt. Es hängt von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einer etwaigen Existenz eines verfassungsunmittelbaren Anspruchs auf Vertragsanpassung ab, ob dies der Fall ist. Entscheidend ist, wie die jeweilige Rechtsgrundlage von der Rechtsordnung ausgestaltet ist ( 7 C 7.15 - juris Rn. 7).
12Sollte von eigenständigen Streitgegenständen auszugehen sein, könnte der Kläger einen etwaigen verfassungsunmittelbaren Anspruch im Wege der nachträglichen Klagehäufung, die bei Einwilligung der Beklagten oder Sachdienlichkeit zulässig wäre (§ 91 Abs. 1 VwGO), zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens machen.
13cc) Der Vorgreiflichkeit steht nicht entgegen, dass die Beklagte zu 1 am Bund-Länder-Streitverfahren nicht beteiligt ist. Denn sie untersteht der Rechtsaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen, die, soweit sie Aufgaben aus dem Geschäftsbereich eines anderen Bundesministeriums erledigt, von dem anderen Bundesministerium ausgeübt wird (§ 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben <BGBl. I S. 3235>). Sollte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Weigerung des Bundes feststellen, stünde auch fest, dass das zuständige Bundesministerium gehalten wäre, im Wege der Rechtsaufsicht auf die Beklagte zu 1 einzuwirken.
142. Die Aussetzung nach § 94 VwGO wegen Vorgreiflichkeit liegt im Ermessen des Gerichts ( 4 B 75.00 - Buchholz 310 § 94 VwGO Nr. 15 S. 6). Es erscheint sachgerecht, den Ausgang des Bund-Länder-Streitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht abzuwarten.
15Die Aussetzung vermeidet die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen, die droht, wenn der Senat im vorliegenden Verfahren über die verfassungskonforme Auslegung des § 2.6 des Generalvertrages entscheidet und das Bundesverfassungsgericht prüft, ob der Bund gegen verfassungsrechtliche Vorgaben verstößt, indem er die Weigerung der Vertragsnachverhandlungen im Wesentlichen mit dem Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vertragsklausel begründet. Sollte sich das Bundesverfassungsgericht zur Verfassungskonformität des Verständnisses der Beklagten von § 2.6 des Generalvertrages verhalten, ist der Senat nach § 31 Abs. 1 BVerfGG an diese Ausführungen rechtlich gebunden. Denn an der Bindungswirkung der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts nehmen nicht nur der Entscheidungsausspruch, hier eine etwaige Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens des Bundes, sondern auch die tragenden Entscheidungsgründe teil (vgl. - juris Rn. 16). Die Aussetzung des Verfahrens ermöglicht es dem sachnäheren Bundesverfassungsgericht, sich vorrangig mit den finanzverfassungsrechtlichen Fragen beim Zusammentreffen von privatisierungsvertraglichen Freistellungen und Freistellungen nach dem Umweltrahmengesetz auseinanderzusetzen. Zudem entspricht der Verfahrensstillstand im vorliegenden Verfahren dem übereinstimmenden Willen der Beteiligten, die die Aussetzung angeregt haben. Aus diesen Gründen wiegt es weniger schwer, dass derzeit ungewiss ist, wann in dem anhängigen Bund-Länder-Streitverfahren eine Entscheidung ergeht, und dass sich die Erledigung des vorliegenden Verfahrens verzögert.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:270923B10A4.23.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-51658