BGH Urteil v. - VI ZR 97/22

Vorlagefragen zum unionsrechtlichen Unterlassungsanspruchs und zum Begriff des immateriellen Schadens nach der Datenschutz-Grundverordnung

Leitsatz

Vorlagefragen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 17, Art. 18, Art. 79, Art. 82 Abs. 1 und Art. 84 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung, DSGVO, ABl. EU L 119 vom , S. 1) zur Frage des Bestehens eines unionsrechtlichen Unterlassungsanspruchs der betroffenen Person, deren personenbezogene Daten von dem Verantwortlichen unrechtmäßig durch Weiterleitung offengelegt wurden, bzw. zu der insoweit bestehenden Möglichkeit eines Rückgriffs auf das nationale Recht und zum Begriff des immateriellen Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

Gesetze: Art 17 EUV 2016/679, Art 18 EUV 2016/679, Art 79 EUV 2016/679, Art 82 Abs 1 EUV 2016/679, Art 84 EUV 2016/679, Art 2 Abs 1 GG, § 253 BGB, § 823 BGB, § 1004 Abs 1 BGB

Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 13 U 206/20 Urteilvorgehend LG Darmstadt Az: 13 O 244/19 Urteilanhängig EuGH Az: C-655/23

Gründe

1I. Sachverhalt und Ausgangsrechtsstreit

2Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Weitergabe persönlicher Daten auf Unterlassung und Ersatz immateriellen Schadens in Anspruch.

31. Der Kläger befand sich bei der beklagten Privatbank in einem Bewerbungsprozess, der über das Online-Portal Xing stattfand. Im Zuge dessen versandte eine Mitarbeiterin der Beklagten über den Messenger-Dienst des Portals am eine nur für den Kläger bestimmte Nachricht auch an eine dritte, nicht am Bewerbungsprozess beteiligte Person. Die Nachricht hatte den folgenden Inhalt:

"Lieber Herr K[Nachname des Klägers], ich hoffe es geht Ihnen gut! Unser Leiter - Herr R[…] - findet ihr Händler Profil sehr interessant. Jedoch können wir Ihre Gehaltsvorstellungen nicht erfüllen. Er kann 80k + variable Vergütung anbieten. Wäre das unter diesen Gesichtspunkten weiterhin für Sie interessant? Ich freue mich von Ihnen zu hören und wünsche Ihnen einen guten Start in den Dienstag. Viele Grüße, I[…] J[…]"

4Der Dritte, der mit dem Kläger vor einiger Zeit in derselben Holding gearbeitet hatte und ihn deshalb kannte, leitete die Nachricht an den Kläger weiter und fragte, ob es sich um eine Nachricht für den Kläger handele und ob dieser auf Stellensuche sei.

52. Der Kläger macht geltend, sein - immaterieller - Schaden liege nicht im abstrakten Kontrollverlust über die offenbarten Daten, sondern darin, dass nunmehr mindestens eine weitere Person, die den Kläger und potentielle wie ehemalige Arbeitgeber kenne, über Umstände Kenntnis habe, die der Diskretion unterlägen. Es sei zu befürchten, dass der in der gleichen Branche tätige Dritte die in der Nachricht enthaltenen Daten weitergegeben habe oder sich durch ihre Kenntnis als Konkurrent auf etwaige Stellen im Bewerbungsprozess einen Vorteil habe verschaffen können. Zudem empfinde er das "Unterliegen" in den Gehaltsverhandlungen als Schmach, die er nicht an Dritte - vor allem nicht an potentielle Konkurrenten - weitergegeben hätte.

6Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es künftig zu unterlassen, personenbezogene Daten über den Kläger, die im Zusammenhang mit seiner Bewerbung stehen, zu verarbeiten / verarbeiten zu lassen, wenn dies geschieht wie in der Nachricht über das Portal Xing an Herrn F. W. am , und an den Kläger immateriellen Schadensersatz von mindestens 2.500 € zu zahlen.

73. Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben, die Beklagte antragsgemäß zur Unterlassung verurteilt und dem Kläger einen Betrag in Höhe von 1.000 € nebst Zinsen zuerkannt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf immateriellen Schadensersatz abgeändert und die Klage insoweit abgewiesen.

8Das Berufungsgericht hat angenommen, dem Kläger stehe gegen die Beklagte aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO ein Anspruch auf Unterlassung der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten zu, sofern diese in der Form erfolge wie mit der streitgegenständlichen Nachricht. Die erforderliche Wiederholungsgefahr sei gegeben. Hingegen stehe dem Kläger kein Anspruch auf Schadensersatz aus Art. 82 DSGVO zu, da es jedenfalls an der Darlegung des Eintritts eines Schadens bei dem Kläger fehle. Zwar liege ein Datenschutzverstoß durch die Übermittlung personenbezogener Daten an einen unbeteiligten Dritten vor. Über den festgestellten Verstoß hinaus sei Voraussetzung für eine Entschädigung in Geld jedoch der Nachweis eines konkreten - auch immateriellen - Schadens. Einen solchen habe der Kläger nicht dargetan. Sein Vortrag erschöpfe sich in der Darlegung eines Datenschutzverstoßes. Selbst bei Unterstellung einer "Schmach" sei diese nicht als immaterieller Schaden zu bewerten.

9Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, mit der er seine Ansprüche in vollem Umfang weiterverfolgt. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die vollständige Abweisung der Klage.

10II. Möglicherweise auf den Fall anwendbare Vorschriften des nationalen Rechts

1. Artikel 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG):

"Artikel 2

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) ..."

2. § 253 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB):

"§ 253 Immaterieller Schaden

(1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.

(2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden."

3. § 823 BGB:

"§ 823 Schadensersatzpflicht

(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein."

4. § 1004 BGB (hier analoge Anwendung auf die Verletzung absoluter Rechte im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB oder die Verletzung eines Schutzgesetzes im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB):

"§ 1004 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch

(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

(2) …"

11III. Zur Vorlage an den Gerichtshof

12Der Erfolg der Revisionen der Parteien hängt von der Auslegung des Unionsrechts ab.

131. Zur Anwendbarkeit des Unionsrechts

14a) Der zeitliche (Art. 99 Abs. 2 DSGVO) und räumliche (Art. 3 Abs. 1 DSGVO) Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung ist eröffnet. Die Verordnung ist auch sachlich anwendbar (Art. 2 Abs. 1 DSGVO). Die streitgegenständliche Nachricht enthielt durch die Angabe des Nachnamens des Klägers, seines der Anrede zu entnehmenden Geschlechts, der Tatsache des laufenden Bewerbungsverfahrens sowie der Haltung der Beklagten zur Bewerbung des Klägers und seiner - hinsichtlich ihrer Größenordnung mittelbar offengelegten - Gehaltsvorstellung personenbezogene Daten im Sinne des Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Denn diese Angaben bezogen sich auf eine von der Beklagten (für die Datenverarbeitung Verantwortliche im Sinne des Art. 4 Nr. 7 DSGVO), der Kontaktdaten und Lebenslauf des Klägers vorlagen, identifizierte oder zumindest identifizierbare natürliche Person. Die Versendung der Nachricht durch eine Mitarbeiterin der Beklagten mittels des Messenger-Dienstes eines Online-Portals an einen Dritten stellt eine (teilweise) automatisierte Verarbeitung der personenbezogenen Daten in Form der in Art. 4 Nr. 2 DSGVO beispielhaft genannten Offenlegung durch Übermittlung dar.

15b) Die Beklagte hat gegen Bestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung verstoßen. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, dass die angegriffene Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers durch die Beklagte gemäß Art. 6 Abs. 1 DSGVO unrechtmäßig, insbesondere nicht durch eine Einwilligung des Klägers gedeckt war. Die Beklagte macht auch nicht geltend, dass die Verarbeitung nach dieser Vorschrift rechtmäßig gewesen wäre.

162. Zu den Vorlagefragen 1a) und 1b)

17"1a) Ist Art. 17 DSGVO dahingehend auszulegen, dass der betroffenen Person, deren personenbezogene Daten von dem Verantwortlichen unrechtmäßig durch Weiterleitung offengelegt wurden, ein Anspruch gegen den Verantwortlichen auf Unterlassung einer erneuten unrechtmäßigen Weiterleitung dieser Daten zusteht, wenn sie vom Verantwortlichen keine Löschung der Daten verlangt?

181b) Kann sich ein solcher Unterlassungsanspruch (auch) aus Art. 18 DSGVO oder einer sonstigen Bestimmung der DSGVO ergeben?"

19Der Kläger begehrt nicht die Löschung seiner unter Verstoß gegen die DSGVO verarbeiteten personenbezogenen Daten, sondern will vorbeugend eine Wiederholung der unrechtmäßigen Verarbeitung im Wege einer Unterlassungsklage verhindern. Ob der Kläger dieses Begehren auf Art. 17 Abs. 1 DSGVO stützen kann, wie das Berufungsgericht angenommen hat, ist fraglich. Die Frage ist für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich und weder durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt noch im Übrigen klar zu beantworten.

20a) Der Senat hat allerdings in Fällen, in denen die Kläger Betreiber von Internetsuchmaschinen im Zusammenhang mit dem Begehren auf Auslistung bestimmter Ergebnislinks auch auf Unterlassung in Anspruch genommen haben, angenommen, dass das in Art. 17 Abs. 1 DSGVO niedergelegte "Recht auf Löschung" schon aufgrund der für den Betroffenen letztlich unwägbaren und zudem stetem Entwicklungsfortschritt unterworfenen technischen Voraussetzungen der beanstandeten Datenverarbeitung nicht auf das schlichte Löschen von Daten zu verengen ist, sondern unabhängig von der technischen Umsetzung auch das Begehren umfasst, eine erneute Listung zu unterlassen (vgl. , ECLI:DE:BGH:2020:270720:UVIZR405.18.0, BGHZ 226, 285 Rn. 1, 17, 35; vom - VI ZR 476/18, ECLI:DE:BGH:2023:230523UVIZR476.18.0, juris Rn. 28). Davon ist offensichtlich auch der Gerichtshof in seiner Entscheidung vom in der Rechtssache C-460/20 ausgegangen (vgl. EuGH, ECLI:EU:C:2022:962, AfP 2023, 42 Rn. 82 f.). Entsprechend hat der Senat einen sich aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO ergebenden Unterlassungsanspruch auch in Fällen für möglich gehalten, in denen die Kläger neben der Löschung ihrer personenbezogenen Daten aus der Datenbank eines Bewertungsportals die Unterlassung der Veröffentlichung eines sie betreffenden Profils auf diesem Portal begehrt haben (vgl. , ECLI:DE:BGH:2021:121021UVIZR489.19.0, BGHZ 231, 263 Rn. 3, 10; vom - VI ZR 54/21, ECLI:DE:BGH:2022:131222UVIZR54.21.0, AfP 2023, 149 Rn. 3 f., 40).

21b) Damit ist aber noch nicht geklärt, ob Art. 17 DSGVO auch als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, wenn die von einer rechtswidrigen Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten betroffene Person nicht die Löschung dieser Daten begehrt, sondern wie im Streitfall - neben der Forderung nach Ausgleich des entstandenen immateriellen Schadens - allein präventiv einen erneut drohenden gleichartigen Verstoß gegen die DSGVO verhindern möchte. Auch wenn Art. 17 DSGVO seinem Wortlaut nach ein derartiges Recht auf Unterlassung nicht vorsieht, könnte für eine Bejahung dieser Frage sprechen, dass der Verantwortliche das Unterlassungsbegehren grundsätzlich dadurch erfüllen kann, dass er die unrechtmäßig verarbeiteten Daten löscht und so einen erneuten gleichartigen Verstoß gegen die DSGVO ausschließt. Lehnt die betroffene Person die Löschung ab, stehen ihr die Rechte aus Art. 18 DSGVO zu (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b DSGVO). In diesem Fall stellt sich die Frage, ob das Recht der betroffenen Person auf Einschränkung der Verarbeitung nach Art. 18, Art. 4 Nr. 3 DSGVO auch einen Anspruch auf Unterlassung im oben dargestellten Sinn umfasst. Ob sich aus den Bestimmungen der DSGVO - eventuell auch unter Heranziehung von Art. 79 DSGVO - ein unionsrechtlicher Unterlassungsanspruch außerhalb der oben dargestellten, bereits höchstrichterlich entschiedenen Fallkonstellationen ergibt, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (zum diesbezüglichen Streitstand vgl. etwa Leibold/Laoutoumai, ZD-Aktuell 2021, 05583 mwN; Martini in Paal/Pauly, DSGVO, 3. Aufl., Art. 79 Rn. 17 und Art. 82 Rn. 10; Kreße in Sydow/Marsch, DSGVO, 3. Aufl., Art. 79 Rn. 11; Boehm in Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht, Art. 82 DSGVO Rn. 29; Spindler/Dalby in Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl., Art. 79 DSGVO Rn. 17 und Spindler/Horvath aaO, Art. 82 DSGVO Rn. 4 f.; Mantz/Spittka in Sassenberg/Faber, Rechtshandbuch Industrie 4.0 und Internet of Things, 2. Aufl., § 6 Rn. 119, 122).

223. Zur zweiten Vorlagefrage

23"Falls Fragen 1a) und/oder 1b) bejaht werden:

24a) Besteht der unionsrechtliche Unterlassungsanspruch nur dann, wenn künftig weitere Beeinträchtigungen der durch die DSGVO geschützten Rechte der betroffenen Person zu besorgen sind (Wiederholungsgefahr)?

25b) Wird das Bestehen der Wiederholungsgefahr gegebenenfalls aufgrund des bereits vorliegenden Verstoßes gegen die DSGVO vermutet?"

26Der auf eine bereits erfolgte Rechtsverletzung gestützte, aber in die Zukunft gerichtete Unterlassungsanspruch setzt nach nationalem Recht voraus, dass künftig weitere Beeinträchtigungen des Rechts des Anspruchsstellers zu besorgen sind, also eine Wiederholungsgefahr vorliegt, wobei hierfür aufgrund des bereits erfolgten Verstoßes eine tatsächliche Vermutung besteht, die vom Anspruchsgegner jedoch entkräftet werden kann (st. Rspr.; vgl. zum Unterlassungsanspruch bei Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB, Art. 2 Abs. 1 GG vor Inkrafttreten der DSGVO Senatsurteil vom - VI ZR 175/14, ECLI:DE:BGH:2015:150915UVIZR175.14.0, BGHZ 206, 347 Rn. 30; zum Unterlassungsanspruch bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vgl. nur Senatsurteil vom - VI ZR 166/19, ECLI:DE:BGH:2021:270421UVIZR166.19.0, NJW 2021, 3334 Rn. 21, 23 mwN). Nach Ansicht des Senats müsste dies aufgrund der Natur des Unterlassungsanspruchs auch dann gelten, wenn er sich unionsrechtlich aus der DSGVO ergibt. Geklärt ist dies durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs aber noch nicht.

274. Zur dritten Vorlagefrage

28"Falls Fragen 1a) und 1b) verneint werden:

Sind Art. 84 i.V.m. Art. 79 DSGVO dahingehend auszulegen, dass sie es dem nationalen Richter erlauben, der betroffenen Person, deren personenbezogene Daten von dem Verantwortlichen unrechtmäßig durch Weiterleitung offengelegt wurden, neben dem Ersatz des materiellen oder immateriellen Schadens nach Art. 82 DSGVO und den sich aus Art. 17 und Art. 18 DSGVO ergebenden Ansprüchen einen Anspruch gegen den Verantwortlichen auf Unterlassung einer erneuten unrechtmäßigen Weiterleitung dieser Daten nach den Bestimmungen des nationalen Rechts zuzusprechen?"

29Wenn nach den Bestimmungen der DSGVO kein unionsrechtlicher Unterlassungsanspruch in Betracht kommt, stellt sich die Frage, ob insoweit über Art. 84 i.V.m. Art. 79 DSGVO auf das nationale Recht zurückgegriffen werden kann oder ob dem das Ziel eines gleichmäßigen Datenschutzniveaus innerhalb der Union (vgl. Erwägungsgrund 9 und 10 zur DSGVO) entgegensteht. Auch diese Frage ist durch den Gerichtshof bisher nicht geklärt und in Rechtsprechung und Literatur umstritten (vgl. auch insoweit zum Streitstand Leibold/Laoutoumai, ZD-Aktuell 2021, 05583 mwN; Martini in Paal/Pauly, DSGVO, 3. Aufl., Art. 79 Rn. 17; Kreße in Sydow/Marsch, DSGVO, 3. Aufl., Art. 79 Rn. 30; zum Verhältnis der Ansprüche nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) zur DSGVO Wolff, ZD 2018, 248, 251). Nach dem nationalen Recht kann ein Anspruch auf Unterlassung in entsprechender Anwendung des § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 823 BGB bestehen, wenn weitere Beeinträchtigungen zu besorgen sind (vgl. zum Unterlassungsanspruch bei Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 analog, § 823 Abs. 1 BGB, Art. 2 Abs. 1 GG Senatsurteil vom - VI ZR 175/14, ECLI:DE:BGH:2015:150915UVIZR175.14.0, BGHZ 206, 347 Rn. 18; zum Unterlassungsanspruch beim Verstoß gegen ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 Satz 1 BGB vgl. , NJW 2008, 3565 Rn. 13 mwN).

305. Zur vierten Vorlagefrage

31"Ist Art. 82 Abs. 1 DSGVO dahingehend auszulegen, dass für die Annahme eines immateriellen Schadens im Sinne dieser Bestimmung bloße negative Gefühle wie z.B. Ärger, Unmut, Unzufriedenheit, Sorge und Angst, die an sich Teil des allgemeinen Lebensrisikos und oft des täglichen Erlebens sind, genügen? Oder ist für die Annahme eines Schadens ein über diese Gefühle hinausgehender Nachteil für die betroffene natürliche Person erforderlich?"

32a) In seiner Entscheidung vom in der Rechtssache C-300/21 hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 82 Abs. 1 DSGVO dahin auszulegen ist, dass der bloße Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Verordnung nicht ausreicht, um einen Schadenersatzanspruch zu begründen, sondern darüber hinaus der Eintritt eines Schadens erforderlich ist (ECLI:EU:C:2023:370, WRP 2023, 686 Rn. 31 ff., 42). Er hat weiter ausgeführt, dass Art. 82 Abs. 1 DSGVO einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, die den Ersatz eines immateriellen Schadens im Sinne dieser Bestimmung davon abhängig macht, dass der der betroffenen Person entstandene Schaden einen bestimmten Grad an Erheblichkeit erreicht hat (WRP 2023, 686 Rn. 51). Allerdings hat der Gerichtshof auch erklärt (aaO Rn. 50), dass die Ablehnung einer Erheblichkeitsschwelle nicht bedeutet, dass eine Person, die von einem Verstoß gegen die DSGVO betroffen ist, der für sie negative Folgen gehabt hat, vom Nachweis befreit wäre, dass diese Folgen einen immateriellen Schaden im Sinne von Art. 82 dieser Verordnung darstellen. Der Gerichtshof hat zur Auslegung von Art. 82 DSGVO darüber hinaus unter anderem auf die Erwägungsgründe 75 und 85 Bezug genommen (aaO Rn. 37). Darin wird der Begriff des Schadens konkretisiert durch einzeln aufgeführte Beispiele "oder andere erhebliche wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile für die betroffene natürliche Person".

33b) Angesichts des im Streitfall vorliegenden Verstoßes gegen die DSGVO und der von dem Betroffenen geltend gemachten Folgen, nämlich der Befürchtung der Weitergabe der Daten an in der gleichen Branche tätige Dritte, Kenntnis einer Person über Umstände, die der Diskretion unterliegen, Schmach wegen des Unterliegens in Gehaltsverhandlungen und der Kenntnis Dritter davon, stellt sich vor diesem Hintergrund die entscheidungserhebliche, über den Einzelfall hinaus bedeutsame und vom Gerichtshof noch nicht geklärte Frage, ob Art. 82 Abs. 1 DSGVO dahingehend auszulegen ist, dass derartige negative Gefühle, wie z.B. auch Ärger, Unmut, Unzufriedenheit, Sorge und Ängste vor weiteren Verstößen, Sorge vor einer Rufschädigung, die an sich Teil des allgemeinen Lebensrisikos und oft des täglichen Erlebens sind, bereits einen immateriellen Schaden im Sinne der Norm darstellen. Weder Art. 82 DSGVO noch die Erwägungsgründe zum Schadensersatz liefern eine eindeutige Antwort auf diese Frage (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom in der Rechtssache C-340/21, ECLI:EU:C:2023:253, Celex-Nr. 62021CC0340 Rn. 70 f., juris).

346. Zur fünften Vorlagefrage

35"Ist Art. 82 Abs. 1 DSGVO dahingehend auszulegen, dass bei der Bemessung der Höhe des zu ersetzenden immateriellen Schadens der Grad des Verschuldens des Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiters bzw. seiner Mitarbeiter ein relevantes Kriterium darstellt?"

36a) In seiner Entscheidung vom in der Rechtssache C-300/21 hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die DSGVO keine Bestimmung enthält, die sich den Regeln für die Bemessung des Schadenersatzes widmet, auf den eine betroffene Person im Sinne von Art. 4 Nr. 1 dieser Verordnung nach deren Art. 82 Anspruch hat, wenn ihr durch einen Verstoß gegen diese Verordnung ein Schaden entstanden ist. Daher seien die Ausgestaltung von Klageverfahren, die den Schutz der dem Einzelnen aus Art. 82 DSGVO erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, und insbesondere die Festlegung der Kriterien für die Ermittlung des Umfangs des in diesem Rahmen geschuldeten Schadenersatzes in Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften Aufgabe des Rechts des einzelnen Mitgliedstaats, wobei der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten seien (ECLI:EU:C:2023:370, WRP 2023, 686 Rn. 54 mwN, 59).

37Was den Effektivitätsgrundsatz betrifft, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, festzustellen, ob die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten für die gerichtliche Festsetzung des Schadenersatzes, der aufgrund des in Art. 82 DSGVO verankerten Schadenersatzanspruchs geschuldet wird, die Ausübung der durch das Unionsrecht und insbesondere durch diese Verordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Er hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der sechste Satz des 146. Erwägungsgrundes der DSGVO besagt, dass dieses Instrument einen "vollständigen und wirksamen Schadenersatz für den erlittenen Schaden" sicherstellen soll und in Anbetracht der Ausgleichsfunktion des in Art. 82 DSGVO vorgesehenen Schadenersatzanspruchs eine auf diese Bestimmung gestützte finanzielle Entschädigung als "vollständig und wirksam" anzusehen ist, wenn sie es ermöglicht, den aufgrund des Verstoßes gegen diese Verordnung konkret erlittenen Schaden in vollem Umfang auszugleichen, ohne dass ein solcher vollumfänglicher Ausgleich die Verhängung von Strafschadenersatz erfordert (ECLI:EU:C:2023:370, WRP 2023, 686 Rn. 56 ff.).

38b) Damit erscheint aber noch nicht hinreichend geklärt, ob bei der Bemessung der Höhe des nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu ersetzenden immateriellen Schadens der Grad des dem Verstoß gegen die DSGVO zugrundeliegenden Verschuldens als relevantes Kriterium herangezogen werden darf (vgl. hierzu auch die fünfte Vorlagefrage des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtssache C-667/21, ABl. EU C 95 vom , S. 13 f.).

39aa) Nach nationalem Recht ist, wenn das Gesetz eine billige Entschädigung in Geld für immaterielle Schäden vorsieht (Schmerzensgeld), bei der Bemessung der Entschädigung zu berücksichtigen, dass das Schmerzensgeld eine doppelte Funktion hat: Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion, st. Rspr. zu § 253 BGB, vgl. nur Senatsurteil vom - VI ZR 409/19, ECLI:DE:BGH:2022:080222UVIZR409.19.0, VersR 2022, 635 Rn. 11 mwN). Dabei steht zwar regelmäßig der Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Da das Gesetz jedoch eine billige Entschädigung fordert, kann der Ausgleichszweck nicht allein maßgebend für das Ausmaß der Leistung sein. Das alleinige Abstellen auf den Ausgleichsgedanken ist unmöglich, weil sich immaterielle Schäden nicht und Ausgleichsmöglichkeiten nur beschränkt in Geld ausdrücken lassen. Die Genugtuungsfunktion bringt eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die es aus der Natur der Sache heraus gebietet, alle Umstände des Falles in den Blick zu nehmen und, sofern sie dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, bei der Bestimmung der Leistung zu berücksichtigen. Zu diesen Umständen gehört auch der Grad des Verschuldens des Schädigers (vgl. Senat aaO Rn. 12 mwN).

40bb) Nach diesen Grundsätzen kommt nach Ansicht des Senats eine Berücksichtigung des Verschuldens bei der Bemessung der Höhe des nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO wegen eines erlittenen immateriellen Schadens zu leistenden Schadensersatzes unter Berücksichtigung des Effektivitätsgrundsatzes dann in Betracht, wenn diesem Schadensersatz auch eine Genugtuungsfunktion - die nach nationalem Rechtsverständnis nicht der Rechtfertigung eines Strafschadensersatzes dient - in vergleichbarer Weise wie dem Schmerzensgeld zukommt. Die Schlussanträge des Generalanwalts vom in der Rechtssache C-300/21 deuten darauf hin, dass dies der Fall sein könnte (ECLI:EU:C:2022:756, Celex-Nr. 62021CC0300 Rn. 29, juris: "Die Auslegung, die den Begriff 'Verstoß' automatisch, ohne Erfordernis eines Schadens, mit dem Begriff 'Ausgleich' in Verbindung bringt, steht daher nicht mit dem Wortlaut von Art. 82 der DSGVO im Einklang. Sie steht auch nicht mit dem Hauptziel der durch die DSGVO eingeführten zivilrechtlichen Haftung im Einklang, das darin besteht, der betroffenen Person gerade durch den 'vollständigen und wirksamen' Ersatz des ihr zugefügten Schadens Genugtuung zu verschaffen"). Somit könnte das Verschulden als ein Aspekt bei der Prüfung zu berücksichtigen sein, welcher Betrag angemessen ist, um den immateriellen Schaden "vollständig und wirksam" zu ersetzen. Allerdings hat der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom in der Rechtssache C-667/21 seine Auffassung, dass der Grad des Verschuldens für die Bemessung der Höhe des nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu ersetzenden immateriellen Schadens nicht von Bedeutung ist, unter anderem damit begründet, dass der Schadensersatz "vollständig" sein müsse (ECLI:EU:C:2023:433, Celex-Nr. 62021CC0667 Rn. 118, juris).

417. Zur sechsten Vorlagefrage

42"Falls Fragen 1a), 1b) oder 3 bejaht werden: Ist Art. 82 Abs. 1 DSGVO dahingehend auszulegen, dass bei der Bemessung der Höhe des zu ersetzenden immateriellen Schadens als anspruchsmindernd berücksichtigt werden kann, dass der betroffenen Person neben dem Anspruch auf Schadensersatz ein Unterlassungsanspruch zusteht?"

43Ist dem Kläger im Streitfall ein Unterlassungsanspruch auf unions- oder nationalrechtlicher Grundlage zuzusprechen, stellt sich die Frage, ob dieser Umstand bei der Bemessung der Höhe des immateriellen Schadensersatzes nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO - anspruchsmindernd - berücksichtigt werden kann. Nach dem nationalen Recht ist bei der Bemessung einer Geldentschädigung für ideelle Beeinträchtigungen bei der gebotenen Gesamtwürdigung auch ein erwirkter Unterlassungstitel zu berücksichtigen; der Titel und die damit verbundenen Vollstreckungsmöglichkeiten können den Geldentschädigungsanspruch beeinflussen und im Zweifel sogar ausschließen (vgl. zur diesbezüglichen ständigen Senatsrechtsprechung zur Geldentschädigung bei schuldhafter Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nur Senatsurteil vom - VI ZR 1175/20, ECLI:DE:BGH:2022:220222UVIZR1175.20.0, VersR 2022, 830 Rn. 44 mwN). Ob und gegebenenfalls inwieweit (nur Minderung oder auch völliger Ausschluss möglich?) diese Grundsätze bei Berücksichtigung des Effektivitätsgrundsatzes auf den Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO übertragen werden können, erscheint fraglich und lässt sich anhand der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht eindeutig beantworten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:260923BVIZR97.22.0

Fundstelle(n):
BB 2023 S. 2242 Nr. 40
BB 2023 S. 2626 Nr. 46
DB 2023 S. 2751 Nr. 47
WM 2023 S. 2096 Nr. 45
ZIP 2023 S. 2472 Nr. 47
ZIP 2023 S. 4 Nr. 40
ZIP 2023 S. 5 Nr. 45
IAAAJ-51467