Dienstunfallschutz bei Verletzung eines Beamten durch einen körperlichen Angriff eines Kollegen nach scherzhafter oder provozierender Bemerkung
Leitsatz
Der Kontakt zu Kollegen während des Dienstes gehört grundsätzlich zur Ausübung des Dienstes i. S. v. § 31 BeamtVG, sodass hieraus resultierende Körperschäden von der Dienstunfallfürsorge des Dienstherrn umfasst sind. Anderes gilt etwa, wenn das schädigende Ereignis nach den Umständen des Einzelfalls in einem dienstfremden Zusammenhang steht, wenn sich der Geschädigte dienstpflichtwidrig verhalten, das schädigende Ereignis selbst provoziert oder sich aktiv an einer "Rauferei" beteiligt hat.
Gesetze: § 31 Abs 1 S 1 BeamtVG
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: 6 B 3/21 Urteilvorgehend VG Frankfurt (Oder) Az: 2 K 350/14 Urteil
Tatbestand
1Der Kläger ist Beamter der Bundespolizei. Er erstrebt die Anerkennung eines erlittenen Körperschadens als Dienstunfall.
2Am kam es im Vorraum der Waffenkammer zu einem Handgemenge zwischen zwei Kollegen des Klägers und diesem, nachdem der Kläger seinen Kollegen zugerufen hatte, dass sie auch "Brüder" sein könnten. Die Kollegen hielten ihn an wenigstens einem Arm und einem Bein fest und versuchten ihn gewaltsam zu fixieren, wobei er das Gleichgewicht verlor. Als ein hinzutretender Beamter die Kollegen aufforderte aufzuhören, knackte es beim Abstützen mit dem linken Außenspann laut im linken Knie des Klägers, woraufhin sich das Handgemenge auflöste. Der Kläger erlitt eine Verstauchung des linken Kniegelenks, Haarrisse im Schienbeinzwischenhöcker und eine Eindrückungsfraktur der vierten Rippe; er war elf Wochen dienstunfähig.
3Die vom Kläger beantragte Anerkennung als Dienstunfall lehnte die Beklagte ab; der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Die Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg.
4Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, das Unfallereignis sei "in Ausübung des Dienstes" erfolgt. Der festgestellte Sachverhalt biete keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen rein privat motivierten Angriff auf den Kläger gehandelt haben könnte. Dagegen spreche auch der Umstand, dass der tätliche Angriff durch Beamte der Beklagten und damit im personellen Machtbereich der Beklagten verübt worden sei. Ob bei als Spaß gemeinten Vorfällen der vorliegenden Art noch von einer Dienstausübung gesprochen werden könne, hänge davon ab, ob die Verhaltensweisen mit der Dienstausübung schlechthin nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden könnten, was insbesondere für Verhaltensweisen gelte, die den wohlverstandenen Interessen des Dienstherrn erkennbar zuwiderliefen oder von diesem sogar ausdrücklich verboten seien. Die Bemerkung des Klägers sei kein provozierendes oder beleidigendes Verhalten gewesen, das es rechtfertige, das sich daran anschließende Ereignis während der Dienstzeit und im Dienstgebäude von der Unfallfürsorge auszuschließen. Es habe sich um einen Scherz des Klägers und einen als Spaß gemeinten Angriff der beiden Kollegen gehandelt.
5Mit der vom Senat zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom und des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.
6Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Gründe
7Die zulässige Revision der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i. V. m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass der Kollegenkontakt grundsätzlich zur Ausübung des Dienstes gehört, sodass hieraus resultierende Körperschäden von der Dienstunfallfürsorge des Dienstherrn umfasst sind (1.). Es hat seine Entscheidung aber auf der Grundlage aktenwidriger Feststellungen getroffen und damit den Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das Gebot der sachgerechten Ausschöpfung des vorhandenen Prozessstoffes (§ 86 Abs. 1 und § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verletzt (2.). Das Urteil ist daher aufzuheben und die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (3.).
81. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG in der im Zeitpunkt des Unfallereignisses geltenden und damit maßgeblichen (vgl. 2 C 17.16 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 30 Rn. 12 m. w. N.) Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 150) ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist.
9a) Das gesetzliche Merkmal "in Ausübung des Dienstes" verlangt eine besonders enge ursächliche Verknüpfung des Ereignisses mit dem Dienst (vgl. 2 C 17.16 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 30 Rn. 14 m. w. N.). Maßgebend hierfür ist der Sinn und Zweck der beamtenrechtlichen Dienstunfallfürsorge. Dieser liegt in einem über die allgemeine Fürsorge hinausgehenden besonderen Schutz des Beamten bei Unfällen, die außerhalb seiner privaten (eigenwirtschaftlichen) Sphäre im Bereich der in der dienstlichen Sphäre liegenden Risiken eintreten, also in dem Gefahrenbereich, in dem der Beamte entscheidend aufgrund der Anforderungen des Dienstes tätig wird ( 2 C 1.12 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 25 Rn. 10 f. und vom - 2 C 17.16 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 30 Rn. 14).
10Ausgehend vom Zweck der gesetzlichen Regelung und dem Kriterium der Beherrschbarkeit des Risikos der Geschehnisse durch den Dienstherrn kommt dem konkreten Dienstort des Beamten eine herausgehobene Rolle zu. Der Beamte steht bei Unfällen, die sich innerhalb des vom Dienstherrn beherrschbaren räumlichen Risikobereichs ereignen, unter dem besonderen Schutz der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge. Zu diesem Bereich zählt der Dienstort, an dem der Beamte seine Dienstleistung erbringen muss, wenn dieser Ort zum räumlichen Machtbereich des Dienstherrn gehört. Risiken, die sich hier während der Dienstzeit verwirklichen, sind dem Dienstherrn zuzurechnen, unabhängig davon, ob die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignet hat, dienstlich geprägt ist. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass diese Tätigkeit vom Dienstherrn verboten ist oder dessen wohlverstandenen Interessen zuwiderläuft ( 2 C 10.62 - BVerwGE 17, 59 <66>, vom - 2 C 24.06 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 18 Rn. 13, vom - 2 C 23.06 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 19 Rn. 9, vom - 2 A 3.08 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 21 Rn. 14, vom - 2 C 1.12 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 25 Rn. 11 und vom - 2 C 17.16 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 30 Rn. 15).
11Hierdurch werden die Sphären des Beamten und des Dienstherrn nach praktikablen und sachgerechten Kriterien abgegrenzt. Es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass auch bei der Dienstausübung regelmäßig dienstliche und private Aspekte nicht streng voneinander zu trennen sind und es nur darum gehen kann, wann und unter welchen Voraussetzungen die auch bei der Ausübung des Dienstes naturgemäß gegebene "Gemengelage" eindeutig dem privaten Bereich des Beamten zuzurechnen und daher von der Dienstunfallführsorge des Dienstherrn auszunehmen ist. Eine Interpretation, die darauf abstellte, ob der Beamte gerade im Augenblick der Einwirkung des Ereignisses auf seinen Körper mit einer spezifisch dienstlichen Verrichtung befasst war, ginge an der Lebenswirklichkeit vorbei und risse Vorgänge, die bei lebensnaher Betrachtung nur als Gesamtverhalten gewertet werden können, auseinander. Zudem stellte diese Ansicht an den Nachweis des Vorliegens eines Dienstunfalls Anforderungen, die sowohl den Dienstherrn als auch den Beamten überfordern könnten ( 2 C 10.62 - BVerwGE 17, 59 <62 ff.>, vom - 2 C 24.06 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 18 Rn. 11 ff., vom - 2 A 3.08 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 21 Rn. 14 und vom - 2 C 17.16 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 30 Rn. 16).
12b) Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich auch dann, wenn das Unfallereignis aus Verhaltensweisen unter Kollegen während des Dienstes entstanden ist.
13Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Frage, ob Verhaltensweisen unter Beamten während des Dienstes - wie etwa Scherze und "Neckereien" - zur Ausübung des Dienstes gehören und daher von der Dienstunfallfürsorge des Dienstherrn umfasst sind, stets von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls abhängig. Zwar spricht der räumliche, zeitliche und sachliche Zusammenhang hier grundsätzlich für eine Zuordnung der Geschehnisse zur Ausübung des Dienstes. Anderes gilt aber etwa, wenn das schädigende Ereignis nach den Umständen des Einzelfalls in einem dienstfremden Zusammenhang steht (vgl. 2 B 103.89 - für eine tätliche Auseinandersetzung), wenn sich der Geschädigte dienstpflichtwidrig verhalten (vgl. hierzu 2 A 17.21 - Buchholz 232.0 § 61 BBG 2009 Nr. 3 Rn. 99 f.), das schädigende Ereignis selbst provoziert (vgl. 2 B 66.73 - Buchholz 232 § BBG Nr. 53 S. 71) oder sich aktiv an einer "Rauferei" beteiligt hat (vgl. etwa - juris Rn. 15 f.; OVG Lüneburg, Urteil vom - 2 A 141/86 - ZBR 1992, 121). In diesen Fällen sind etwaige Schäden nicht mehr vom Schutzzweck der Dienstunfallfürsorge des Dienstherrn erfasst.
14Zu Recht ist das Berufungsgericht dabei davon ausgegangen, dass maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Beurteilung allein das Verhalten des geschädigten Beamten ist. Darauf, ob der oder die Schädiger mit ihrem Verhalten einen dienstbezogenen Zweck verfolgt haben oder es ggf. sogar grundlos zu dem Geschehensablauf und der Auswahl des Geschädigten kam, kommt es nach dem Schutzzweck der Dienstunfallfürsorge nicht an. Auch in diesem Fall ist der Beamte dem Geschehen "in Ausübung des Dienstes" ausgesetzt.
152. Ausgehend hiervon kann mangels tragfähiger Feststellungen nicht beurteilt werden, ob das Unfallereignis im vorliegenden Fall "in Ausübung des Dienstes" i. S. d. § 31 BeamtVG geschehen ist.
16a) Zwar wäre bei Zugrundelegung der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen das Unfallereignis in Ausübung des Dienstes geschehen und hätte demzufolge das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten gegen die erstinstanzlich ausgesprochene Anerkennung des Ereignisses als Dienstunfall zu Recht zurückgewiesen. Denn das Ereignis hat sich in den Diensträumen und während der Dienstzeit zugetragen. Der Zuruf "Ihr könntet Brüder sein!" war nach der - für sich betrachtet nicht zu beanstandenden - Feststellung des Berufungsgerichts ein Scherz, der weder dienstpflichtwidrig war noch als provozierend eingestuft werden kann.
17b) Diese Feststellungen sind jedoch aktenwidrig und binden das Revisionsgericht daher nicht (vgl. 2 C 25.17 - BVerwGE 160, 370 Rn. 79).
18Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das Gebot der sachgerechten Ausschöpfung des vorhandenen Prozessstoffes (§ 86 Abs. 1 und § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) sind verletzt, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein Widerspruch besteht und dieser offensichtlich ist, sodass es einer weiteren Beweiserhebung zur Klärung des richtigen Sachverhalts nicht bedarf (stRspr, vgl. etwa 4 CN 2.16 - BVerwGE 156, 336 Rn. 23; Beschlüsse vom - 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1 S. 1 m. w. N., vom - 2 B 3.19 - juris Rn. 12 und vom - 2 B 22.22 - juris Rn. 28 ff.).
19Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten zweifelsfrei, dass das Unfallgeschehen sich anders als im Berufungsurteil festgestellt ereignet hat. Die dortigen Feststellungen sind unvollständig. Ist nach den Urteilsfeststellungen der körperliche Übergriff bereits nach einem - einmaligen - Zuruf des Klägers erfolgt, ergibt sich aus den Akten, dass es sich um ein mehraktiges Geschehen handelte. Nach dem in den Verwaltungsakten befindlichen Protokoll der Zeugenvernehmung des Klägers vom im Disziplinarverfahren gegen die beiden Kollegen hat der Kläger angegeben, dass er den scherzhaften Zuruf "Ihr könntet auch Brüder sein!" an einen der Kollegen gerichtet habe, der darauf angefangen habe, sich mit ihm zu "kabbeln"; ein weiterer Polizeibeamter sei an ihnen vorbeigegangen und habe gemeint, sie sollten sich nicht verletzen. Danach hätten sich der Kollege und er voneinander getrennt und seien in unterschiedliche Richtungen gegangen. Er habe sich dann nochmal umgedreht und gesagt: "Brüder könnt ihr trotzdem sein". Daraufhin seien ihm die beiden Kollegen gefolgt und sei es zu dem körperlichen Übergriff gekommen.
20Auf der Grundlage dieses Sachverhalts bedarf es der Würdigung, ob der nochmalige Zuruf als provozierende Äußerung im oben ausgeführten Sinne einzuordnen ist, die den bei Unfallereignissen in Diensträumen während der Dienstzeit grundsätzlich gegebenen Zurechnungszusammenhang ausnahmsweise entfallen lässt. Im Rahmen einer Beweisaufnahme ist zu prüfen, welchen Bedeutungsgehalt der an sich harmlose Satz "Ihr könntet Brüder sein" im konkreten Fall hatte und ob jedenfalls die Wiederholung dieses Satzes in dem konkreten Zusammenhang als provozierendes Verhalten des Klägers bewertet werden muss.
213. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
22Eine unmittelbare Entscheidung in der Sache selbst scheidet aus, weil es weiterer Sachverhaltsaufklärung bedarf und die abschließende Würdigung des Gesamtgeschehens den Tatsachengerichten vorbehalten ist.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:130723U2C3.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 45
JAAAJ-50768