Instanzenzug: Az: 24 U 468/22vorgehend Az: 20 O 431/21
Tatbestand
1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Der Kläger kaufte am von der Beklagten einen von ihr hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz C 220 d, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. In dem Fahrzeug erfolgt zur Minderung der Stickoxidemissionen eine Abgasrückführung, die unter anderem temperaturgesteuert arbeitet und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" bei Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert wird. Das Fahrzeug verfügt außerdem über eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), bei der durch den Einsatz einer Kühlung die Erwärmung des Motoröls verzögert wird und so die Stickoxidemissionen gesenkt werden. Im Fahrzeug findet ferner eine Abgasnachbehandlung in der Weise statt, dass im Abgassystem durch die Zuführung des Harnstoffgemischs AdBlue Ammoniak entsteht, welches in einem SCR-Katalysator die im Abgas enthaltenen Stickoxide in Stickstoff und Wasser umwandelt. Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückrufbescheid des Kraftfahrt-Bundesamts wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen.
3Der Kläger hat die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Verzugszinsen (Klageantrag zu 1) und die Zahlung von Deliktszinsen (Klageantrag zu 2) jeweils Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Klageantrag zu 3) sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten (Klageantrag zu 4) begehrt. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.
4Das Landgericht hat unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen fahrlässigen Verstoßes gegen Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 den Klageanträgen zu 1 und 4 teilweise stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage sowohl im Hinblick auf eine deliktische Schädigung des Klägers als auch im Hinblick auf kaufrechtliche Gewährleistungsansprüche insgesamt abgewiesen und die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen, mit der er die vom Landgericht abgewiesenen Klageanträge im Wesentlichen weiterverfolgt hat. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Zurückweisung der Berufung der Beklagten und ihre weitergehende Verurteilung gemäß seiner Anschlussberufung zu den Klageanträgen zu 1, 3 und 4, soweit diese auf seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs gestützt sind. Hinsichtlich des zunächst ebenfalls weiterverfolgten Klageantrags zu 2 sowie der zusätzlich geltend gemachten kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüche hat der Kläger die Revision vor der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zurückgenommen.
Gründe
5Das angefochtene Urteil unterliegt aufgrund der beschränkten Zulassung durch das Berufungsgericht und des nachträglich weiter eingegrenzten Revisionsangriffs des Klägers der revisionsrechtlichen Nachprüfung insoweit, als das Berufungsgericht hinsichtlich der auf eine deliktische Schädigung des Klägers durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs gestützten Klageanträge zu 1, 3 und 4 zum Nachteil des Klägers erkannt hat.
6Das Berufungsgericht hat die Zulassung der Revision wirksam auf deliktische Schadensersatzansprüche einschließlich davon abhängiger Nebenansprüche beschränkt (vgl. VIa ZR 1031/22, juris Rn. 8 bis 11; Urteil vom - VIa ZR 1620/22, juris Rn. 5 bis 7). Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung hat das Berufungsgericht die Revisionszulassung nicht wirksam weitergehend auf einen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB beschränkt. Bei den in Betracht kommenden materiell-rechtlichen Regelungen des § 826 BGB und des § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV handelt es sich um Anspruchsgrundlagen innerhalb eines einheitlichen Schadensersatzanspruchs aus unerlaubter Handlung, die nicht durch eine Verselbstständigung der einzelnen Lebensvorgänge erkennbar unterschiedlich ausgestaltet sind und die daher tatsächlich und rechtlich nicht voneinander getrennt werden können (vgl. aaO, Rn. 8 und 10). Bei beiden Regelungen besteht der maßgebliche Streitstoff darin, ob der Fahrzeughersteller auf der Grundlage einer erwirkten EG-Typgenehmigung und der hinzutretenden materiell unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung schuldhaft ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstetes Fahrzeug in den Verkehr gebracht und dadurch dem jeweiligen Fahrzeugerwerber einen an seine Vertrauensinvestition bei Kaufvertragsabschluss anknüpfenden Schaden zugefügt hat (vgl. VIa ZR 680/21, NJW-RR 2022, 1251 Rn. 26; Urteil vom - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 45, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ; Urteil vom , aaO, Rn. 6).
A.
7Die Revision ist zulässig. Insbesondere ist die Revisionsbegründungsfrist des § 551 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO gewahrt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat innerhalb der verlängerten Frist die Revisionsbegründung nach § 130d Satz 2 ZPO zulässigerweise in Schriftform eingereicht. Er hat gemäß § 130d Satz 3 ZPO bei der Ersatzeinreichung glaubhaft gemacht, dass im Zeitpunkt der beabsichtigten Übermittlung des Schriftsatzes eine elektronische Einreichung wegen einer vorübergehenden Störung des Systems des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) vorübergehend nicht möglich war (vgl. , NJW 2023, 2484 Rn. 9 f.; Urteil vom - X ZR 51/23, juris Rn. 22 f.).
B.
8Die Revision ist im Umfang des nachträglich beschränkten Rechtsmittelangriffs begründet.
I.
9Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:
10Ein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB scheide aus. Der Kläger habe die Voraussetzungen für eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung unterstellt - nicht schlüssig behauptet, weil er mangels tatsächlicher Anhaltspunkte in nicht zu berücksichtigender Weise ins Blaue hinein zu einem vorsätzlichen Verhalten von Repräsentanten der Beklagten vorgetragen habe. Eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6, 27 EG-FGV oder mit Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 scheitere bereits daran, dass diese Normen nicht dem Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts individueller Fahrzeugerwerber und damit dem Schutz einzelner Käufer vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags dienten.
II.
11Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
121. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB mangels vorsätzlichen (und sittenwidrigen) Verhaltens der für sie handelnden Personen verneint hat. Das Berufungsgericht hat zu Recht erwogen, dass eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der für die Beklagte handelnden Personen indiziert wäre, wenn eine im Fahrzeug des Klägers verbaute Einrichtung ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivierte (vgl. , juris Rn. 12; Beschluss vom - VII ZR 602/21, juris Rn. 15 und 25; Beschluss vom - VII ZR 720/21, juris Rn. 25; Beschluss vom - VII ZR 471/21, MDR 2022, 1340 Rn. 10). Es hat jedoch greifbare Anhaltspunkte für eine solche vom Kläger behauptete Funktionsweise nicht festzustellen vermocht. Hieran ist der Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen betreffend die KSR hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
132. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung des Thermofensters oder der KSR aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.
14Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32).
15Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen Schadensersatzes" verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Die Einwände der Revisionserwiderung gegen die dogmatische Herleitung eines solchen Anspruchs geben dem Senat weder Anlass, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzugehen, noch - wie von der Revisionserwiderung gefordert - ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten (vgl. nur aaO, Rn. 27 ff.; anders LG Duisburg, Beschlüsse vom - 1 O 55/19, 1 O 73/20 und 1 O 223/20, jeweils juris). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
16Das Berufungsurteil ist demnach in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, weil es sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen jedenfalls fahrlässiger Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der Senat kann auch nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher im Umfang des nachträglich beschränkten Rechtsmittelangriffs zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
17Das Berufungsgericht wird dem Kläger die Möglichkeit eröffnen müssen, einen Differenzschaden darzulegen. Es wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 49 ff.) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen zu haben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:110923UVIAZR1470.22.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-51016