Erforderlichkeit einer persönlichen Anhörung des Betroffenen im Betreuungsverfahren
Leitsatz
1. In einem Betreuungsverfahren darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Gleiches gilt, wenn das Amtsgericht in verfahrensrechtlich ordnungsgemäßer Weise von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen konnte.
2. Das Absehen von einer erneuten persönlichen Anhörung nach § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG setzt voraus, dass der Betroffene vor der erstmaligen Betreuerbestellung verfahrensfehlerfrei angehört worden ist und sich aus dem angefochtenen Beschluss ergibt, unter welchen Umständen und mit welchem Ergebnis eine persönliche Anhörung des Betroffenen vor der erstmaligen Betreuerbestellung stattgefunden hat (im Anschluss an Senatsbeschluss vom - XII ZB 519/15, FamRZ 2016, 627).
Gesetze: § 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 278 Abs 1 FamFG, § 293 Abs 1 FamFG, § 293 Abs 2 S 1 Nr 1 FamFG, § 1831 Abs 1 Nr 2 BGB, § 1832 Abs 1 BGB, § 1832 Abs 2 BGB
Instanzenzug: LG Braunschweig Az: 8 T 54/23vorgehend AG Salzgitter Az: 5 XVII 562/21vorgehend AG Salzgitter Az: 5 XVII 562/21
Gründe
I.
1Die Betroffene wendet sich gegen die Erweiterung der für sie eingerichteten Betreuung und gegen die betreuungsgerichtliche Genehmigung ihrer Unterbringung.
2Für die Betroffene, die unter einer Demenz vom Alzheimer-Typ leidet, besteht seit Januar 2022 eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung und Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post. In der Folgezeit war die Betroffene wiederholt geschlossen untergebracht. Im November 2022 beantragte die Betreuerin erneut die Genehmigung der geschlossenen Unterbringung der Betroffenen.
3Das Amtsgericht hat die Beteiligte zu 3 zur Verfahrenspflegerin bestellt und nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Erforderlichkeit der geschlossenen Unterbringung sowie der Anhörung der Betroffenen durch Beschluss vom deren Unterbringung bis längstens genehmigt.
4Mit Beschluss vom hat das Amtsgericht den Aufgabenkreis der Betreuerin um die Aufgabenbereiche Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten sowie Vertretung gegenüber der Einrichtung erweitert.
5Die gegen diese beiden Entscheidungen eingelegten Beschwerden der Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sie sich mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
6Die Rechtsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Zurückweisung der Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss zur Erweiterung der bestehenden Betreuung vom wendet. Insoweit führt sie zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde unbegründet.
71. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Das Amtsgericht habe den bereits bestehenden Aufgabenkreis der Betreuerin zu Recht erweitert. Dies sei erforderlich, da die Betroffene absehbar aufgrund ihrer Demenz nicht mehr in der häuslichen Umgebung werde leben können und somit die Betreuerin alle erforderlichen Anträge stellen und die Betroffene gegenüber der Einrichtung, in welcher die Betroffene sich auch zukünftig befinden werde, vertreten können müsse.
8Die Betroffene leide an einer neuropsychiatrisch-degenerativen Erkrankung im Sinne einer Demenz vom Alzheimer-Typ und einer gestörten emotionalen Kontrolle, was zu verbaler Aggressivität und Unruhe sowie Situations- und Personenverkennungen geführt habe. Ohne eine weitere Unterbringung bestünde die Gefahr, dass die Betroffene sich durch Situationsverkennung, Fehlhandlungen und Orientierungslosigkeit gesundheitlichen Schaden zufüge. Untersuchungen des Gesundheitszustandes bzw. eine Heilbehandlung der Betroffenen seien ohne eine Unterbringung nicht möglich. Die Betroffene verweigere die Einnahme von psychiatrischen Medikamenten, was zu einer Dekompensation des psychiatrischen Zustandsbildes mit verbal und körperlich aggressiven Verhaltensweisen und erheblichen Weglauftendenzen führe. Durch die stark ausgeprägten Weglauftendenzen könne die Betroffene in einen hilflosen Zustand geraten. Von einer Anhörung der Betroffenen sei abgesehen worden, da sie wiederholt vom Amtsgericht persönlich angehört worden sei und sich dabei zur Sache geäußert habe.
92. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nur teilweise stand. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass das Beschwerdegericht vor der Entscheidung über die gegen den Beschluss zur Erweiterung der Betreuung vom gerichtete Beschwerde nicht von einer erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen durfte.
10a) Nach § 293 Abs. 1 Satz 1 FamFG gelten für die Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers und die Erweiterung des Kreises der einwilligungsbedürftigen Willenserklärungen die Vorschriften über die Anordnung dieser Maßnahmen entsprechend. Daher hat das Gericht - vorbehaltlich der Verfahrenserleichterung in § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG - gemäß § 278 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG den Betroffenen grundsätzlich auch vor der Erweiterung einer bestehenden Betreuung persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen.
11Die Pflicht zur persönlichen Anhörung besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 551/21 - MDR 2022, 1433 Rn. 4 mwN). Gleiches gilt, wenn das Amtsgericht in verfahrensrechtlich ordnungsgemäßer Weise von einer persönlichen Anhörung absehen konnte.
12b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht über die gegen den Beschluss zur Erweiterung der Betreuung gerichtete Beschwerde entscheiden, ohne die Betroffene hierzu anzuhören, weil die Voraussetzungen nicht vorlagen, unter denen das Amtsgericht von einer Anhörung der Betroffenen absehen konnte. Nach § 293 Abs. 2 Satz 1 FamFG bedarf es einer persönlichen Anhörung nach § 278 Abs. 1 FamFG dann nicht, wenn diese Verfahrenshandlung nicht länger als sechs Monate zurückliegt (§ 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG) oder die beabsichtigte Erweiterung nicht wesentlich ist (§ 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FamFG).
13aa) Das Amtsgericht hat von einer erneuten Anhörung der Betroffenen nach § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG mit der Begründung abgesehen, die letzte persönliche Anhörung liege nicht länger als sechs Monate zurück. Diese Begründung trägt im vorliegenden Fall nicht. Die Betroffene wurde zwar vom Amtsgericht in dem maßgeblichen Zeitraum des § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG mehrfach angehört. Die Rechtsbeschwerde weist jedoch zu Recht darauf hin, dass Gegenstand dieser Anhörung jeweils nur die Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung war. Die letzte Anhörung, die sich auf die Betreuung bezog, fand vielmehr am statt und damit vor dem maßgeblichen Zeitraum des § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG.
14bb) Das Amtsgericht konnte auch nicht nach § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FamFG von einer Anhörung der Betroffenen absehen. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob die Erweiterung der Betreuung um die Aufgabenbereiche „Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten sowie Vertretung gegenüber der Einrichtung“ als nicht wesentlich iSv § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FamFG zu beurteilen ist (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom - XII ZB 519/15 - FamRZ 2016, 627 Rn. 20). Denn nach der Rechtsprechung des Senats setzt das Absehen von einer erneuten persönlichen Anhörung nach dieser Vorschrift voraus, dass der Betroffene vor der erstmaligen Betreuerbestellung verfahrensfehlerfrei angehört worden ist und sich aus dem angefochtenen Beschluss ergibt, unter welchen Umständen und mit welchem Ergebnis eine persönliche Anhörung des Betroffenen vor der erstmaligen Betreuerbestellung stattgefunden hat (Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 519/15 - FamRZ 2016, 627 Rn. 21 und vom - XII ZB 503/13 - FamRZ 2014, 828 Rn. 7). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdeentscheidung nicht gerecht. Dort wird zwar auf die Anhörung der Betroffenen vor dem und auf die - ohnehin erst im Abhilfeverfahren erfolgte - Anhörung vom Bezug genommen. Diese betrafen aber ebenfalls nur die Entscheidung über die Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen und nicht die erstmalige Betreuerbestellung.
153. Soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen die vom Beschwerdegericht bestätigte Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen richtet, hat sie dagegen keinen Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen des § 1831 Abs. 1 Nr. 2 BGB erfüllt sind. Denn die hierzu verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen jedenfalls eine Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen nach § 1831 Abs. 1 Nr. 2 BGB. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war diese nicht von der zusätzlichen Anordnung einer ärztlichen Zwangsbehandlung abhängig.
16a) Nach der Rechtsprechung des Senats ist - unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen für die Unterbringung eines Betreuten zur Durchführung einer Heilbehandlung gemäß § 1831 Abs. 1 Nr. 2 BGB - eine Unterbringung nach dieser Vorschrift von vornherein nur dann genehmigungsfähig, wenn eine erfolgversprechende Heilbehandlung auch durchgeführt werden kann. Dies setzt entweder einen die Heilbehandlung deckenden entsprechenden natürlichen Willen des Betreuten oder die rechtlich zulässige Überwindung seines entgegenstehenden natürlichen Willens mittels ärztlicher Zwangsbehandlung voraus. Die Genehmigung einer Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1831 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist daher möglich, wenn zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass sich der Betreute im Rahmen der Unterbringung behandeln lassen wird, sein natürlicher Wille also nicht bereits der medizinisch notwendigen Behandlung entgegensteht, er aber (lediglich) die Notwendigkeit der Unterbringung nicht einsieht. Ist dagegen auszuschließen, dass der Betreute eine Behandlung ohne Zwang vornehmen lassen wird, ist die Genehmigung der Unterbringung zur Durchführung der Heilbehandlung nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nach § 1832 Abs. 1 BGB vorliegen und diese gemäß § 1832 Abs. 2 BGB rechtswirksam genehmigt wird (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 257/22 - FamRZ 2023, 468 Rn. 15 mwN).
17b) Gemessen daran kann die Unterbringung der Betroffenen nach den getroffenen Feststellungen auf § 1831 Abs. 1 Nr. 2 BGB gestützt werden. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die Betroffene über keinerlei Krankheits- und Behandlungseinsicht verfüge und eine Einnahme der zu ihrer Behandlung erforderlichen psychiatrischen Medikamente nur im Rahmen der Unterbringung sichergestellt werden könne. Die Anhörung der Betroffenen hat ergeben, dass sie derzeit die zu ihrer Heilbehandlung erforderlichen Medikamente freiwillig einnimmt. Damit kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Betroffene auch weiter im Rahmen der Unterbringung behandeln lassen wird, ihr natürlicher Wille also nicht bereits der medizinisch notwendigen Behandlung entgegensteht. Für die Genehmigung einer Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1831 Abs. 1 Nr. 2 BGB genügt dies.
184. Der angefochtene Beschluss kann daher teilweise keinen Bestand haben. Er ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG insoweit aufzuheben und die Sache ist im Umfang der aus dem Tenor ersichtlichen Aufhebung gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist.
19Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:300823BXIIZB186.23.0
Fundstelle(n):
NJW-RR 2023 S. 1426 Nr. 22
BAAAJ-50548