BVerfG Urteil v. - 1 BvR 491/23

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Ermittlungsrichterliche Untätigkeit bzgl der Versiegelung eines sichergestellten Datenträgers trotz erkennbarer Dringlichkeit verletzt Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 S 1 GG)

Gesetze: Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 90 BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 94 Abs 1 StPO, § 102 StPO

Instanzenzug: Az: 1 BVR 491/23 Einstweilige Anordnungvorgehend AG Tiergarten kein Datum verfügbar Az: (351 Gs) 237 Js 536/22 (2654/22)

Gründe

I.

1Die Verfassungsbeschwerde betrifft ermittlungsrichterliche Untätigkeiten.

21. Die Beschwerdeführerin betreibt ein Online-Nachrichtenportal, das über tagespolitische Geschehnisse berichtet.

3Wegen des Vorwurfs von strafbewehrten Verstößen gegen das Parteiengesetz führt die Staatsanwaltschaft gegen zwei Beschuldigte jeweils ein selbstständiges Ermittlungsverfahren (geführt unter den Aktenzeichen 276 Js 739/19 und 237 Js 536/22). Im Rahmen dieser Verfahren erwirkte die Staatsanwaltschaft im August 2022 gestützt auf § 103 StPO ermittlungsrichterliche Beschlüsse, in denen die Durchsuchung näher bezeichneter Räumlichkeiten angeordnet wurde, für die der Geschäftsführer der Beschwerdeführerin als Verantwortlicher eines Vereins zuständig war.

4Am wurden die Durchsuchungsbeschlüsse vollzogen. Teile des durchsuchten Objekts nutzt die Beschwerdeführerin nach ihren Angaben als Redaktionsraum. Im Rahmen der Durchsuchung stellten die Beamten ein Kuvert mit darin enthaltenem digitalen Datenträger (USB-Stick) sicher, der sich zuvor in einem Safe befand. Diesen öffnete der Geschäftsführer der Beschwerdeführerin nach Ankündigung durch die Beamten, diesen anderenfalls aufzubrechen.

5Mit Schriftsätzen vom beantragte die Beschwerdeführerin in beiden Ermittlungsverfahren beim Amtsgericht eine ermittlungsrichterliche Entscheidung, wonach die Sicherstellung aufzuheben und das bezeichnete Kuvert inklusive des USB-Sticks an sie herauszugeben sei (fortan der "Hauptantrag"). Darüber hinaus beantragte sie die sofortige Versiegelung des Kuverts inklusive des USB-Sticks bis zur Herausgabe an sie, jedenfalls bis zur richterlichen Entscheidung (fortan der "Eilantrag"). Zur Begründung führte sie aus, dass die Durchsuchung des Redaktionsraums von den Durchsuchungsbeschlüssen nicht gedeckt gewesen sei. Zudem sei nicht beachtet worden, dass die Daten auf dem USB-Stick dem journalistischen Quellenschutz unterlägen. Der sichergestellte Datenträger sei bei alledem noch nicht einmal versiegelt worden, was umgehend nachzuholen sei.

6Telefonische Nachfragen der Beschwerdeführerin vom blieben nach ihrem Vortrag ergebnislos. Auf Sachstandsanfragen, die sie schriftlich unter dem in beiden Ermittlungsverfahren anbrachte, erfolgte keine Antwort. Eine unter dem erhobene und unter Verweis auf eine ermittlungsrichterliche Untätigkeit begründete Dienstaufsichtsbeschwerde wurde dahingehend beantwortet, dass diese bearbeitet werde.

72. Mit ihrer beim Bundesverfassungsgericht am eingegangenen und mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Das Amtsgericht habe trotz der ersichtlichen und auch ausdrücklich geltend gemachten Eilbedürftigkeit nicht über die gestellten Anträge vom entschieden.

83. Mit Beschluss vom hat die Kammer eine einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG erlassen und die ermittlungsführende Staatsanwaltschaft angewiesen, das sichergestellte Kuvert inklusive des darin enthaltenen USB-Sticks einstweilen versiegelt bei dem Amtsgericht zu hinterlegen und von einer Auswertung oder sonstigen Verwertung der sichergestellten Gegenstände und der Datensicherung einstweilen Abstand zu nehmen.

94. Unter dem hat das Amtsgericht die Anträge der Beschwerdeführerin vom auf ermittlungsrichterliche Entscheidung in einem der beiden in Rede stehenden Ermittlungsverfahren (276 Js 739/19) beschieden. In dem weiteren Ermittlungsverfahren (237 Js 536/22) steht eine Entscheidung über die unter dem gestellten Anträge der Beschwerdeführerin weiterhin aus.

105. Das Land Berlin (Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung) hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten der Ermittlungsverfahren haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

11Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit der Ermittlungsrichter den Eilantrag der Beschwerdeführerin in dem Verfahren 237 Js 536/22 nicht beschieden hat. Ihre Annahme ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen insoweit vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerden maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig ist.

121. Die Verfassungsbeschwerde ist zum Teil unzulässig.

13a) Soweit die Beschwerdeführerin weiterhin auch im Hinblick auf das Verfahren 276 Js 739/19 eine verfassungswidrige Untätigkeit rügt, obwohl das Amtsgericht zwischenzeitlich in diesem Verfahren über ihre Anträge vom entschieden hat, fehlt ihr das in jeder Lage des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu prüfende Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 571/16 -, Rn. 17). Ein solches liegt (nur) vor, solange der Rechtsschutzsuchende (noch) gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann (vgl. BVerfGE 104, 220 <232>; BVerfGK 7, 87 <104>; 11, 262 <266>). Daran fehlt es hier, nachdem das Amtsgericht den Beschluss vom gefasst hat. Ein trotz Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis an einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1072/17 -, Rn. 12, m.w.N.) hat die Beschwerdeführerin nicht in einer den § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise geltend gemacht.

14b) Im Hinblick auf das Verfahren 237 Js 536/22 besteht das Rechtsschutzbedürfnis zwar fort, eine mögliche Grundrechtsverletzung hat die Beschwerdeführerin aber nicht aufgezeigt, soweit sie eine Nichtbescheidung ihres Hauptantrags rügt. Dieser auf § 110, § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO gestützte Antrag lässt anders als der Eilantrag (dazu Rn. 17 ff.) weder aufgrund des Vorbringens der Beschwerdeführerin noch aufgrund der Umstände eine besondere Eilbedürftigkeit erkennen, die das Amtsgericht in einer Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzenden Weise missachtet haben könnte.

152. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die fortbestehende ermittlungsrichterliche Untätigkeit betreffend den Eilantrag in dem Verfahren 237 Js 536/22 verletzt die Beschwerdeführerin in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

16a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgt effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Verletzungen der Individualsphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 51, 176 <185>; 67, 43 <58>; 101, 106 <122 f.>). Dieser Rechtsschutz darf sich dabei nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (vgl. BVerfGE 101, 106 <123>). Hierbei bedeutet wirksamer Rechtsschutz auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass Eilrechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 <151 ff.>; 65, 1 <70>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Februar und - 2 BvR 167/22 -, Rn. 2 bzw. Rn. 20, m.w.N.).

17b) Diesen Anforderungen wird der Ermittlungsrichter im Ermittlungsverfahren 237 Js 536/22 nicht gerecht. Sein Umgang mit dem Eilantrag der Beschwerdeführerin verletzt deren Anspruch auf effektiven Rechtschutz.

18In ihrem Schriftsatz vom hat sie ausdrücklich folgenden Antrag gestellt:

"Ich beantrage ferner die sofortige Versiegelung des "Kuverts […]" inkl. des darin enthaltenen USB-Sticks (1 TB) bis zur Herausgabe an meine Mandantin, jedenfalls bis zur richterlichen Entscheidung."

19In der Antragsbegründung kritisierte die Beschwerdeführerin, dass die Durchsuchungsbeamten "noch nicht einmal" den sichergestellten Datenträger versiegelt hätten, was nunmehr - so ausdrücklich - umgehend nachgeholt werden müsse.

20Unbeschadet dieser unmissverständlichen Formulierungen musste sich dem Ermittlungsrichter auch deshalb die Eilbedürftigkeit dieses Antrags aufdrängen, weil dieser erkennbar darauf ausgerichtet war, vollendete Zustände zu verhindern. Mit ihrem Hauptantrag auf ermittlungsrichterliche Entscheidung bezweckte die Beschwerdeführerin - wie ebenfalls von ihr ausdrücklich benannt - die Aufhebung der Sicherstellung und Herausgabe des Kuverts inklusive des darin befindlichen USB-Sticks. Sie berief sich im Weiteren auf ihre besondere Stellung als Presseorgan, weshalb jede Einsichtnahme der Ermittlungsbehörden in die auf dem USB-Stick gespeicherten Daten verhindert werden soll.

21Vor diesem Hintergrund war klar, dass der Entscheidung über den Hauptantrag und damit dem durch das Fachrecht vorgesehenen Rechtsbehelf nach § 110 Abs. 4, § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO praktisch keine Bedeutung mehr zukommt, sobald die Ermittlungsbehörden den USB-Stick ausgewertet haben. Um daher einem solchen irreversiblen Zustand zuvorzukommen, hat die Beschwerdeführerin einen Eilantrag formuliert. Damit hatte sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf dessen seiner Dringlichkeit entsprechenden Bescheidung.

22Ein Zurückstellen der Entscheidung über den Eilantrag seit nunmehr über acht Monaten ist hiermit unvereinbar. Ein dies rechtfertigender Grund folgt auch - worauf das Land Berlin in seiner Stellungnahme gedrungen hat - nicht daraus, dass der Ermittlungsrichter zunächst vor Entscheidung über die Anträge der Beschwerdeführerin vom abwarten durfte, wie über eine durch den Geschäftsführer der Beschwerdeführerin im eigenen Namen angebrachte Beschwerde entschieden wird. Ein solches am Gedanken der Prozessökonomie ausgerichtetes Vorgehen kann allenfalls rechtfertigen, dass die Entscheidung über den Hauptantrag vom zurückgestellt wird, um divergierende Sachentscheidungen zu vermeiden. Dies gilt für den Eilantrag vom hingegen nicht, weil die Beschwerdeführerin mit diesem keine Entscheidung in der Sache, sondern nur eine vorläufige Sicherung ihrer geltend gemachten Rechtsposition begehrt.

III.

23Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Hierbei war zu ihren Gunsten zu berücksichtigen, dass ihre Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die grundrechtswidrig hinausgezögerte Bescheidung des Eilantrags, den die Beschwerdeführerin auch in dem Verfahren 276 Js 739/19 gestellt hat, ohne deren Erledigung auf Grundlage der getroffenen Feststellungen (dazu Rn. 17 ff.) offensichtlich erfolgreich gewesen wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 <115 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2100/11 -, Rn. 20).

24Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

25Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230626.1bvr049123

Fundstelle(n):
JAAAJ-45837