Instanzenzug: Az: 31 KLs 25/17
Gründe
1Das Landgericht Essen hatte den Angeklagten durch – seit dem – rechtskräftiges Urteil vom wegen sexuellen Missbrauchs „eines Kindes“ sowie wegen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Nach den dort getroffenen Feststellungen hatte der Angeklagte am die damals elf Monate alte Nebenklägerin in der Wohnung ihrer Mutter dazu veranlasst, seinen entblößten Penis anzufassen. Anschließend hatte er der dieses Geschehen beobachtenden und ihn daraufhin zur Rede stellenden Kindesmutter damit gedroht, dass er Leute kenne, bei denen sie sterben würde, um sie von einem Anruf bei der Polizei abzubringen. Im weiteren Verlauf des Streits hatte der Angeklagte ihr noch schmerzhafte Stöße gegen Kopf und Brust versetzt.
2Nach der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Angeklagten hat das Landgericht Dortmund den Angeklagten durch Urteil vom aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin hat Erfolg.
I.
3Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage wird dem Angeklagten zur Last gelegt, am beim Spielen mit der zum Tatzeitpunkt elf Monate alten Nebenklägerin – seiner leiblichen Tochter – sein Geschlechtsteil freigelegt zu haben, um diese dazu zu bringen, an seinem Penis zu saugen. Dabei sei es zu einer Berührung des kindlichen Gesichts mit dem Geschlechtsteil des Angeklagten gekommen. Der Oralverkehr sei nicht vollzogen worden, weil die Kindesmutter diesen Vorfall bemerkt, hiervon ein Foto gefertigt und den Angeklagten auf sein Verhalten angesprochen habe. Sodann habe er der Kindesmutter in Aussicht gestellt, Dritte zu engagieren, die sie umbringen würden, sollte sie die Polizei informieren. In dem sich anschließenden Streit habe der Angeklagte der Kindesmutter einen Kopfstoß versetzt, mit seinen Händen gegen ihre Brust geschlagen sowie schließlich noch ihren Computer zerstört.
4Das Landgericht hat weder die angeklagten Umstände noch sonstige von der Anklage umfasste strafbare Handlungen des Angeklagten festzustellen vermocht und ihn deshalb aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
II.
51. Die Revision der Nebenklägerin ist wirksam auf den Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern beschränkt. Zwar hat die Beschwerdeführerin in ihrer Revisionsbegründung keinen Antrag gestellt. Jedoch lässt sich aus dem Inhalt der Revisionsschrift eindeutig entnehmen, dass sie sich ausschließlich wegen des Freispruchs vom Vorwurf des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern beschwert fühlt und sich ihre Revision auch nur auf diesen Aspekt bezieht (vgl. Rn. 3; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 2). Diese Revisionsbeschränkung ist auch wirksam. Der von der Nebenklägerin angegriffene Entscheidungsteil stellt einen sachlich-rechtlich selbständigen (§ 53 StGB) und nur sie betreffenden Tatvorwurf dar. Er ist von dem weiteren anklagegegenständlichen Tatvorwurf – namentlich den zum Nachteil ihrer Mutter begangenen Gesetzesverletzungen – trennbar und kann in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht selbständig beurteilt werden (vgl. BGH, aaO Rn. 5 mwN; BeckOK-StPO/Wiedner, 48. Ed., § 344 Rn. 14, 17).
62. Die Revision der Nebenklägerin ist begründet, weil die dem Freispruch zugrundeliegende Beweiswürdigung rechtlicher Nachprüfung nicht standhält.
7a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen ein Denkgesetz oder einen gesicherten Erfahrungssatz verstößt (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 7 mwN). Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 15; Urteil vom – 1 StR 253/16 Rn. 35 mwN).
8b) Gemessen hieran erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft.
9aa) Die Würdigung des in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbildes ist nicht erschöpfend. Die Strafkammer hat dazu lediglich ausgeführt, dass dieses Lichtbild, das die Kindesmutter unmittelbar nach der Tat gefertigt habe, keine die Tatbestände der § 176, § 176a StGB aF erfüllenden Handlungen abbilde. Obgleich die Position des Kindes fragwürdig anmute, erfülle die „abgebildete Szene keinen Straftatbestand“. Somit sei das Foto „ungeeignet“ (UA S. 8). Diese Ausführungen lassen darauf schließen, dass die Strafkammer das Lichtbild nur unter dem Gesichtspunkt in den Blick genommen hat, ob sich daraus ein unmittelbarer Nachweis für eine vollendete Missbrauchshandlung gewinnen lasse. Dies greift unter den hier gegebenen Umständen zu kurz. Denn das Lichtbild wäre gerade auch mit Rücksicht auf die aus Sicht der Strafkammer „fragwürdig anmutende“ Szene daraufhin zu bewerten gewesen, ob sich ihm eine Indizwirkung für einen bereits stattgefundenen oder zumindest versuchten sexuellen Missbrauch von Kindern entnehmen lässt.
10bb) Soweit die Strafkammer darauf abstellt, dass die Kindesmutter zum Kerntatgeschehen ihr gegenüber mehrfach widersprüchliche Angaben gemacht habe (UA S. 7), fehlt es an einer zusammenhängenden Darstellung dieser Angaben in der Hauptverhandlung, ohne deren Kenntnis dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Wertung der Strafkammer nicht möglich ist (vgl. Rn. 6).
11cc) Schließlich fehlt es an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Kindesmutter sprechenden Aspekte. Die Urteilsgründe beschränken sich darauf, die Aussageinhalte zu würdigen. Sie lassen aber eine Gesamtschau ihrer Angaben im Zusammenspiel mit dem in den Urteilsgründen erwähnten Lichtbild vermissen.
123. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die getroffenen Feststellungen sind schon deswegen aufzuheben, weil sie den Angeklagten belasten und er sie mangels Beschwer durch den Freispruch nicht hat angreifen können (vgl. Rn. 19; Urteil vom – 6 StR 282/20 Rn. 27 mwN).
134. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat zudem auf Folgendes hin:
14a) Sollte das nun zur Entscheidung berufene Tatgericht den Angeklagten erneut freisprechen, wird es zu beachten haben, dass bei einem Freispruch in den Urteilsgründen gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO nach dem Tatvorwurf in der Regel zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen zum Tatgeschehen festzustellen sind, die das Tatgericht für erwiesen hält. Danach ist in der Beweiswürdigung darzulegen, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen – zusätzlichen – Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite nicht getroffen werden konnten (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 7; Urteil vom – 5 StR 36/19 Rn. 12, jew. mwN). Gegebenenfalls sind auch für den Tatvorwurf bedeutsame persönliche Verhältnisse des Angeklagten festzustellen (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 13; Urteil vom – 4 StR 479/22 Rn. 20).
15b) Soweit Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite getroffen werden, erfordert die sich aus § 264 StPO ergebende Kognitionspflicht, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 16 mwN; Urteil vom – 3 StR 295/22 Rn. 12 mwN; Urteil vom ‒ 5 StR 236/21 Rn. 10 mwN). Dies gilt auch in der hier vorliegenden Verfahrenskonstellation nach Wiederaufnahme des Verfahrens. Die richterliche Entscheidungsfreiheit ist insoweit nur durch das Verbot der Schlechterstellung gemäß § 373 Abs. 2 StPO begrenzt (vgl. ‒ 2 StE 1/64, BGHSt 19, 280, 282), wobei sich die Bindungswirkung lediglich auf die frühere Strafhöhe als Obergrenze, nicht jedoch auf die Begründung der Strafzumessung bezieht (MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl., § 358 Rn. 24). Ebenso hindert das Verschlechterungsverbot die Verböserung des Schuldspruchs nicht (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 4; Beschluss vom – 4 StR 519/19 Rn. 7 mwN). Gemessen daran hat das neue Tatgericht für den Fall getroffener Sachverhaltsfeststellungen diese auch unter dem Gesichtspunkt einer tateinheitlichen Verletzung (§ 52 StGB) des Straftatbestands des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF zu prüfen, soweit es sich nach der zugelassenen Anklage bei der Nebenklägerin um die leibliche Tochter des Angeklagten handelt.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:310823U4STR435.22.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-49515