BGH Beschluss v. - XIII ZB 22/20

Instanzenzug: LG Schweinfurt Az: 11 T 21/20vorgehend AG Schweinfurt Az: 03 XIV 77/20 (B)

Gründe

1I. Der Betroffene, ein ivorischer Staatsangehöriger, reiste am erstmals in das Bundesgebiet ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom ab und drohte ihm die Abschiebung an.

2Mit Urteil vom verhängte das Amtsgericht Schweinfurt gegen den Betroffenen eine Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,00 € wegen Sachbeschädigung und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Am verurteilte ihn das Amtsgericht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in drei tateinheitlichen Fällen, Sachbeschädigung in zwei Fällen, versuchter Nötigung, unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte sowie Beleidigung in vier Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr.

3Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen mit Beschluss vom Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum Ablauf des angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf der Haft die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.

4II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

51. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft hätten vorgelegen, weil der Betroffene wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Daraus ergebe sich ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG. Der Betroffene habe durch sein Verhalten gezeigt, dass er der Rechtsordnung ablehnend gegenüberstehe und daher auch der Ausreisepflicht nicht nachkommen werde.

62. Das hält rechtlicher Überprüfung stand. Das Beschwerdegericht hat die Annahme der Fluchtgefahr zutreffend auf § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG gestützt.

7a) Nach § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG kann es einen konkreten Anhaltspunkt für Fluchtgefahr darstellen, wenn der Ausländer wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Erforderlich sind mindestens zwei strafrechtliche Verurteilungen, wobei zumindest auf Grund einer Straftat eine Freiheitsstrafe verhängt worden sein muss. Diese Verurteilungen genügen allein jedoch nicht für die Annahme von Fluchtgefahr. Vielmehr muss durch das Verhalten des Ausländers zu Tage treten, dass er der deutschen Rechtsordnung ablehnend oder gleichgültig gegenübersteht und deshalb zu erwarten ist, dass er auch anderen gesetzlichen Pflichten wie der Ausreisepflicht, die zu sichern die Abschiebungshaft einzig dient, nicht freiwillig nachkommen wird; zudem ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt (, juris Rn. 10, mwN).

8b) Weder die Vorschrift selbst noch ihre Anwendung im konkreten Fall verstoßen gegen höherrangiges Recht.

9aa) Die Vorschrift steht in Einklang mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Verhältnismäßigkeitsgebot. Die nach den vorstehenden Maßgaben vom Haftrichter vorzunehmende Gesamtwürdigung stellt sicher, dass Abschiebungshaft nur dann angeordnet werden kann, wenn ein konkreter sachlicher Zusammenhang zwischen den mehrfachen strafrechtlichen Verurteilungen und der Annahme von Fluchtgefahr gegeben ist. Daher besteht auch, anders als die Rechtsbeschwerde meint, kein Konflikt mit Art. 15 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger.

10bb) Die Anwendung der Vorschrift verstößt auch nicht etwa gegen das ebenfalls in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rückwirkungsverbot, weil sich das Beschwerdegericht bei der Prüfung der Vorschrift des § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG auf Verurteilungen des Betroffenen gestützt hat, die vor dem Inkrafttreten der Norm ergangen sind.

11(1) Eine echte Rückwirkung, die grundsätzlich gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstößt und daher unzulässig ist, liegt nur dann vor, wenn nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingegriffen wird (vgl. BVerfG, NVwZ 2016, 300 Rn. 41; NJW 2021, 2424 Rn. 52; BVerfGE 155, 238 Rn. 135). Hingegen liegt eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung vor, wenn eine Rechtsnorm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet, die belastenden Rechtsfolgen also erst nach der Verkündung einer Norm eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ("tatbestandliche Rückanknüpfung"; st. Rspr., BVerfGE 155, 238 Rn. 130 f.; BVerfG, NJW 2021, 2424 Rn. 53, mwN; , NVwZ-RR 2022, 533 Rn. 31 - Sanktion bei Meldepflichtverstoß). Die Grenzen, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip einer solchen unechten Rückwirkung setzt, sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (BVerfGE 155, 238 Rn. 131).

12(2) Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei der Bezugnahme auf die in Rede stehenden Verurteilungen und die darauf beruhende Annahme von Fluchtgefahr um eine unechte Rückwirkung, weil § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG nur Rechtsfolgen für zukünftige Sachverhalte regelt, es für die Beurteilung der Frage, ob Fluchtgefahr besteht, aber nicht ausschließt, dass bei einer auf diese Vorschrift gestützten Haftanordnung solche Verurteilungen berücksichtigt werden, die vor ihrem Inkrafttreten ergangen sind. Die Berücksichtigung solcher Verurteilungen erweist sich weder als ungeeignet noch als nicht erforderlich für die vom Gesetzgeber intendierte Erhöhung der Zahl tatsächlicher Ausreisen von ausreisepflichtigen Ausländern (BT-Drucks. 19/10047, S. 25). Es ist weder ersichtlich, dass ein etwaiges Interesse des betroffenen Ausländers, bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits vorliegende qualifizierte strafrechtliche Verurteilungen könnten in der Zukunft nicht mehr als Grundlage für die Begründung von Fluchtgefahr herangezogen werden, schutzwürdig wäre, noch, dass ein solches Interesse die mit der Vorschrift verfolgten öffentlichen Interessen überwöge.

133. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG). Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:120923BXIIIZB22.20.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-51553