BGH Beschluss v. - 2 StR 46/22

Leitsatz

1. Spezialitätsgrundsatz

2. Einbeziehung in Gesamtfreiheitsstrafe.

       

Gesetze: § 83h Abs 1 Nr 1 IRG

Instanzenzug: Az: 2 StR 46/22 Beschlussvorgehend LG Gießen Az: 9 KLs - 701 Js 13558/18

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubter“ Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum „unerlaubten“ Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen (Taten II.4.a) bis d)) sowie wegen Beihilfe zur „unerlaubten“ Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum „unerlaubten“ Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier weiteren Fällen (Taten II.4.f) bis i)) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und elf Monaten verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung für die in Polen vollzogene Auslieferungshaft getroffen. Außerdem hat das Landgericht gegen den Angeklagten als Gesamtschuldner die Einziehung „von Wertersatz“ in Höhe von 14.000 € angeordnet und näher bezeichnete Betäubungsmittel eingezogen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Die Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch, zu den Einzelstrafaussprüchen sowie zum Ausspruch über die Anrechnung von erlittener Auslieferungshaft keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

32. Der Ausspruch über die Gesamtstrafe hält dagegen revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand, soweit das Landgericht über die Einzelstrafen für die Taten II.4.a) und c) der Urteilsgründe hinaus die weiteren Einzelstrafen für die Taten II.4.b), d) sowie f) bis i) der Urteilsgründe einbezogen hat.

4a) Der Einbeziehung für die Taten II.4.b), d) sowie f) bis i) der Urteilsgründe steht der das Auslieferungsrecht beherrschende Grundsatz der Spezialität (Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, § 83h Abs. 1 IRG) entgegen.

5Der Angeklagte ist aufgrund Europäischen Haftbefehls vom , der Bezug nimmt auf den Haftbefehl des Amtsgerichts Gießen vom , von der Republik Polen ausgeliefert worden, nachdem das Bezirksgericht Kielce mit Entscheidung vom die Auslieferung bewilligt hatte. Der vorgenannte Europäische Haftbefehl erfasst lediglich die Taten II.4.a) und c) der Urteilsgründe des hiesigen Verfahrens. Nur zur Verfolgung dieser Straftaten ist der Angeklagte, der auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes auch nicht verzichtet hatte, von der Republik Polen ausgeliefert worden. Ein Nachtragsersuchen wurde bislang nicht gestellt.

6Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes für die Taten II.4.b), d) sowie f) bis i) der Urteilsgründe bewirkt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Vollstreckungshindernis (Senat, Beschluss vom – 2 StR 246/16, NStZ-RR 2017, 116; , NStZ-RR 2016, 290, 291 und vom – 1 StR 218/14, NStZ 2014, 590 unter Bezugnahme auf das [Leymann und Pustovarov], NStZ 2010, 35, 38 f.).

7Der Bundesgerichtshof hat sich – soweit ersichtlich – in zahlreichen Entscheidungen bisher nur mit der Konstellation befasst, dass unter Nichtbeachtung des Spezialitätsgrundsatzes aus einer an sich nachträglich einzubeziehenden Vorstrafe rechtsfehlerhaft eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wurde (BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 498/22, juris Rn. 3; vom – 6 StR 48/22, NStZ-RR 2022, 154; Senat, Beschluss vom – 2 StR 25/19, juris Rn. 6; BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 40/15, juris Rn. 5; vom – 1 StR 218/14, BGHR IRG § 83h Abs. 1 Nr. 1 Spezialitätsgrundsatz 3; vom – 4 StR 303/11, NStZ 2012, 100). In diesen Fällen durfte eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Vorstrafe nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden.

8Soweit sich die vorliegende Fallgestaltung – gleichzeitige Aburteilung mehrerer, von der Auslieferungsbewilligung bzw. dem Europäischen Haftbefehl nur teilweise umfasster Taten – in früheren Verfahren stellte, konnte der Bundesgerichtshof diese nach entsprechender Einstellung der insoweit betroffenen Taten noch offenlassen (vgl. , juris Rn. 10 ff.; vom – 4 StR 511/18, juris Rn. 7 ff.).

9Sinn und Zweck des vorgenannten Grundsatzes der Spezialität, Schutz der Souveränität des um Rechtshilfe (hier: Auslieferung im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) ersuchten Staates (vgl. , NStZ-RR 2016, 290, 293), bedingen es, die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur nachträglichen Einbeziehung von Vorstrafen auf die vorliegende Konstellation zu übertragen, in der hinsichtlich der Gesamtstrafensituation eine vergleichbare Verfahrenslage in Rede steht. Der Unterschied zur bisher entschiedenen Fallgruppe besteht lediglich darin, dass keine nachträgliche Gesamtstrafe mit einer dem Spezialitätsschutz unterfallenden Vorstrafe zu bilden war, sondern mehrere Taten zur gleichzeitigen Aburteilung anstanden, von denen ein Teil von der Auslieferungsbewilligung bzw. von dem Europäischen Haftbefehl nicht umfasst war. Um dem Spezialitätsschutz hinreichend Rechnung zu tragen, darf eine Gesamtstrafe in dieser Konstellation (erst recht) nicht gebildet werden.

10Zwar käme vorliegend – wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift ausführt und auch im Schrifttum vertreten wird (vgl. Ambos/König/Rackow/Meyer, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., IRG, § 83h Rn. 1052) – eine vollständige oder mit Blick auf die Einsatzstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten im Fall II.4.a) der Urteilsgründe teilweise Zurückstellung der Vollstreckung bis zur Durchführung des Nachtragsersuchens in Betracht, zumal vorliegend bislang nur geringfügig Untersuchungshaft vollstreckt wurde und ein Nachtragsersuchen aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Diese Vorgehensweise könnte aber in anderen Konstellationen, vor allem bei niedrigeren Einsatz- und Einzelstrafen, in der Vollstreckungspraxis zu uneinheitlichen oder unbilligen Ergebnissen führen.

11b) Das Landgericht wird somit aus den für die abgeurteilten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtsfehlerfrei bestimmten Einzelstrafen von zwei Jahren und zehn Monaten (Tat II.4.a) der Urteilsgründe) und zwei Jahren und zwei Monaten (Taten II.4.c) der Urteilsgründe) unter Beachtung des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Dies kann im Beschlusswege nach den §§ 460, 462 StPO erfolgen (§ 354 Abs. 1b StPO). Sollten aufgrund einer nachträglichen Zustimmung der Republik Polen oder nach einem jederzeit möglichen Verzicht des Angeklagten auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes die übrigen Einzelstrafen vollstreckbar werden, wäre – ebenfalls gemäß § 460 StPO – nachträglich eine (neue) Gesamtstrafe zu bilden (Senat, Urteil vom – 2 StR 25/19, juris Rn. 11). Im Rahmen der nachträglichen gerichtlichen Entscheidung wird auch Gelegenheit bestehen zu prüfen, ob angesichts der Tätigkeit des Angeklagten als internationaler Speditionsfahrer (vgl. UA 54) der Spezialitätsschutz nach § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG oder Art. 14 Abs. 1 Buchst. b) des Europäischen Auslieferungsübereinkommens möglicherweise entfallen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 165/12, juris Rn. 8 ff.; vom – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 143).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:190723B2STR46.22.0

Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 37
NJW 2023 S. 3028 Nr. 41
NJW 2023 S. 3029 Nr. 41
SAAAJ-47347