EuGH Urteil v. - C-418/22

Instanzenzug:

Gründe

Zu den Vorlagefragen

25Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 62 Nr. 2 sowie die Art. 63, 167, 206, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

26Insoweit geht aus den Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (Urteil vom , Scialdone, C-574/15, EU:C:2018:295, Rn. 26).

27In Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen, die bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen anwendbar sind, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, sind die Mitgliedstaaten befugt, die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnisse das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C-188/09, EU:C:2010:454, Rn. 29, und vom , Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 62).

28Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Wahl der Sanktionen den Effektivitätsgrundsatz zu beachten haben, der dazu verpflichtet, wirksame und abschreckende Sanktionen zur Bekämpfung von Verstößen gegen harmonisierte Regelungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer einzuführen und die finanziellen Interessen der Union zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Scialdone, C-574/15, EU:C:2018:295, Rn. 28 und 33).

29Das vorlegende Gericht bezieht sich in seiner ersten Frage auf Art. 273 der Richtlinie 2006/112, zudem aber auch auf mehrere weitere Bestimmungen dieser Richtlinie. Diesen kommt allerdings für die Beantwortung der Vorlagefragen, die sich auf die Kriterien beziehen, anhand deren bestimmt werden kann, ob eine Sanktion im Bereich der Mehrwertsteuer die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität wahrt, keine Relevanz zu. Daher ist die Frage in ihrer umformulierten Fassung nur insoweit zu beantworten, als sie sich auf den nach Maßgabe der angeführten Grundsätze ausgelegten Art. 273 der Richtlinie 2006/112 bezieht.

30Was zum einen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, dürfen die vom nationalen Recht in Anwendung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Sanktionen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31Die Beurteilung, ob der Betrag der gegen CEZAM verhängten Geldbußen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, obliegt zwar dem vorlegenden Gericht. Es ist allerdings angebracht, ihm einige Anhaltspunkte an die Hand zu geben, anhand deren es diese Beurteilung durchführen kann.

32Zu der Art und der Schwere der Verstöße, die mit den in Rede stehenden Geldbußen geahndet werden sollen, lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass die CEZAM vorgeworfenen Verstöße nicht auf einem Irrtum hinsichtlich der Anwendung des Mehrwertsteuermechanismus beruhen. Die Gesellschaft hat nämlich für einen längeren Zeitraum, obwohl die belgischen Steuerbehörden mehrfach tätig geworden sind, die geschuldete Mehrwertsteuer weder erklärt noch abgeführt.

33Ob der Steuerpflichtige die von den zuständigen Behörden festgestellten Zahlungsmängel nach einer Steuerprüfung freiwillig behoben hat oder nicht, kann überdies für die Beurteilung dessen von Belang sein, ob eine Sanktion im Hinblick auf das Ziel verhältnismäßig ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sich allerdings für den vorliegenden Fall keine freiwillige Behebung der Unregelmäßigkeiten entnehmen.

34Zu den Modalitäten für die Festsetzung der anzuwendenden Sanktionen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass das belgische Recht ein abgestuftes System von Geldbußen vorsieht. Denn nach Art. 70 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs wird bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Entrichtung der Steuer eine Geldbuße verhängt, die das Doppelte der Mehrwertsteuer beträgt, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre. Soweit keine Absicht der Steuerhinterziehung vorliegt, sieht der Königliche Erlass Nr. 41 allerdings vor, dass sich der Betrag der Geldbuße je nachdem, ob der Betrag der für einen geprüften Jahreszeitraum geschuldeten Steuern 1 250,00 Euro übersteigt oder nicht, auf 20 % bzw. 10 % der Mehrwertsteuer verringert, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

35In jedem Fall lässt sich vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen nicht feststellen, dass die Verhängung von Geldbußen in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre, in Anbetracht der Art und der Schwere der CEZAM vorgeworfenen Verstöße und angesichts dessen, dass Sanktionen in Mehrwertsteuersachen wirksam und abschreckend sein müssen, über das hinausginge, was zur Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und zur Vermeidung von Steuerhinterziehungen erforderlich ist.

36Was zum anderen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität betrifft, so verlangt dieser, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Verfügt die Steuerbehörde über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass die materiellen Anforderungen erfüllt sind, so darf sie daher keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts vereiteln können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

37Im vorliegenden Fall lassen sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die gegen CEZAM verhängten Geldbußen oder die für die Festsetzung von deren Höhe herangezogenen belgischen Rechtsvorschriften, d. h. Art. 70 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in Verbindung mit dem Königlichen Erlass Nr. 41 geeignet wären, das Vorsteuerabzugsrecht in Frage zu stellen. Insbesondere scheinen diese Bestimmungen den Steuerpflichtigen nicht daran zu hindern, sein Recht auf Vorsteuerabzug geltend zu machen. Hierzu ergibt sich aus den Erklärungen der belgischen Regierung, dass die belgischen Steuerbehörden bei der Festsetzung der Steuerschuld von CEZAM den Abzug der Vorsteuer von Amts wegen vorgenommen haben.

38Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, dass das Ausgangsverfahren nicht mit demjenigen vergleichbar ist, in dem das Urteil vom , Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 60 bis 64), ergangen ist, auf das sich CEZAM beim vorlegenden Gericht berufen hat. In der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache stand nämlich eine nationale Verwaltungspraxis in Rede, nach der die Nichtbeachtung bestimmter, zu Kontrollzwecken dienender Formerfordernisse, wie die in Art. 214 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Pflicht des Steuerpflichtigen, sich als mehrwertsteuerpflichtig registrieren zu lassen, oder die in Art. 213 dieser Richtlinie vorgesehene Pflicht, Aufnahme, Wechsel und Beendigung seiner Tätigkeit anzuzeigen, nicht etwa mit der Verhängung einer der Schwere des Verstoßes angemessenen Geldbuße geahndet wurde, sondern durch die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts, was geeignet war, die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage zu stellen.

39Die vorliegende Rechtssache ist auch nicht mit derjenigen vergleichbar, in der das Urteil vom , EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:374), ergangen ist, auf das sich CEZAM vor dem vorlegenden Gericht ebenfalls berufen hat.

40Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 43 und 44 dieses Urteils festgestellt hat, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer der Verhängung einer Geldbuße, die trotz ordnungsgemäßer Zahlung der Mehrwertsteuer auf der Ausgangsstufe und obgleich der Fiskus demnach keinen Verlust an Steuereinnahmen erlitten hat, 100 % der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer beträgt, entgegensteht, da dieser Grundsatz dadurch gewahrt wird, dass die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt wird, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist oder wenn er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Die Verhängung dieser Geldbuße führte mithin dazu, dass der Möglichkeit, die nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 entstandene Steuerschuld zu berichtigen, der Boden entzogen wurde.

41Dergleichen ist vorliegend hingegen nicht der Fall: Denn mit den gegen CEZAM verhängten Geldbußen soll zum einen die vorsätzlich und über einen längeren Zeitraum hin unterlassene Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer auf der Ausgangsstufe geahndet werden, wobei diese Unterlassung mithin das Steueraufkommen für den Fiskus gefährdet hat, und zum anderen ergibt sich, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, weder aus den in Rede stehenden nationalen Bestimmungen noch aus anderen Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass diese Geldbußen – deren Betrag nicht über 20 % der Mehrwertsteuer hinausgeht, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre – die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugsrechts in Frage stellen würden.

42Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 273 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren verhängten Geldbuße obliegenden Prüfungen – nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

Kosten

43Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität

sind dahin auszulegen, dass

sie – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren verhängten Geldbuße obliegenden Prüfungen – nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

Fundstelle(n):
PAAAJ-43236