BGH Urteil v. - 4 StR 479/22

Instanzenzug: LG Frankenthal Az: 1 Ks 5120 Js 27895/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Ferner hat es angeordnet, dass der Angeklagte für erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen ist. Gegen den Freispruch wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, mit der sie insbesondere die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten im Sinne des Anklagevorwurfs beanstandet. Die Staatsanwaltschaft wendet sich zudem mit der sofortigen Beschwerde gegen die Entschädigungsentscheidung des Landgerichts. Die vom Generalbundesanwalt teilweise vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg; die sofortige Beschwerde ist damit gegenstandslos.

I.

21. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage vom legt dem Angeklagten zur Last, am in einer Gaststätte in L.                   versucht zu haben, den Geschädigten zu töten. Dieser habe eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Beteiligten inklusive des Angeklagten schlichten wollen. Aus Verärgerung hierüber habe sich der Angeklagte auf den Geschädigten gestürzt und ihm in Tötungsabsicht mit einem Messer mit einer Klingenlänge von mindestens neun Zentimetern drei Stiche versetzt. Eine Stichverletzung des Geschädigten an der rechten Flanke sei neun Zentimeter tief gewesen, habe die zwölfte Rippe sowie drei Sehnen durchtrennt und Organe nur knapp verfehlt. Eine weitere Stichverletzung im linken Achselbereich habe sechs Zentimeter tief in den Thorax des Geschädigten gereicht, dem der Angeklagte zudem einen Durchstich am rechten Beckenkamm versetzt habe. Als der Geschädigte stark blutend zurückgewichen sei und sich die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes dem Geschehen genähert hätten, sei der Angeklagte geflüchtet.

32. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es am Tattag in dem Gasthaus zu einer auch mit körperlicher Gewalt geführten Auseinandersetzung zwischen mehreren Beteiligten, bei der sich zwei Personengruppen einander gegenübersahen. Der Zeuge     C.    , der der Gruppe um den Angeklagten angehörte, schlug hierbei dem Onkel des späteren Geschädigten mit der Faust in das Gesicht. Der zuvor nicht an der Auseinandersetzung beteiligte Geschädigte wollte nun seinem Onkel beistehen, ging auf die Gruppe um den Angeklagten zu und sprach den Zeugen     C.     an, was dies – der ausgeführte Schlag – solle. Als sich der Zeuge dem Geschädigten zuwandte, kamen die weiteren Mitglieder aus der Gruppe um den Angeklagten hinzu. Der Geschädigte wurde von hinten weggezogen und zu Boden gebracht. Wie viele Personen hieran beteiligt waren, konnte die Strafkammer nicht sicher feststellen. Wahrscheinlich handelte es sich aber um mindestens zwei Personen. Als sich der Geschädigte umdrehte und aufstand, fing er eine kurze Rangelei mit dem Angeklagten an. Dieser wurde – wie auch der Geschädigte – schließlich von einer anderen Person weggezogen. Im Rahmen dieses Geschehens trug der Geschädigte die in der Anklage benannten Stichverletzungen davon.

4Das Landgericht vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte dem Geschädigten diese Stichverletzungen beibrachte. Es hat den Angeklagten daher aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

II.

5Der Freispruch hat keinen Bestand. Die Strafkammer hat den Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft.

61. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist – unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. hierzu ‒ 1 StR 416/17 Rn. 17; Urteil vom ‒ 3 StR 172/17 Rn. 12; Urteil vom ‒ 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212 Rn. 6) – entgegen den Ausführungen der Revision allerdings rechtsfehlerfrei, soweit es sich nicht davon hat überzeugen können, dass der Angeklagte dem Geschädigten die Messerstiche versetzte.

7a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist weder lückenhaft oder widersprüchlich noch verstößt sie gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen. Auch hat das Landgericht keine überspannten Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt. Es hat eine Beteiligung anderer Personen als des Angeklagten an dem „Gerangel“ mit dem Geschädigten nicht ausschließen können. Seine Annahme, dass dem Geschädigten die Messerstiche zudem – von ihm ebenfalls unbemerkt – bereits beim „Zurückziehen und zu Boden bringen“ beigebracht worden sein könnten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die verschiedenen Einstichstellen und Stichrichtungen hat das Landgericht bei seiner Würdigung bedacht. Die fehlende optische Wahrnehmung eines anderen Täters als des Angeklagten durch den Geschädigten und dessen zunächst erhaltene Handlungsfähigkeit waren nicht gesondert erörterungsbedürftig. Beides steht den von der Strafkammer in den Blick genommenen Möglichkeiten nicht entgegen, dass die Messerstiche dem Geschädigten allein durch einen anderen Täter – ggf. bereits vor der Rangelei im Stehen mit dem Angeklagten – versetzt worden sein könnten.

8Hierbei handelt es sich auch nicht nur um denktheoretische Möglichkeiten, die das Landgericht rechtsfehlerhaft zugunsten des Angeklagten unterstellt hätte. An der Auseinandersetzung waren weitere Personen beteiligt, nach den vom Landgericht ohne Rechtsfehler als glaubhaft bewerteten Aussagen insbesondere der Zeuginnen T.    und K.      auch bei dem den Geschädigten betreffenden Geschehen. Innere Widersprüche weist die Beweiswürdigung dabei nicht auf, denn die Strafkammer ist nicht zugleich von einer durchgehenden Konfrontation der weiteren Personen aus der Gruppe um den Angeklagten mit den sonstigen Beteiligten ausgegangen.

9b) Die Strafkammer ist zudem rechtsfehlerfrei dem Gebot nachgekommen, alle wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Tatsachen und Beweisergebnisse, die Gegenstand der Hauptverhandlung waren, in einer Gesamtschau zu würdigen (vgl. Rn. 9 mwN).

102. Das Landgericht hat es jedoch rechtsfehlerhaft unterlassen, eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen weiterer in Betracht kommender Delikte zu prüfen. Damit hat es gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht verstoßen.

11a) Die sich aus § 264 StPO ergebende Kognitionspflicht erfordert, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Zur angeklagten Tat im prozessualen Sinne gehört das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Der Unrechtsgehalt dieser Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. ‒ 4 StR 429/22 Rn. 16; Urteil vom – 3 StR 295/22 Rn. 12 mwN).

12b) Ein solcher Mangel liegt hier vor.

13aa) Der Gegenstand der Anklage vom beschränkt sich nicht darauf, dass der Angeklagte dem Geschädigten in dem Gasthaus am drei Messerstiche versetzt habe. Der Lebensvorgang, aus dem die vom Tatgericht zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, umfasst allgemein auch alle damit zusammenhängenden und darauf bezogenen Vorkommnisse (vgl. Rn. 28 mwN). Im vorliegenden Fall knüpft der konkrete Anklagesatz grundlegend an die körperliche Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Beteiligten in dem Gasthaus an. Der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft umfasst nach den vorstehenden Maßgaben daher jedes strafrechtlich relevante Verhalten des Angeklagten gegenüber dem Geschädigten, das im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung erfolgt ist.

14bb) Vor diesem Hintergrund war die Strafkammer gehalten, eine über die Messerstiche hinausreichende mögliche Strafbarkeit des Angeklagten wegen einer gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu erörtern. Dies hat sie rechtsfehlerhaft unterlassen.

15(1) Die weitere Prüfung einer zumindest versuchten Körperverletzung im Sinne von § 223 StGB wird zum einen durch die von der Strafkammer als glaubhaft angesehene Aussage der Zeugin T.      nahegelegt, wonach der Angeklagte „auf“ den Geschädigten „gesprungen“ sei. Zum anderen kann die anschließende Rangelei des Angeklagten mit dem Geschädigten (ebenfalls) auf die Beibringung einer Körperverletzung angelegt gewesen sein.

16Schon allein eine (Versuchs-)Strafbarkeit des Angeklagten nach § 223 StGB hätte trotz der zum Urteilszeitpunkt fehlenden Voraussetzungen des § 230 Abs. 1 Satz 1 StGB – nunmehr hat der Generalbundesanwalt das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht – einen Freispruch des Angeklagten gehindert (vgl. (S), BGHSt 32, 1, 10; BayObLGSt 1991, 39; Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 260 Rn. 44). Denn insoweit geht es um ein behebbares Verfahrenshindernis, das für sich nur eine Verfahrenseinstellung nach § 260 Abs. 3 StPO rechtfertigen kann.

17(2) Dessen ungeachtet hätte die Strafkammer auch den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, dem eine konkludente Übereinkunft der Tatbeteiligten aufgrund arbeitsteiliger Tatausführung zugrunde liegen kann (vgl. Rn. 22; Urteil vom – 5 StR 533/22 Rn. 7; jew. mwN), prüfen müssen. Denn das Landgericht hat selbst ausgeführt, dass sich aus den Zeugenaussagen Hinweise ergeben, wonach mehrere Personen gemeinsam gegen den Geschädigten agiert hätten.

18cc) Ein weiterer Erörterungsmangel liegt darin, dass die Strafkammer eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen (versuchter) Nötigung gemäß § 240 StGB nicht in den Blick genommen hat. Nach den Feststellungen wollte der Geschädigte seinem Onkel beistehen und wandte sich hierzu an einen der Gruppe um den Angeklagten zugehörigen Beteiligten, nachdem dieser dem Onkel des Geschädigten einen Faustschlag versetzt hatte. Diese festgestellten Umstände boten der Strafkammer Anlass zu der Erörterung, ob der Angeklagte ein Eingreifen des Geschädigten zugunsten eines Kontrahenten gewaltsam zu verhindern bzw. zu unterbinden suchte (vgl. auch Rn. 12 ff.). Auch eine solche Prüfung hat die Strafkammer rechtsfehlerhaft nicht vorgenommen.

193. Die getroffenen Feststellungen sind schon deswegen aufzuheben, weil sie den Angeklagten belasten und er sie mangels Beschwer durch den Freispruch nicht hat angreifen können (vgl. Rn. 12; Urteil vom – 6 StR 282/20 Rn. 37 mwN).

20Für den Fall, dass der Angeklagte im zweiten Rechtsgang erneut freigesprochen werden sollte, weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass die sich aus § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO ergebenden Darstellungsanforderungen an ein freisprechendes Urteil (vgl. allgemein Rn. 12 mwN) das Tatgericht ggf. auch verpflichten, die für den Tatvorwurf bedeutsamen persönlichen Verhältnisse des Angeklagten in den Urteilsgründen festzustellen (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 13; Urteil vom – 4 StR 423/16 Rn. 10; Urteil vom – 4 StR 15/14 Rn. 8).

III.

21Mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils ist die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Entscheidung über eine Entschädigung des Angeklagten nach den Vorschriften über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen gegenstandslos geworden (vgl. Rn. 21 mwN; Urteil vom – 1 StR 357/05, BGHSt 50, 347).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:250523U4STR479.22.0

Fundstelle(n):
KAAAJ-42338