Instanzenzug:
Gründe
Zur Vorlagefrage
29Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das gleiche Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen einschließlich in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, mit dem eine vorherige Gerichtsentscheidung befolgt wurde, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.
30Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nach geltendem Stand keine Frist festlegt, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, und erst recht nicht regelt, in welchen Fällen eine solche Frist zu hemmen ist.
31Zwar stellt die Verordnung Nr. 2988/95, auf die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof Bezug genommen wurde, bestimmte Anforderungen an die Berechnung und die Hemmung der Verjährungsfristen für die Verfolgung der in dieser Verordnung genannten Unregelmäßigkeiten. Aus Art. 1 Abs. 2 der Verordnung geht jedoch hervor, dass sie nur dann gilt, wenn durch die Verminderung oder den Ausfall einer Eigenmitteleinnahme, die „direkt für Rechnung der [Union] erhoben [wird]“, ein Schaden für den Haushalt der Union bewirkt wurde. Zwar folgt aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 und aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436, dass Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben, Eigenmittel der Union darstellen, so dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union besteht (Urteil vom , Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26). Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 die Mehrwertsteuer unmittelbar für die Union erhoben wird.
32Zum einen wird die Mehrwertsteuer nämlich von den Steuerpflichtigen eingezogen, die sie erst anschließend an die Mitgliedstaaten weiterleiten. Zum anderen bestehen nach Art. 1 der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1553/89 des Rates vom über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel (ABl. 1989, L 155, S. 9) die Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Union nicht nur in einem Prozentsatz der tatsächlich eingezogenen Mehrwertsteuereinnahmen, sondern sie ergeben sich aus der Anwendung eines für die Mitgliedstaaten einheitlichen Mehrwertsteuersatzes, der nach Art. 3 der Verordnung berechnet wird und verschiedenen in dieser Verordnung vorgesehenen Anpassungen unterliegt.
33Insoweit trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof anerkannt hat, dass das auf Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union gestützte, am in Luxemburg unterzeichnete Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 48) auf Betrugsfälle anwendbar ist, die Einnahmen betreffen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben. Art. 1 dieses Übereinkommens enthält jedoch entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 gerade nicht die Voraussetzung, dass die betreffenden Einnahmen unmittelbar für die Rechnung der Union erhoben werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Taricco u. a., C-105/14, EU:C:2015:555, Rn. 41).
34In Ermangelung anwendbarer unionsrechtlicher Bestimmungen ist es Sache der Mitgliedstaaten, Verjährungsvorschriften für das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer, einschließlich der Modalitäten der Hemmung und/oder Unterbrechung dieser Verjährung, festzulegen und anzuwenden (vgl. entsprechend Urteil vom , Whiteland Import Export, C-308/19, EU:C:2021:47, Rn. 45).
35Auch wenn die Festlegung und Anwendung dieser Vorschriften in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, müssen diese jedoch eine solche Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts ausüben, das die Festlegung angemessener Fristen verlangt, die zugleich den Steuerpflichtigen und die Behörde schützen (vgl. entsprechend Urteil vom , Q-Beef und Bosschaert, C-89/10 und C-96/10, EU:C:2011:555, Rn. 36).
36Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Verjährungsfrist von fünf Jahren für Anträge auf Erstattung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer, die ab Ende des Kalenderjahres beginnt, in dem die Frist für die Zahlung der Steuer abgelaufen ist, mit dem Unionsrecht vereinbar war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Caterpillar Financial Services, C-500/16, EU:C:2017:996, Rn. 43).
37Entsprechend ist in Anbetracht dieser Rechtsprechung eine Verjährungsfrist für das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer mit dem Unionsrecht vereinbar, die, wie im Ausgangsverfahren, fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs beträgt, in dem die Erklärung oder Mitteilung über diese Steuer hätte abgegeben werden müssen oder, in Ermangelung einer solchen Erklärung oder Mitteilung, die Steuer hätte entrichtet werden müssen.
38In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine solche Verjährungsfrist während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen gehemmt werden kann.
39Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit Teil der Unionsrechtsordnung und als solcher von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der in den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils angeführten Befugnisse zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Veloserviss, C-427/14, EU:C:2015:803, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , BTA Baltic Insurance Company, C-230/20, EU:C:2021:410, Rn. 45).
40Nach ständiger Rechtsprechung verlangt dieser Grundsatz, dass Tatbestände und Rechtsbeziehungen voraussehbar sind und dass u. a. die Lage eines Steuerpflichtigen in Bezug auf seine Rechte und Pflichten gegenüber der Steuer- oder Zollverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann (Urteil vom , Veloserviss, C-427/14, EU:C:2015:803, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung), was beinhaltet, dass sich dieser Steuerpflichtige, damit er sich erfolgreich auf die Anwendung dieses Grundsatzes berufen kann, auf eine bestimmte Rechtslage berufen kann.
41Da jedoch die Steuerbehörde dem betroffenen Steuerpflichtigen vor Ablauf der hierfür vorgesehenen Verjährungsfrist ihre Absicht mitgeteilt hat, seine steuerliche Situation erneut zu prüfen und damit ihre Entscheidung über die Annahme seiner Erklärung implizit zurückzunehmen, kann sich dieser Steuerpflichtige nicht mehr auf die Situation berufen, die auf der Grundlage dieser Erklärung entstanden wäre, so dass in einem solchen Fall und mangels weiterer Umstände kein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C-144/14, EU:C:2015:452, Rn. 40).
42Die Anforderungen, die sich aus der Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit ergeben, gelten nicht absolut. Daher müssen die Mitgliedstaaten im Übrigen darauf achten, sie mit den anderen Anforderungen, die mit ihrer Unionszugehörigkeit verbunden sind, in Ausgleich zu bringen, insbesondere mit den in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Anforderungen, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den von den Organen in deren Anwendung erlassenen Rechtsakten ergeben, zu ergreifen. Somit müssen die nationalen Vorschriften, die die Modalitäten für die Hemmung der Verjährungsfrist für das Recht der Steuerbehörde auf Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer festlegen, so ausgestaltet sein, dass sie ein Gleichgewicht zwischen zum einen den mit der Anwendung dieses Grundsatzes verbundenen Anforderungen und zum anderen den Anforderungen, die eine tatsächliche und wirksame Umsetzung der Richtlinie 2006/112 ermöglichen, herstellen, wobei dieses Gleichgewicht unter Berücksichtigung aller Aspekte der nationalen Verjährungsregelung zu beurteilen ist (vgl. entsprechend Urteil vom , Whiteland Import Export, C-308/19, EU:C:2021:47, Rn. 49 und 50).
43Zwar können eine nationale Regelung und eine Verwaltungspraxis wie die vom vorlegenden Gericht beschriebenen, deren Vorhersehbarkeit bei der Anwendung gegenüber den Steuerpflichtigen im Ausgangsverfahren nicht bestritten wird, zu einer Verlängerung der Verjährungsfrist führen, doch sind sie nicht grundsätzlich geeignet, die Situation der betroffenen Steuerpflichtigen auf unbestimmte Zeit in Frage zu stellen. Vielmehr ermöglicht eine solche Hemmung, zu verhindern, dass die tatsächliche und wirksame Umsetzung der Richtlinie 2006/112 durch die Einlegung von Verschleppungsklagen gefährdet werden kann und infolgedessen wegen eines systemischen Risikos der Nichtahndung von Zuwiderhandlungen gegen diese Rechtlinie gefährdet wird (vgl. entsprechend Urteil vom , Whiteland Import Export, C-308/19, EU:C:2021:47, Rn. 53 und 56).
44Folglich ist festzustellen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einer nationalen Regelung und einer Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, wonach die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das betreffende Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen gehemmt ist.
45Als Zweites ist in Bezug auf den Grundsatz der Effektivität, den das vorlegende Gericht in seiner Frage ebenfalls angeführt hat, darauf hinzuweisen, dass dieser zusammen mit dem Äquivalenzgrundsatz, dessen Einhaltung das vorlegende Gericht nicht in Frage gestellt hat, einen Rahmen für die Verfahrensautonomie festlegt, über die die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung den Einzelnen verleiht, dann verfügen, wenn das Unionsrecht insoweit keine spezifische Regelung enthält.
46Die Regelungen des nationalen Rechts über die Fristen, nach deren Ablauf die in der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Rechte und Pflichten verjähren, sowie über die Bedingungen für die Hemmung dieser Fristen stellen Modalitäten zur Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie dar, und als solche müssen sie demnach die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beachten (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom , Caterpillar Financial Services, C-500/16, EU:C:2017:996, Rn. 37, vom , Zabrus Siret, C-81/17, EU:C:2018:283, Rn. 38, vom , Nestrade, C-562/17, EU:C:2019:115, Rn. 35, und vom , Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági, C-13/18 und C-126/18, EU:C:2020:292, Rn. 53). Dies wird im Übrigen vorliegend nicht bestritten.
47Infolgedessen dürfen gemäß dem Grundsatz der Effektivität diese Verfahrensmodalitäten nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Littlewoods Retail u. a., C-591/10, EU:C:2012:478, Rn. 28, und vom , Kommission/Spanien [Verstoß des Gesetzgebers gegen das Unionsrecht], C-278/20, EU:C:2022:503, Rn. 33).
48Die Tatsache, dass nach einer nationalen Regelung oder Verwaltungspraxis die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das betreffende Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen gehemmt ist, ist allerdings nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder zumindest übermäßig erschweren.
49Die Tatsache, dass die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen gehemmt ist, hindert den betreffenden Steuerpflichtigen nämlich keineswegs daran, die Rechte geltend zu machen, die ihm durch die Unionsrechtsordnung und insbesondere durch die Richtlinie 2006/112 verliehen werden. Diese Fristhemmung soll ihm vielmehr ermöglichen, die Rechte, die ihm nach dem Unionsrecht zustehen, erfolgreich geltend zu machen, während die Rechte der Steuerbehörde gewahrt bleiben.
50Im Übrigen ergibt sich im vorliegenden Fall aus der Darstellung des Sachverhalts im Vorabentscheidungsersuchen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens gegen die nacheinander ergangenen Entscheidungen der Steuerbehörde Rechtsbehelfe einlegen und bei diesen Gelegenheiten wiederholt die Rechte, die ihr nach dem Unionsrecht zustehen, geltend machen konnte. Insbesondere konnte sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens trotz der bestehenden Regelung und Verwaltungspraxis, um die es im Ausgangsverfahren geht, auf der Grundlage des Grundsatzes der Rechtssicherheit auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten berufen, eine angemessene Verjährungsfrist zu bestimmen, innerhalb deren die betreffende Behörde das Verfahren zur Prüfung der Situation eines Steuerpflichtigen wieder eröffnen kann. So geht aus der Akte, über die der Gerichtshof verfügt, hervor und wurde im Übrigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof sowohl von der ungarischen Regierung als auch von der Klägerin des Ausgangsverfahrens bestätigt, dass das Recht der Steuerbehörde, die für die im Juni 2010 getätigten Umsätze geschuldete Mehrwertsteuer festzusetzen, erloschen ist, ohne dass es der Steuerbehörde gelungen wäre, einen mit der Richtlinie 2006/112 vereinbaren Berichtigungsbescheid zu erlassen.
51Folglich ist festzustellen, dass auch der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung und einer Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, wonach die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das betreffende Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen gehemmt ist.
52Als Drittes ist in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 60 bis 65 seiner Schlussanträge darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass weder der Grundsatz der Rechtssicherheit noch der Grundsatz der Effektivität einer solchen Regelung und Verwaltungspraxis entgegenstehen, es nicht ausschließt, dass nach dem Unionsrecht gegebenenfalls Konsequenzen daraus gezogen werden müssen, dass ein Steuerverfahren übermäßig oft wiederholt wurde, bevor eine mit der Richtlinie 2006/112 zu vereinbarende Entscheidung erreicht wurde, oder daraus, dass die Gesamtdauer der Hemmungen der Frist, nach deren Ablauf dieses Recht der Steuerbehörde verjährt, übermäßig lang ist.
53Sobald nämlich eine nationale Verwaltung gegenüber einer Person das Unionsrecht durchführt, steht dieser nach dem Recht auf eine gute Verwaltung, das einen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, das Recht zu, dass ihre Angelegenheit innerhalb einer angemessenen Frist behandelt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Agrobet CZ, C-446/18, EU:C:2020:369, Rn. 43). Zusätzlich hat sie im Fall eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einen Anspruch darauf, dass über ihre Sache ebenfalls innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wird.
54Sobald das Verfahren zur Prüfung der Situation eines Steuerpflichtigen in Bezug auf die Vorschriften des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems wieder eröffnet wird, erfordern folglich der Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta der Grundrechte, dass die Dauer einer solchen erneuten Prüfung und der sich gegebenenfalls anschließenden gerichtlichen Überprüfungen im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls nicht unangemessen ist.
55Zwar stellen nicht jeder erfolglose Versuch der Steuerbehörde, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, in der unionsrechtliche Bestimmungen angewendet werden, und die daraus folgende spätere Verlängerung der Dauer des Verwaltungsverfahrens einen Verstoß gegen das Unionsrecht dar. Ein solcher Verstoß könnte hingegen vorliegen, wenn dieses Verwaltungsverfahren aufgrund dessen wiederholt werden musste, dass diese Behörde einen tragenden Grund einer gerichtlichen Entscheidung über dieses Verwaltungsverfahren offenkundig missachtet hat, sofern dieser Grund in dieser gerichtlichen Entscheidung klar und ausdrücklich genannt wurde.
56Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die überlange Dauer eines Verfahrens, sei es ein Verwaltungs- oder ein Gerichtsverfahren, nur dann die Nichtigerklärung bzw. Aufhebung der am Ende des betreffenden Verfahrens getroffenen Entscheidung rechtfertigen kann, wenn diese Dauer die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, beeinträchtigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Gascogne Sack Deutschland/Kommission, C-40/12 P, EU:C:2013:768, Rn. 81, und vom , Bolloré/Kommission, C-414/12 P, EU:C:2014:301, Rn. 84).
57Da Steuerpflichtige während der Verjährungsfrist damit rechnen müssen, dass ihre auf der Grundlage ihrer Steuererklärung entstandene Rechtslage in Frage gestellt werden kann, und dass sie, wenn die Steuerbehörde sie über die Wiedereröffnung des Verfahrens zur Prüfung dieser Rechtslage informiert, veranlasst sein könnten, die in ihrer Steuererklärung enthaltenen Angaben belegen zu müssen, und schließlich, dass sie, wenn sie eine Klage gegen den am Ende dieses Verfahrens erlassenen Berichtigungsbescheid einlegen, Beweis für die Begründetheit ihres Vorbringens antreten müssen, obliegt es ihnen, die Aufbewahrung aller relevanten Belege im Zusammenhang mit ihrer Steuererklärung sicherzustellen, bis die Steuerbescheide rechtskräftig geworden sind. Angesichts der herausragenden Rolle, die die Steuererklärung und Urkunden im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zum Zweck des Nachweises der Richtigkeit der Erklärungen der Steuerpflichtigen einnehmen, könnte daher nur unter außergewöhnlichen Umständen festgestellt werden, dass die überlange Dauer eines Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, beeinträchtigt haben könnte.
58Vorliegend geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die Beurteilung der Gültigkeit der dritten zweitinstanzlichen Verwaltungsentscheidung durch das vorlegende Gericht ausschließlich von Nachweisen abhängt, die nicht unter die in der vorstehenden Randnummer dargestellte Verpflichtung fallen und die aufgrund der Wiederholung der Steuerverfahren oder aufgrund der Gesamtdauer der Hemmungen der Verjährungsfrist inzwischen untergegangen sind.
59Es ist jedoch Sache dieses Gerichts, u. a. unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob diese mehrfachen Wiederholungen des Verwaltungsverfahrens und Hemmungen der Verjährungsfrist einen Verstoß der Steuerbehörde oder der nationalen Gerichte gegen ihre Verpflichtungen zur guten Verwaltung bzw. zur Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist darstellen können, der sich darüber hinaus auf die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, ausgewirkt hat.
60Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen auch in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, um einer früheren Gerichtsentscheidung nachzukommen, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.
Kosten
61Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen auch in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, um einer früheren Gerichtsentscheidung nachzukommen, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.
Fundstelle(n):
IAAAJ-48571