Gehörsverstoß in einem Schadensersatzprozess wegen eines Kfz-Unfalls: Einwände einer Partei gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten unter Vorlage eines Privatgutachtens; Aufklärung der Schadenshöhe durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen
Leitsatz
Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess.
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 411 Abs 3 ZPO, § 412 ZPO
Instanzenzug: Az: 22 U 1055/20vorgehend Az: 43 O 91/18
Gründe
I.
1Der Kläger nimmt die Beklagte nach einem Verkehrsunfall auf Schadensersatz in Anspruch.
2Der Lkw des Klägers war am Fahrbahnrand geparkt, als er durch einen vorbeifahrenden, bei der Beklagten haftpflichtversicherten Lkw beschädigt wurde. Der Kläger holte vorgerichtlich ein Sachverständigengutachten zum Schaden an seinem Lkw ein. Auf der Grundlage dieses Gutachtens macht er mit seiner Klage Zahlung von Nettoreparaturkosten in Höhe von 19.107,91 €, Gutachtenkosten von 1.437,20 €, einer Unkostenpauschale von 20 € sowie von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten geltend und verlangt die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle Schäden. Das Landgericht hat nach Vernehmung eines Zeugen und Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
3Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
41. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, das Landgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger den ihm entstandenen Schaden schon nicht substantiiert dargelegt habe, da der gerichtliche Sachverständige nur einen kleinen Teil der Schäden am Lkw, und zwar an der Klappe oberhalb der Ladebordwand und an der hinteren linken und rechten Eckrunge, dem Unfallmechanismus habe zuordnen können. Die weiteren Schäden an der Ladebordwand und an anderen Bauteilen des Lkws habe er dem Unfall nicht zuordnen können. Daher sei ein Großteil der im Privatgutachten kalkulierten Kosten zur Reparatur der unfallbedingten Schäden nicht erforderlich. Im Privatgutachten seien keine unreparierten Vorschäden aufgeführt, da der Kläger dem Privatgutachter diese offensichtlich nicht mitgeteilt habe. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts oder eines von ihm beauftragten Sachverständigen, die zurechenbaren Kosten aus dem Privatgutachten zu ermitteln; vielmehr sei es Aufgabe der Partei, ihren Schaden schlüssig vorzutragen. Das Landgericht habe die Einholung eines weiteren Gutachtens zu Recht als unzulässige Ausforschung abgelehnt, da die Fragen des Klägers ergebnisoffen auf die Ermittlung von Tatsachen gerichtet gewesen seien. Anknüpfungstatsachen für eine gegebenenfalls sachverständig unterstützte Schadensschätzung lägen nicht vor.
52. Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen den Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft davon abgesehen, Einwendungen des Klägers gegen das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen nachzugehen. Es hat außerdem zu Unrecht den Vortrag des Klägers zu den nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB erforderlichen Herstellungskosten als nicht hinreichend substantiiert angesehen und eine weitere Beweiserhebung hierzu abgelehnt.
6a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom - VI ZR 328/18, NJW 2019, 3236 Rn. 6; vom - VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 7; jeweils mwN).
7b) Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, da es zu der auf den Angaben des Privatgutachters gestützten Behauptung des Klägers, zur Beseitigung des Unfallschadens sei der Gesamtaufbau des Lkws zu erneuern, da das Ersetzen einzelner Teile des Aufbaus laut dem Hersteller des Aufbaus nicht möglich sei, den gerichtlichen Sachverständigen nicht ergänzend befragt hat.
8Das Landgericht hat ein schriftliches Sachverständigengutachten zu der Behauptung des Klägers eingeholt, durch den Unfall sei der geparkte Lkw des Klägers durch einen streifenden Anstoß des in der Nebenspur vorbeifahrenden Lkws gegen die Ladebordwand beschädigt worden, was die im Privatgutachten angegebenen Reparaturkosten zur Folge habe. Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass ein Großteil der im Privatgutachten kalkulierten Reparaturkosten für eine Reparatur der dem Verkehrsunfall zuzuordnenden Beschädigungen nicht erforderlich sei.
9Der Kläger hat in seiner Stellungnahme zum Gutachten, in der Berufungsbegründung und in der Stellungnahme zum Hinweisbeschluss ausgeführt, der gerichtlich bestellte Sachverständige habe sich unzureichend mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass es sich um einen Spezialaufbau auf einem Nutzfahrzeug handele, der nach der Information des Privatgutachters, der wiederum eine Auskunft der Herstellerfirma der Aufbaukonstruktion eingeholt habe, nicht nur punktuell repariert werden könne, sondern durch einen vollständigen Neuaufbau ersetzt werden müsse, um die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Die da-durch entstehende Wertverbesserung sei als Abzug neu für alt zu berücksichtigen. Diesem Einwand ist weder das Land- noch das Berufungsgericht nachgegangen.
10Einwände einer Partei gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten, die unter Vorlage eines Privatgutachtens geltend gemacht werden, muss das Gericht aber ernst nehmen. Es muss ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären. Dem Gericht bieten sich hierzu mehrere Möglichkeiten an: Es kann den gerichtlichen Sachverständigen entweder zur schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen oder ihn zur Anhörung laden, § 411 Abs. 3 ZPO. Ein Antrag der beweispflichtigen Partei ist dazu nicht erforderlich. Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige weder durch schriftliche Ergänzung seines Gutachtens noch im Rahmen seiner Anhörung die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen ausräumen kann, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gemäß § 412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 234/90, NJW 1992, 1459 f., juris Rn. 12; BGH, Versäumnisurteil vom - V ZR 256/14, NJW-RR 2016, 1251 Rn. 11 f.).
11c) Nach den oben angeführten Grundsätzen verletzt auch die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vortrag des Klägers zur Schadenshöhe sei nicht hinreichend substantiiert, es fehle an Vortrag zu Altschäden, weshalb von der Einholung eines weiteren Gutachtens abzusehen sei, den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
12Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in seinem Gutachten ausgeführt, welche Beschädigungen am Aufbau des Lkws durch den Unfall entstanden sein können und welche er dem Verkehrsunfall nicht zuordnen könne. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts hätte der Kläger keinen weiteren Vortrag zu den nicht unfallbedingten, laut Kläger auf üblichen Gebrauch zurückzuführenden Schäden halten müssen. Denn der gerichtlich bestellte Sachverständige konnte - wie sich aus dessen Gutachten und den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt - auch ohne weiteren Vortrag des Klägers die nicht unfallbedingten Schäden erkennen. Der Kläger hat sich diese ihm günstigen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen konkludent zu eigen gemacht (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZR 308/13, NJW 2014, 3300 Rn. 6 mwN). Das Berufungsgericht meint auf Seite 4 zweiter Absatz letzter Satz des Hinweisbeschlusses allerdings, der gerichtlich bestellte Sachverständige habe sich nicht abschließend festgelegt, welcher Schaden unfallbedingt gewesen sei; dies widerspricht den Feststellungen auf Seite 3 letzter Absatz zweiter Satz und Seite 4 zweiter Absatz erster Satz des Hinweisbeschlusses, wonach der Sachverständige einen geringen Teil der Schäden dem Unfallmechanismus habe zuordnen können. Soweit sich der Sachverständige nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht abschließend festgelegt hat, hätte es den Sachverständigen hierzu ergänzend befragen müssen. Da der Sachverständige sich nicht zu den bei einer Reparatur von Teilen des Aufbaus des Lkws anfallenden Reparaturkosten geäußert hat, hätte das Berufungsgericht den Sachverständigen auch hierzu ergänzend befragen bzw. ihn mit der Ergänzung seines Gutachtens beauftragen müssen.
13Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts liegt insoweit kein unzulässiger Ausforschungsbeweis vor. Dem Kläger kann nicht verwehrt werden, durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen im Prozess aufklären zu lassen, in welcher geringeren als von ihm ursprünglich geltend gemachten Höhe Reparaturkosten anfallen. Er ist nicht gehalten, wie das Berufungsgericht aber meint, zunächst weiteren Vortrag - gegebenenfalls nach Einholung eines zusätzlichen außergerichtlichen Gutachtens - zur Schadenshöhe zu halten. Das Berufungsgericht hat verkannt, dass § 287 ZPO dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Darlegung erleichtert (Senatsbeschluss vom - VI ZR 377/18, NJW 2020, 393 Rn. 8; , NJW 1995, 3248, 3250, juris Rn. 23; vom - X ZR 65/92, NJW 1994, 663, 664, juris Rn. 23; jeweils mwN).
14d) Die Gehörsverstöße sind auch entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer dem Kläger günstigen Entscheidung gelangt wäre, wenn es zu den unter b) und c) dargelegten Umständen den gerichtlichen Sachverständigen ergänzend befragt bzw. weiteren Beweis erhoben hätte.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:060623BVIZR197.21.0
Fundstelle(n):
NJW-RR 2023 S. 1038 Nr. 15
XAAAJ-44561