BGH Beschluss v. - 4 StR 37/23

Gesetze: § 261 StPO

Instanzenzug: LG Paderborn Az: 05 KLs 10/22

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freisprechung im Übrigen – wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

21. Nach den Feststellungen fragte der Angeklagte die im Tatzeitraum sechs oder sieben Jahre alte Nebenklägerin C.    B.     sexuell motiviert, ob er ihren Po lecken dürfe. Die Nebenklägerin erklärte sich damit einverstanden, woraufhin der Angeklagte ihr Hose und Unterhose herunterzog, sie bäuchlings auf ein Bett legte und an ihrem Gesäß leckte (Fall II.1 der Urteilsgründe).

3Bei insgesamt fünf Gelegenheiten führte der Angeklagte eine Hand unter Leggins und Unterhose der im Tatzeitraum zwischen acht und zwölf Jahre alten Nebenklägerin A.      B.    . Er berührte in sexuell motivierter Absicht die Vulva des Mädchens, indem er die Finger auf die äußeren Schamlippen legte und dort eine Weile liegen ließ (Fälle II.2 bis II.5 der Urteilsgründe). In einem Fall streichelte er ihre äußeren Schamlippen und führte seine Finger zumindest zwischen die äußeren Schamlippen des Mädchens, das dabei Schmerzen verspürte (Fall II.6 der Urteilsgründe).

42. Hinsichtlich zweier Tatvorwürfe des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern zum Nachteil der dritten Nebenklägerin S.     B.     durch Streicheln im Scheidenbereich einmal oberhalb der Unterwäsche und einmal mit Einführen eines Fingers in die unbekleidete Scheide hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen mit der Begründung freigesprochen, dass die Nebenklägerin S.    B.     bei ihrer Schilderung zum Kerngeschehen der Tatvorwürfe in der Hauptverhandlung gravierend von ihren Angaben bei der Polizei abgewichen sei.

II.

51. Die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand, weil die Feststellungen auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung beruhen.

6a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Rn. 9 mwN). In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 4; Beschluss vom – 2 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14). Der Entstehungsgeschichte einer Aussage kommt gerade bei der Bewertung kindlicher Zeugen in Missbrauchsfällen besondere Bedeutung zu (vgl. , NStZ-RR 2014, 219 Rn. 6; Beschluss vom – 3 StR 558/97, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3).

7b) Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer die Besonderheiten der Aussageentstehung behandelt hat, schöpfen die sich daraus ergebenden Probleme nicht aus und sind deshalb lückenhaft.

8aa) Der Angeklagte bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Die Strafkammer hat die Verurteilung im Fall II.1 der Urteilsgründe auf die Angaben der Nebenklägerin C.      B.     , in den Fällen II.2 bis II.6 der Urteilsgründe auf die der Nebenklägerin A.      B.     gestützt.

9Zur Erstoffenbarung der Nebenklägerin C.     B.     kam es dadurch, dass die Nebenklägerin A.       B.     ihr gegenüber der Wahrheit zuwider vorgab, der Angeklagte schaue sie (die Nebenklägerin C.     B.    ) immer „anzüglich“ bzw. „komisch“ an. Daraufhin äußerte die Nebenklägerin C.    B.     spontan ohne Nennung weiterer Einzelheiten, dass der Angeklagte sie schon einmal gegen ihren Willen angefasst habe. Der Vater der Nebenklägerinnen berief, nachdem sich ihm die Nebenklägerin A.      B.     anvertraut hatte, ein Treffen mit den drei Nebenklägerinnen und der Mutter von A.       B.     ein, bei dem auch die Nebenklägerinnen S.    und C.     B.     erklärten, jeweils Opfer von sexuellen Übergriffen durch den Angeklagten geworden zu sein.

10Das Landgericht hat diesen Ablauf zwar in den Blick genommen; bei der Würdigung der Aussage der Nebenklägerin C.      B.     hat es aber keine Anhaltspunkte für auto- oder fremdsuggestive Einflüsse erkennen können und zur Begründung angeführt, dass die Nebenklägerin A.     B.     ihre eigenen Erlebnisse bei dem Gespräch mit ihrer Halbschwester nicht offengelegt habe und dass es sich bei dem von C.     B.     geschilderten Vorgang um einen gänzlich anderen Übergriff im Vergleich zu den von den beiden anderen Nebenklägerinnen berichteten Übergriffen handele.

11bb) Diese Erwägungen schöpfen die sich aus den Besonderheiten bei der Aussageentstehung ergebenden Probleme nicht aus.

12Denn das Landgericht hat nicht hinreichend in den Blick genommen, dass die Erstoffenbarung der Nebenklägerin C.     B.     durch eine unwahre Behauptung der Nebenklägerin A.      B.     über ein vermeintliches, einem sexuellen Interesse des Angeklagten entsprechendes Verhalten hervorgerufen wurde. Das suggestive Potential dieses „Tricks“, mit dem die Äußerung der Nebenklägerin C.     B.     als solche überhaupt veranlasst wurde, hätte zusätzlich zum Inhalt ihrer Äußerung der Erörterung bedurft.

13Auch hätte sich die Strafkammer im Hinblick auf das gemeinsame Treffen der drei Nebenklägerinnen, das auf Initiative des Vaters zustande kam, mit der Frage eines möglichen suggestiven Einflusses dieses Gesprächs über (behauptete) Sexualdelikte durch den Angeklagten auf die jeweiligen Angaben der Nebenklägerinnen C.     und A.      B.     auseinandersetzen müssen. Dies gilt umso mehr, als sich das Landgericht keine Überzeugung hinsichtlich der von der Nebenklägerin S.     B.    erhobenen Tatvorwürfe gegen den Angeklagten bilden konnte.

14Schließlich hat das Landgericht nicht erkennbar erwogen, ob den Vorwürfen gegen den Angeklagten ein Komplott (vgl. Rn. 11) von zwei oder allen drei Nebenklägerinnen zugrunde liegen könnte. Anlass zur Erörterung hätte wegen des gemeinsamen Gesprächs aller Nebenklägerinnen über die Tatvorwürfe gegen den Angeklagten bestanden, wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass sich die Strafkammer keine Überzeugung hinsichtlich der von der Nebenklägerin S.     B.     geschilderten Taten bilden konnte. Die Komplott-Hypothese wird auch nicht dadurch widerlegt, dass das Landgericht an anderer Stelle des Urteils anführt, dass für keine der Nebenklägerinnen ein Falschbelastungsmotiv erkennbar sei.

15c) Die Beweiswürdigung in den Fällen II.2 bis II.6 der Urteilsgründe zum Nachteil der Nebenklägerin A.     B.     ist zudem lückenhaft, weil das Landgericht die Gründe für eine Teileinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO nicht erörtert hat.

16Das Erfordernis, wonach in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation die Urteilsgründe erkennen lassen müssen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, gilt insbesondere dann, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder wenn der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. Rn. 8, 11; Urteil vom – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153 Rn. 15, 20).

17Diesen Anforderungen wird das Urteil vor dem Hintergrund, dass das Landgericht das Verfahren wegen zehn weiterer Taten gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hat, nicht gerecht. Der Grund für diese Teileinstellung wird im Urteil nicht mitgeteilt. Dem Urteil ist an anderer Stelle lediglich zu entnehmen, dass die Nebenklägerin A.    B.     im Hinblick auf die Anzahl der Taten ihre Angaben vor der Strafkammer im Vergleich zu denen in der polizeilichen Vernehmung deutlich nach unten korrigiert habe, womit sie nach der Bewertung der Strafkammer bemüht gewesen sei, nur noch Vorfälle zu benennen, an die sie sich noch konkret zu erinnern vermochte. Gleichwohl könnten auch andere Gründe für die Einstellung eine Rolle gespielt haben, denen für die entscheidende Frage der Glaubwürdigkeit der einzigen Belastungszeugin Beweisbedeutung zukommen kann.

182. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:

19a) Sofern bei der Aussageanalyse aufgetretene Inkonstanzen in Bezug auf ein wenig vergessensanfälliges Erleben durch das sog. Inkadenzphänomen erklärt werden sollen (im angefochtenen Urteil der von der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung auch auf Vorhalt ihrer Angaben bei der Polizei nicht bestätigte Umstand, dass der Angeklagte sie bei einem Vorfall aufgefordert habe, sie selbst solle ihre Beine weiter auseinander machen), ist ein Beleg durch das Tatgericht erforderlich, dass in der Vernehmungssituation tatsächlich ein Gedächtnisverschluss vorgelegen haben könnte (vgl. Rn. 8).

20b) Die Strafzumessung im angefochtenen Urteil ist nicht bedenkenfrei. Die strafschärfende Erwägung, die Taten zum Nachteil der Nebenklägerinnen hätten sich nicht am unteren Rand der möglichen Tatausführung bei sexuellem Missbrauch bewegt, lässt – ungeachtet des dem Tatgericht insoweit eingeräumten Spielraums – besorgen, dass es dem Angeklagten das Fehlen eines Strafmilderungsgrundes angelastet hat. Im Übrigen lässt sich den bisherigen Feststellungen kein Tatbild entnehmen, bei dem die sexuellen Handlungen die Erheblichkeitsschwelle im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB deutlich übersteigen.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:100523B4STR37.23.0

Fundstelle(n):
PAAAJ-44020