Revisionsgrund: Verwertung einer nicht in den Prozess eingeführten Urkunde zu Lasten des Angeklagten
Gesetze: § 249 Abs 1 StPO, § 249 Abs 2 StPO, § 261 StPO
Instanzenzug: Az: 9 KLs 341 Js 78080/20nachgehend Az: 5 StR 368/24 Beschluss
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen und Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision führt zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die Revision hat mit der Rüge der Verletzung des § 261 StPO Erfolg. Denn das Landgericht hat sich bei der Bestimmung des Wirkstoffgehalts der verfahrensgegenständlichen Betäubungsmittel auf eine Statistik des Landeskriminalamts Bremen für das Jahr 2020 gestützt, die nicht Inbegriff der Hauptverhandlung war.
3a) Nach dem – von den Berufsrichtern der erkennenden Strafkammer in ihrer dienstlichen Erklärung zugestandenen – Revisionsvortrag des Beschwerdeführers wurde die Statistik weder durch Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO oder einen Inhaltsbericht der Vorsitzenden (vgl. hierzu , BGHSt 30, 10) noch im Wege des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO oder der Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht.
4b) Das Landgericht hat die in der polizeilichen Statistik erfassten Mittelwerte zum Wirkstoffgehalt von Betäubungsmitteln daher zu Unrecht zum Nachteil des Angeklagten verwertet. Denn das Tatgericht darf seiner Entscheidung über die Schuld- und Straffrage nach § 261 StPO nur die Erkenntnisse zugrunde legen, die es in der Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises gewonnen hat (vgl. , BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 5).
5Soweit Berufsrichter in ihrer dienstlichen Erklärung auf die Gerichts- und Allgemeinkundigkeit des in der Statistik festgehaltenen durchschnittlichen Wirkstoffgehalts der in Rede stehenden Betäubungsmittel hingewiesen haben, kann dies unter den hier gegebenen Umständen die prozessordnungsgemäße Einführung der Urkunde nicht ersetzen. Zwar ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, außerhalb der Hauptverhandlung erlangtes Wissen ohne förmliche Beweiserhebung als offenkundige – also gerichts- oder allgemeinkundige – Tatsachen zu verwerten (vgl. hierzu sowie zur Hinweispflicht des Tatgerichts BGH aaO; Urteil vom – 3 StR 508/17, JR 2018, 579 mwN; Beschluss vom – 1 StR 68/12, NStZ 2013, 121). Aus dem mit der dienstlichen Erklärung nicht in Abrede gestellten Revisionsvortrag und den vom Senat von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Urteilsgründen ergibt sich aber, dass das Landgericht die polizeiliche Statistik als „zum Gegenstand der Hauptverhandlung“ gemacht und die darin aufgelisteten Wirkstoffgehaltmittelwerte mithin gerade nicht als offenkundig behandelt hat.
62. Der Senat schließt angesichts des inmitten stehenden Handels mit Haschisch und Kokain im Kilobereich aus, dass der Schuldspruch auf dem Rechtsfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Einziehungsausspruch wird von der Frage des Wirkstoffgehalts der Betäubungsmittel nicht berührt. Der Aufhebung unterliegt daher lediglich der Strafausspruch mit den Feststellungen zum Wirkstoffgehalt der verfahrensgegenständlichen Betäubungsmittel (§ 353 StPO). Im Übrigen sind die Feststellungen zum Strafausspruch nicht von dem Rechtsfehler betroffen und bleiben daher bestehen (§ 353 Abs. 2 StPO).
7Sollte das neue Tatgericht für eine Schätzung des Wirkstoffgehalts der gehandelten Betäubungsmittel statistische Durchschnittwerte heranziehen, wird es in Betracht zu nehmen haben, dass das Geschäft im Fall 1 rückabgewickelt wurde, weil der Käufer nicht mit der Qualität der Betäubungsmittel „einverstanden“ war.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:200623B5STR47.23.0
Fundstelle(n):
NAAAJ-45814