Täter-Opfer-Ausgleich bei Sexualdelikten: Wiedergutmachungsangebot eines intelligenzgeminderten Täters; Intelligenzminderung als Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung
Gesetze: § 20 StGB, § 21 StGB, § 46a StGB, § 49 Abs 1 StGB, § 176 Abs 1 Nr 1 StGB, § 177 Abs 1 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO
Instanzenzug: LG Magdeburg Az: 22 KLs 19/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
21. Nach den Feststellungen des Landgerichts sprach der zur Tatzeit 39 Jahre alte, an dem Klinefelter-Syndrom leidende und erheblich alkoholisierte Angeklagte auf einem Spielplatz die zehnjährige Nebenklägerin an, deren kindliches Alter er erkannte. Er versuchte, sie zu küssen, fasste unter ihrem T-Shirt an ihre Brust und lockte sie in einen angrenzenden Heckenbereich. Dort zog er ihre Leggings und Unterhose herunter und leckte an ihrer Vagina. Als er auch seine Unterhose herunterziehen wollte, hörte er Rufe des Stiefvaters der Nebenklägerin, der diese suchte, und zog daraufhin ihre Hose wieder hoch.
3Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit sexuellem Übergriff (§ 177 Abs. 1 StGB) gewertet. Sachverständig beraten ist es davon ausgegangen, dass er an einer leichten Intelligenzminderung leide, die im Zusammenhang mit dem Klinefelter-Syndrom stehe und in Verbindung mit dem am Tattag konsumierten Alkohol, der wie ein Katalysator gewirkt habe, zu einer erheblichen Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit geführt habe.
41. Während der Schuldspruch keine Rechtsfehler aufweist, unterliegt der Strafausspruch der Aufhebung. Die Begründung, mit der das Landgericht das Zustandekommen eines Täter-Opfer-Ausgleichs, der zu einer Strafrahmenverschiebung nach § 46a Nr. 1 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB hätte führen können, abgelehnt hat, hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand. Die diesbezüglichen Erwägungen des Landgerichts erweisen sich in zweifacher Hinsicht als lückenhaft.
5a) Dies gilt zunächst mit Blick darauf, dass es die vom Angeklagten in der Hauptverhandlung geäußerte Entschuldigung mit der Begründung als unzureichend erachtet hat, er habe diese nicht ausdrücklich an die Nebenklägerin selbst gerichtet und sich auch außerhalb der Hauptverhandlung weder an die Nebenklägerin noch an deren Mutter gewandt.
6Denn abgesehen davon, dass ein persönlicher Kontakt zwischen Täter und Opfer nicht zwingend erforderlich (vgl. ) und bei Sexualdelikten aus Opferschutzgründen vielfach nicht ratsam ist (vgl. mwN), hat die Strafkammer bei ihrer Wertung die Besonderheiten in der Persönlichkeit des Angeklagten – namentlich die von ihr angenommenen massiven Einschränkungen seiner kognitiven Fähigkeiten – nicht hinreichend berücksichtigt. Sie hat nicht erörtert, ob der Angeklagte überhaupt in der Lage war zu erkennen, an wen er seine Entschuldigung zu richten hatte und ob er – gegebenenfalls unter Zuhilfenahme anderer Personen – zur Abfassung eines Briefs an die Nebenklägerin oder deren Mutter imstande war.
7b) Lückenhaft sind die Erwägungen der Strafkammer auch insoweit, als sie die Höhe der vom Angeklagten geleisteten Zahlung wegen der zugleich vereinbarten Abgeltungsklausel für unzureichend gehalten hat. Zwar ist sie im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass die Prüfung erforderlich ist, ob die konkret angebotenen Leistungen des Täters nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle oder immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können (vgl. ; BGHR StGB § 46a Nr. 1 Ausgleich 13). Sie hätte aber bei ihrer Beurteilung sowohl die eingeschränkten finanziellen Verhältnisse des in einer Behindertenwerkstatt beschäftigten Angeklagten als auch den Umstand, dass es sich um einen Vergleichsabschluss handelte, näher in den Blick nehmen müssen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 6 StR 200/21; vom – 1 StR 178/19, NStZ-RR 2019, 305). Es steht der Annahme der Voraussetzungen des § 46a StGB nicht entgegen, dass ein Opfer dem Täter den Täter-Opfer-Ausgleich leicht macht, indem es an das Maß seiner Wiedergutmachungsbemühungen keine hohen Anforderungen stellt und schnell zu einer Versöhnung bereit ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 41/01, StV 2001, 457; vom 7. Dezem-ber 2016 – 4 StR 419/16).
82. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand.
9a) Die Urteilsgründe belegen bereits nicht hinreichend, dass der Angeklagte an einer Intelligenzminderung im Sinne des § 20 StGB leidet.
10Unabhängig davon, dass eine Intelligenzschwäche als Krankheitsfolge zur Gruppe der krankhaften seelischen Störungen gehört (vgl. , StV 1997, 61; Streng in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 20 Rn. 38; Kaspar in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl., § 20 Rn. 70; Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 2, S. 389; Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl., S. 98) und nur die Intelligenzminderung ohne Organbefund diesem Merkmal unterfällt (vgl. zur früheren Gesetzesfassung , NStZ-RR 2021, 41, 42), ist ein Eingangsmerkmal im Sinne des § 20 StGB nicht ausreichend belegt.
11Der Sachverständige, dessen Wertung die Strafkammer gefolgt ist, hat sich maßgeblich auf das Ergebnis eines im Jahr 2000 bei dem Angeklagten durchgeführten Intelligenztests gestützt. Dies allein vermag eine relevante Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht zu begründen. Schon wegen des Zeitablaufs (vgl. BeckOK-StGB/Eschelbach, 57. Edition, § 20 Rn. 45 ff.), aber auch wegen der mit dem Klinefelter-Syndrom verbundenen Entwicklungsverzögerungen und der vom Sachverständigen benannten leichten Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten hätte es der Erhebung und Mitteilung aktueller und aussagekräftiger Befundtatsachen bedurft. Der Hinweis auf weiterhin vorhandene „massive intellektuelle Defizite“ genügt nicht, zumal nähere Ausführungen dazu fehlen, ob sie bei wertender Betrachtung ein solches Ausmaß erreichen, dass die Annahme eines Eingangsmerkmals des § 20 StGB gerechtfertigt ist (vgl. ).
12b) Die Gefährlichkeitsprognose begegnet gleichfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
13Das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei begründet, dass von dem Angeklagten in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
14aa) Zwar hat die Strafkammer in den Blick genommen, dass der Angeklagte vor der Anlasstat strafrechtlich nicht erheblich in Erscheinung getreten ist. Ihre Einschätzung, dass gleichwohl „ein hohes Risiko für weitere solcher Straftaten“ bestehe, ist indessen nicht tragfähig begründet. Der Hinweis auf die eingeschränkte Fähigkeit, aufsteigenden Impulsen zu widerstehen und diese „ohne Rücksicht auf die Folgen auszuagieren“, ist schon im Hinblick darauf unzulänglich, dass der Angeklagte nur einmal und zudem unter erheblichem Alkoholeinfluss derartig in Erscheinung getreten ist. Hinzu kommt, dass sich das Landgericht mit Blick auf die vermeintlich eingeschränkte Fähigkeit des Angeklagten zur Impulskontrolle nicht mit dem Umstand auseinandersetzt, dass er sich während der gesamten bisherigen Dauer seiner einstweiligen Unterbringung „freundlich, zugewandt und kooperativ“ verhalten hat.
15bb) Soweit das Landgericht auf „niederschwellige sexuelle Verfehlungen im Jahr 2014“ hingewiesen hat, durfte es hieraus im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose keine Schlüsse ziehen, weil es zu diesen Vorfällen keine näheren Feststellungen getroffen hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 556/19; vom – 6 StR 247/20).
16cc) Auch eine zeitlich erheblich verzögert stattfindende Pubertät des Angeklagten und ein damit einhergehendes gestiegenes Interesse an Sexualität sind nicht hinreichend belegt und vermögen daher seine Gefährlichkeit nicht zu begründen. Insoweit weisen die Urteilsgründe zudem einen unauflösbaren Widerspruch auf. Während der von der Strafkammer gehörte Sachverständige nur die Hypothese aufgestellt hat, die Entwicklungsverzögerung im psychosozialen Bereich „könne zur Folge haben, dass der Sexualtrieb sich erst jetzt entwickele, so dass der Angeklagte sich im Stadium der Pubertät befinde“, ist die Strafkammer an anderer Stelle im Urteil davon ausgegangen, der Sachverständige habe diese Entwicklungsphase „nachvollziehbar dargelegt“.
173. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung, naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen, neuer Verhandlung und Entscheidung.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:120723B6STR275.23.0
Fundstelle(n):
OAAAJ-46119