BSG Beschluss v. - B 7 AS 112/22 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Übergehen eines Antrags auf Gewährung einer Reiseentschädigung zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen Beteiligten - Zurückverweisung

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 191 SGG

Instanzenzug: SG Schwerin Az: S 11 AS 947/14 Urteilvorgehend Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern Az: L 10 AS 19/17 Urteil

Gründe

1I. Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts vom . Die Klage ist vor dem SG erfolglos geblieben (Urteil vom ). Im Berufungsverfahren war der Kläger anwaltlich nicht vertreten. Nachdem er zum Termin zur mündlichen Verhandlung am geladen worden ist, hat er mit einem Schreiben vom unter Hinweis auf den ) einen "Antrag auf die Bereitstellung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung als Mittelloser" gestellt. Dem Schreiben waren als "Beweis für [die] Mittellosigkeit" eine ausgefüllte und unterschriebene Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe sowie ein aktueller Bewilligungsbescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beigefügt.

2Das LSG hat in der Besetzung der Berufsrichter des Senats den Antrag auf Gewährung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abgelehnt (Beschluss vom ). Ein Anspruch auf einen Vorschuss für eine Entschädigung nach § 191 SGG bestehe nicht, da das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden sei. Im Übrigen scheide eine Gewährung von Reisekosten aus. Das Berufungsverfahren habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Kläger habe seine Bedürftigkeit nicht nachgewiesen. Seine Angaben seien widersprüchlich. Der Kläger habe in der Erklärung angegeben, über kein Girokonto zu verfügen. Dagegen folge aus dem beigefügten SGB II-Bescheid, dass die Leistungen auf ein Bankkonto überwiesen würden. Der Beschluss enthielt den Hinweis, er sei nach § 177 SGG unanfechtbar.

3Der Kläger war im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anwesend.

4Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom ). Hiergegen wendet er sich mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, mit der er ua einen Verfahrensfehler rügt.

5II. Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch ihn und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung seines Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.

6Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 SGG).

7Das beruht auf einem von dem Kläger hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, weil das Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergangen ist.

8Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Stellt ein mittelloser Beteiligter einen Antrag auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, der vom Gericht übergangen wird, kann hierin nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Versagung rechtlichen Gehörs liegen, weil in solchen Fällen die Gewährung einer Reiseentschädigung entsprechend der jeweiligen landesrechtlichen Regelung zur (bundeseinheitlichen) "Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen" in Betracht kommt (VwV Reiseentschädigung, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom , BAnz AT B1; hier anwendbar idF der VwV Reiseentschädigung des Justizministeriums Mecklenburg-Vorpommern vom , AmtsBl M-V 2006, 447; zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom , AmtsBl M-V 2014, 66; vgl hierzu nur - RdNr 11; - RdNr 6; - RdNr 8 f; - RdNr 6 ff; Bockholdt, NZS 2021, 281, 284 f; Schweitzer, SGb 2022, 723 ff).

9Die VwV Reiseentschädigung mit den dort geregelten Voraussetzungen für eine Entschädigung können die Gerichte im Rahmen ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit zwar nicht binden. Die Gerichte haben aber im Rahmen der sie treffenden prozessualen Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs zu beachten, dass entsprechende Ansprüche auf Reiseentschädigung für Personen bestehen können, die nicht in der Lage sind, die Kosten für die Reise zum Ort der mündlichen Verhandlung aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Sie sind deshalb verpflichtet, hierüber eine Entscheidung herbeizuführen (zu letzterem - RdNr 11; vgl auch - RdNr 9), indem sie entweder selbst über solche Anträge entscheiden und dabei unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung die VwV Reiseentschädigung zu berücksichtigen haben (vgl nur Schweitzer, SGb 2022, 723, 725) oder solche Anträge jedenfalls an die Gerichtsverwaltung weiterleiten, damit von dort über sie entschieden werden kann (vgl Bockholdt NZS 2021, 281, 285; Entscheidungszuständigkeit zuletzt offengelassen von - RdNr 9).

10Im vorliegenden Fall lag ein solches Übergehen des klägerischen Antrags vor. Der mit dem es den Antrag auf Gewährung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abgelehnt hat, enthält keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Gewährung von Reiseentschädigung nach der entsprechenden Verwaltungsvorschrift. Geprüft wird zunächst § 191 SGG. "Im Übrigen" hat das LSG die Gewährung von Reisekosten - ohne Bezugnahme auf eine konkrete Rechtsgrundlage - mit der Begründung abgelehnt, das Berufungsverfahren des Klägers weise keine hinreichende Erfolgsaussicht auf. Eine solche - der PKH entsprechende - Voraussetzung lässt sich der VwV Reiseentschädigung gerade nicht entnehmen (vgl zu den verschiedenen Anspruchsgrundlagen für eine Reiseentschädigung Bockholdt, NZS 2021, 281 ff sowie zuletzt - RdNr 4).

11Der Kläger hat seinerseits alles getan, um sich Gehör zu verschaffen. Speziell im Zusammenhang mit Gehörsverletzungen aufgrund des Übergehens oder der Ablehnung von Anträgen auf Reiseentschädigungen verlangt das BSG insoweit von den Betroffenen, ihre Mittellosigkeit substantiiert darzulegen und auf Verlangen des Gerichts nachzuweisen (vgl hierzu nur - RdNr 8). Teilweise verlangt es auch von ihnen, gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Reisekostenvorschusses weiter vorzugehen ( - RdNr 9; - RdNr 11) sowie das Gericht - ggf im Wege einer Gegenvorstellung - noch einmal ausdrücklich auf mögliche Ansprüche nach der entsprechenden VwV Reiseentschädigung hinzuweisen ( - RdNr 6).

12Der Kläger hat keine Obliegenheit verletzt. Er hat seine Mittellosigkeit durch Vorlage eines SGB II-Bescheids und eines PKH-Formulars substantiiert dargelegt. Nachfragen - etwa im Hinblick auf das vom Kläger für die unbare Auszahlung des Alg II verwendete Konto, das nach seinen Angaben im PKH-Verfahren vor dem BSG einem Dritten gehört - hat das LSG nicht gestellt. Anlass, gegen den Beschluss des LSG weiter vorzugehen, bestand nicht. Insbesondere war der Kläger nicht verpflichtet, das LSG noch einmal auf die Möglichkeit der Gewährung einer Reiseentschädigung nach der VwV Reiseentschädigung hinzuweisen, nachdem er in seinem Antrag sogar schon auf den ) Bezug genommen hatte.

13Die Entscheidung des LSG kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "Beruhen-Können" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Kläger behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur - RdNr 8 mwN). Dies ist hier vor dem Hintergrund des Umstands, dass das LSG maßgeblich abgestellt hat auf eine fehlende Darlegung des berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts durch den Kläger, der Fall.

14Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:250423BB7AS11222B0

Fundstelle(n):
HAAAJ-42809