Online-Nachricht - Montag, 10.07.2023

DBA Schweiz | Grenzgänger und Nichtrückkehrtage - Auslegung der seit 2019 geltenden Konsultationsvereinbarung (FG)

Ein Nichtrückkehrtag i. S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA Schweiz liegt insbesondere dann vor, wenn die Rückkehr nach Deutschland aus beruflichen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Dabei kommt es auf die Art der Tätigkeit, den Arbeitsbeginn, das Arbeitsende, die Entfernung und die Zeitdauer für eine Fahrt zwischen inländischer Wohnung und Beschäftigungsort an und nicht ausschließlich auf die Entfernung zwischen Wohn- und Beschäftigungsort (; Nichtzulassungsbeschwerde anhängig, BFH-Az. I B 3/23).

Sachverhalt: Der verheiratete Kläger erzielte im Streitjahr 2019 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus einer Anstellung in der Schweiz. Er hatte einen Wohnsitz im Inland und daneben in der Schweiz eine Ein-Zimmer-Wohnung angemietet. Der Arbeitslohn des Klägers wurde in der Schweiz nicht nach der Grenzgänger-Regelung quellenbesteuert. In seiner Einkommensteuererklärung 2019 erklärte der Kläger nach dem Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz (DBA Schweiz) steuerfreie Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Dies entsprach der steuerlichen Behandlung in den Veranlagungszeiträumen 2017 und 2018. Das beklagte Finanzamt (FA) hatte den Kläger 2017 und 2018 nicht als Grenzgänger behandelt, da eine Rückkehr aus beruflichen Gründen aufgrund der Zeitdauer nicht zumutbar gewesen sei. Hierfür bezog sich das FA auf die für diese Jahre geltende Konsultationsvereinbarung mit der Schweiz (KonsVerCHEV). Für das Streitjahr 2019 änderte das FA seine Auffassung, weil sich mit der neuen KonsVerCHEV vom in Bezug auf die Zumutbarkeit der Rückkehr Änderungen ergeben hätten. Es werde nunmehr zwischen der Art des benutzten Transportmittels unterschieden. Bei Benutzung eines Kfz sei die kürzeste Fahrstrecke und bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel die schnellste Verbindung maßgebend. Bei Personen, deren Entfernung zwischen Wohnsitz und Arbeitsstätte weniger als 100 km betrage und die Rückkehr wegen Überschreitens der zeitlichen Grenze nach der bisherigen Vereinbarung nicht zumutbar gewesen sei, könne sich eine Verschiebung des Besteuerungsrechts ergeben. Das sei beim Kläger mit einer kürzesten Strecke von 88 km der Fall.

Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg:

  • Die Einkünfte des Klägers aus seinem Schweizer Dienstverhältnis sind nicht in die inländische Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Sie sind freizustellen und im Wege des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.

  • Der Kläger ist im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Er hat einen inländischen Wohnsitz. Seine Aufenthalte im Inland bei seiner Ehefrau haben nicht nur Besuchscharakter. Der unbeschränkten Steuerpflicht steht nicht entgegen, dass der Kläger auch in der Schweiz ständig über Räume verfügen kann, die nach Art und Einrichtung zum Wohnen geeignet sind und die er auch tatsächlich nutzt.

  • Die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit sind nach Art. 15 Abs. 1 DBA Schweiz in der Schweiz zu besteuern. Der Kläger gilt als im Inland ansässig und ist kein Grenzgänger i.S. des Art. 15a DBA Schweiz. Nach Art. 15a Abs. 1 DBA Schweiz können ungeachtet des Art. 15 DBA Schweiz Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbständiger Arbeit bezieht, in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem dieser ansässig ist. Dies ist im Streitfall die Bundesrepublik Deutschland.

  • Der Kläger ist zwar im Inland ansässig, weil sich hier der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen befindet (Familienwohnsitz). Der Kläger ist jedoch kein Grenzgänger. Grenzgänger ist nach Art. 15a Abs. 2 DBA Schweiz jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die in dem anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt. Kehrt diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, entfällt die Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn die Person bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt.

  • Der Kläger ist an mehr als 60 Tagen aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht von der Schweiz ins Inland zurückgekehrt. Das Tatbestandsmerkmal „aufgrund der Arbeitsausübung“ setzt berufliche Gründe voraus. Der Senat ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Berücksichtigung der klägerischen Darlegungslast davon überzeugt, dass der Kläger an (mindestens) 65 Tagen aufgrund seiner Arbeitsausübung, aus beruflichen Gründen, nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist.

  • Da Art. 15a Abs. 2 DBA Schweiz keinen Ortsbezug aufweist, spielen Erwägungen, ob und inwieweit eine Rückkehr aufgrund der großen Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort zumutbar ist, erst dann eine Rolle, wenn es darum geht, ob eine (schädliche) Nichtrückkehr aufgrund der Arbeitsausübung i. S. des Art. 15a Abs. 2 S. 2 DBA Schweiz vorliegt. In diesem Sinne kann es - entgegen der Auffassung des FA - nicht ausschließlich auf die Entfernung zwischen Wohn- und Beschäftigungsort ankommen. Maßgebend ist, ob die Entfernung aufgrund der Arbeitsausübung eine Bedeutung erlangt. Entscheidend ist die spezifische Tätigkeit und Arbeitssituation. Nach diesen Grundsätzen kommt es auf die Art der Tätigkeit, den Arbeitsbeginn, das Arbeitsende, die Entfernung und die Zeitdauer für eine Fahrt zwischen inländischer Wohnung und Beschäftigungsort an. In diesem Sinne hat der Senat als Nichtrückkehrtage die Tage angesehen, an denen der Kläger nach den vorgelegten Arbeitszeitlisten für die Monate Januar, März, April, Mai, Juni, Juli und Oktober 2019 mindestens 10 Stunden pro Arbeitstag in der Schweiz beschäftigt gewesen ist.

  • Der Würdigung, dass jedenfalls 65 Nichtrückkehrtage vorliegen, steht auch nicht die KonsVerCHEV entgegen. Einerseits ist das Gericht an die nach Art. 15 Abs. 4 DBA Schweiz zulässige Verständigung der Vertragsstaaten nicht gebunden. Bei der KonsVerCHEV handelt es sich um ein zwischenstaatliches Verwaltungsabkommen. Aus Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) ergibt sich indes ein Vorrang des Gesetzes. Andererseits kann die KonsVerCHEV ein aus anderen Umständen abgeleitetes Auslegungsergebnis bestätigen. Die seit dem Streitjahr 2019 geltende KonsVerCHEV differenziert nach dem benutzten Verkehrsmittel. Bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kommt es auf die Zeitdauer, bei der Benutzung eines Fahrzeugs auf die einfache Entfernung an. Wäre der Zeitfaktor auch bei Benutzung eines Fahrzeugs weiterhin bedeutsam, wäre der Kläger im Streitjahr wie in den Vorjahren kein Grenzgänger und infolgedessen nicht im Inland steuerpflichtig. Ein alleiniges Abstellen auf die Entfernung widerspricht dem fehlenden Ortsbezug in Art. 15a DBA Schweiz. Hinzu kommt, dass der Kläger bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kein Grenzgänger aufgrund der Fahrzeit gewesen ist. Das benutzte Verkehrsmittel kann nicht maßgebend für die Frage sein, welchem Staat das Besteuerungsrecht zusteht.

  • Aus verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Gründen sind die in der KonsVerCHEV vereinbarten Kriterien für die Zumutbarkeit dahin auszulegen, dass auch eine einfache Strecke von mehr als 100 km oder der Zeitfaktor zugrunde gelegt werden kann. Die verkehrsgünstigste Route ist auch tatsächlich vom Kläger benutzt worden. Der Grundsatz, nach dem gesetzliche Typisierungen nur zulässig sind, wenn sie widerlegbar sind, ist erst Recht auf Verwaltungsabkommen anzuwenden. Könnten Typisierungen widerlegt werden, ist auch bei einer möglichen Route von weniger als 100 km zwischen Wohn- und Tätigkeitsort eine Einzelfallentscheidung erforderlich. In diesem Sinne sind die Begriffe „namentlich“ und „insbesondere“ der KonsVerCHEV dahingehend auszulegen, dass die Typisierung im Einzelfall widerlegbar ist. In diesem Sinne ist die Auslegung des Gerichts mit der KonsVerCHEV vereinbar, die eine Einzelfallentscheidung ihrem Wortlaut nach zulässt.

Quelle: FG Baden-Württemberg, Newsletter 1/2023 (JT)

Fundstelle(n):
BAAAJ-43634