BGH Beschluss v. - I ZB 86/22

Instanzenzug: LG Essen Az: 7 T 239/22vorgehend AG Dorsten Az: 16 M 34/22

Gründe

1A. Das für den Gläubiger, das Land Nordrhein-Westfalen, handelnde Finanzamt Marl (im Folgenden: Finanzamt) betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung wegen rückständiger Steuerforderungen.

2Das Finanzamt beantragte im Januar 2022 beim Amtsgericht die Anordnung der Haft gegen den Schuldner zur Erzwingung der Abnahme einer Vermögensauskunft. Der Antrag enthält eine eingescannte Unterschrift und einen maschinenschriftlichen Namenszug, aber keine qualifizierte elektronische Signatur. Er wurde über das besondere elektronische Behördenpostfach (beBPo) des Finanzamts an das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des Amtsgerichts zur Weiterleitung an den zuständigen Gerichtsvollzieher übermittelt.

3Das Amtsgericht hat den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Gläubiger seinen Haftbefehlsantrag weiter.

4B. Das Beschwerdegericht hat angenommen, der Gläubiger habe den Vollstreckungsantrag zwar entsprechend den Vorgaben des § 130a Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 ZPO ordnungsgemäß elektronisch eingereicht, insbesondere auf einem sicheren Übermittlungsweg. Damit habe er jedoch nicht den erweiterten materiellen Anforderungen an einen titelersetzenden Vollstreckungsantrag genügt. Es sei der höchstmögliche Sicherheitsstandard und damit eine qualifizierte elektronische Signatur einzufordern. Das Finanzamt vollstrecke zwar nicht nach dem Justizbeitreibungsgesetz und könne selbst eine Vermögensauskunft einholen, jedoch verweise § 284 Abs. 8 Satz 3 AO auf die Vorschriften der Zivilprozessordnung. Auch mit Blick auf den erheblichen Grundrechtseingriff durch eine Freiheitsentziehung sei keine Unterscheidung geboten. Da keine unabhängige und neutrale Prüfung und Entscheidung über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für den begehrten Vollstreckungsakt erfolge, müsse der Antrag jedenfalls einer konkreten Person zugeordnet werden können. Zur Schaffung hinreichenden Vertrauens müsse voll überprüfbar sein, dass eine identifizierbare Einzelperson Verantwortung für den Vollstreckungsantrag übernehme. Das grundsätzlich einen sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 130a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 ZPO darstellende besondere elektronische Behördenpostfach erlaube ohne qualifizierte Signatur keine spezifische Zuordnung zu einer Person.

5C. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO) und auch ansonsten zulässig (§ 575 ZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist bereits deswegen aufzuheben, weil die Kammer die Sache rechtsfehlerhaft auf sich übertragen hat.

6I. Nach § 568 Satz 1 ZPO entscheidet das Beschwerdegericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen worden ist. Vorliegend hat die Amtsrichterin über die Erinnerung des Gläubigers entschieden. In einem solchen Fall ist die Kammer gemäß § 568 Satz 2 ZPO nur dann zur Entscheidung über die Beschwerde berufen, wenn der Einzelrichter durch eine gesonderte Entscheidung das Verfahren dem Beschwerdegericht zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung übertragen hat. Dies setzt einen entsprechenden Beschluss des Einzelrichters voraus (vgl. , BGHZ 225, 252 [juris Rn. 23]; Beschluss vom - I ZB 84/22, WM 2023, 1271 [juris Rn. 7]).

7II. An einem solchen Beschluss fehlt es im Streitfall. Die Kammer hat die Sache im angefochtenen Beschluss auf sich übertragen. Die Beschwerdekammer ist außer in Fällen, in denen die Zuständigkeit des Einzelrichters zweifelhaft ist, nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Insoweit ist unerheblich, ob der Einzelrichter an einem solchen Kammerbeschluss mitwirkt, weil es nach § 568 Satz 2 ZPO alleinige Entscheidungskompetenz des Einzelrichters ist, ob die Voraussetzungen für eine Übertragung auf die Kammer vorliegen (vgl. BGHZ 225, 252 [juris Rn. 24]; BGH, WM 2023, 1271[juris Rn. 8]).

8III. Die Bestimmung des § 568 Satz 3 ZPO, wonach auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung ein Rechtsmittel nicht gestützt werden kann, steht der Relevanz des der Kammer hier unterlaufenen Verfahrensfehlers nicht entgegen. Es besteht vorliegend kein Streit darüber, ob der Einzelrichter das Verfahren zu Recht nach § 568 Satz 2 ZPO der Kammer übertragen hat. Vielmehr hat der Einzelrichter insoweit keine Entscheidung getroffen. Dieser Fall wird von § 568 Satz 3 ZPO nicht erfasst (vgl. BGHZ 225, 252 [juris Rn. 25]; BGH, WM 2023, 1271 [juris Rn. 9]).

9D. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 4 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

10I. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 AO können die Finanzbehörden Verwaltungsakte, mit denen eine Geldleistung gefordert wird, im Verwaltungsweg vollstrecken. Vollstreckungsbehörden sind nach § 249 Abs. 1 Satz 3 AO unter anderem die Finanzämter. Das Finanzamt, in dessen Bezirk sich der Wohnsitz oder der Aufenthaltsort des Vollstreckungsschuldners befindet, ist nach § 284 Abs. 5 AO für die Abnahme der Vermögensauskunft zuständig, die der Vollstreckungsschuldner ihm auf dessen Verlangen zu erteilen hat. Ist der Vollstreckungsschuldner ohne ausreichende Entschuldigung in dem zur Abgabe der Vermögensauskunft anberaumten Termin nicht erschienen oder verweigert er ohne Grund die Abgabe der Vermögensauskunft, so kann die Vollstreckungsbehörde, die die Vollstreckung betreibt, nach § 284 Abs. 8 Satz 1 AO die Anordnung der Haft zur Erzwingung der Abgabe beantragen. Zuständig für die Anordnung der Haft ist nach § 284 Abs. 8 Satz 2 AO das Amtsgericht, in dessen Bezirk der Vollstreckungsschuldner im Zeitpunkt der Fristsetzung nach § 284 Abs. 1 Satz 1 AO (Zahlungsaufforderung unter Hinweis auf die Verpflichtung zur Abgabe der Vermögensauskunft) seinen Wohnsitz oder in Ermangelung eines solchen seinen Aufenthaltsort hat. Gemäß § 284 Abs. 8 Satz 3 AO sind die §§ 802g bis 802j der Zivilprozessordnung entsprechend anzuwenden.

11Für den Antrag auf Anordnung der Haft nach § 284 Abs. 8 Satz 1 AO gelten - über die Verweisung des § 284 Abs. 8 Satz 3 AO hinaus - die §§ 130a, 130d ZPO, die den elektronischen Rechtsverkehr zwischen Behörden und den als Vollstreckungsgerichte tätigen Amtsgerichten (§ 764 Abs. 1 ZPO) regeln. § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO bestimmt, dass das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden muss. Zu den sicheren Übermittlungswegen gehört nach § 130a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 ZPO der Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens eingerichteten Postfach einer Behörde und der elektronischen Poststelle des Gerichts. Gemäß § 130d Satz 1 ZPO sind Behörden verpflichtet, schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln.

12II. Das Finanzamt als für den Gläubiger handelnde Vollstreckungsbehörde ist im Streitfall befugt, den Antrag auf Anordnung der Haft zu stellen (§ 284 Abs. 8 Satz 1 AO).

13III. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts genügt der Antrag den im elektronischen Rechtsverkehr geltenden Formanforderungen, wenn er entweder von der ihn verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert worden ist oder von der ihn verantwortenden Person (einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht worden ist (§ 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO).

141. Wie das Beschwerdegericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat, ist das Justizbeitreibungsgesetz vorliegend nicht einschlägig, weil die zu vollstreckende Forderung nicht zu den in § 1 Abs. 1 JBeitrG genannten Ansprüchen zählt, die von Justizbehörden des Bundes oder - unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 JBeitrG - der Länder einzuziehen sind. Vielmehr handelt es sich um eine Vollstreckung durch Finanzbehörden aufgrund der Abgabenordnung, die nicht auf das Justizbeitreibungsgesetz verweist. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts fehlt es daher an der in § 7 Satz 2 JBeitrG geregelten Ersetzung des vollstreckbaren Schuldtitels durch den Vollstreckungsantrag. Vielmehr regelt die Abgabenordnung eigenständig, auf welcher Grundlage die Finanzbehörden vollstrecken dürfen (vgl. § 249 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 251, 254 AO).

152. Unabhängig davon hat der Senat nach dem Beschluss des Beschwerdegerichts entschieden, dass auch für den Vollstreckungsantrag nach § 7 Satz 1 und 2 JBeitrG keine über § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO hinausgehenden Formerfordernisse bestehen. Danach muss er entweder von der ihn verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert oder von der ihn verantwortenden Person (einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht, jedoch weder zusätzlich in Papierform eingereicht noch mit einem Dienstsiegel versehen werden (vgl. BGH, WM 2023, 1271 [juris Rn. 15, 22, 27 und 32]).

16IV. Das Beschwerdegericht wird im wiedereröffneten Beschwerdeverfahren festzustellen haben, ob die Formanforderungen nach § 130a Abs. 3 Satz 1 Fall 2 ZPO eingehalten sind.

171. Der Vollstreckungsantrag ist (einfach) signiert. Hierfür reicht die maschinenschriftliche Wiedergabe des Namens der verantwortenden Person aus (vgl. BGH, WM 2023, 1271 [juris Rn. 16]). Diesem Erfordernis ist nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts genügt.

182. Bislang fehlen hinreichende Feststellungen dazu, ob die Übermittlung auf einem sicheren Übermittlungsweg nach § 130a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 ZPO erfolgt ist.

19a) Nach § 6 Abs. 1 der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) können Behörden zur Übermittlung elektronischer Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg bei Einhaltung bestimmter Anforderungen ein besonderes elektronisches Behördenpostfach nutzen. Unter anderem muss nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 ERVV feststellbar sein, dass das elektronische Dokument vom Postfachinhaber versandt wurde. Gemäß § 6 Abs. 3 Halbsatz 1 ERVV steht das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach eines Gerichts einem besonderen elektronischen Behördenpostfach gleich, soweit diese Stelle Aufgaben einer Behörde nach Absatz 1 wahrnimmt. Die Nutzung eines sicheren Übermittlungswegs durch eine berechtigte Person wird durch den vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis (VHN) bestätigt (vgl. BGH, WM 2023, 1271 [juris Rn. 19]).

20b) Der Gläubiger hat im Beschwerdeverfahren zwar vorgebracht, der Vollstreckungsantrag sei auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht worden. Das Beschwerdegericht hat das Vorliegen eines vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises für den Vollstreckungsantrag bislang jedoch nicht festgestellt.

21V. Darüber hinaus wird das Beschwerdegericht zu prüfen haben, ob die weiteren Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls erfüllt sind.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:270723BIZB86.22.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-49898