Schadensersatzanspruch gegen Insolvenzverwalter wegen Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten
Leitsatz
1. Der Insolvenzverwalter kann nach seiner Wahl die Rücknahme des Widerspruchs gegenüber dem anmeldenden Gläubiger oder aber gegenüber dem Insolvenzgericht erklären.
2. Der Insolvenzverwalter muss nach der Rücknahme eines zuvor durch ihn erhobenen Widerspruchs, jedenfalls bei einem vorläufigen Bestreiten, auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hinwirken.
Gesetze: § 60 InsO, § 178 Abs 1 S 1 InsO
Instanzenzug: LG Zwickau Az: 6 S 32/21vorgehend AG Zwickau Az: 2 C 914/19
Tatbestand
1Der Beklagte war Verwalter in dem am eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der U. GmbH. Am meldete das Finanzamt für den Kläger Steuerforderungen in Höhe von 59.064,59 € zur Tabelle an, die am in Höhe von 9.015,32 € festgestellt und in Höhe von 50.049,27 € durch den Beklagten bestritten wurden, weil die Steuerforderungen nicht bestandskräftig beziehungsweise nicht tituliert seien; die Höhe wäre noch zu klären. Mit Schreiben vom teilte der Beklagte dem Finanzamt mit, nach nochmaliger Durchsicht der vorliegenden Unterlagen könnten die angemeldeten Forderungen bis auf diejenigen aus Körperschaftssteuer und Solidaritätszuschlag für 2007 nunmehr anerkannt werden. Am reduzierte das Finanzamt gegenüber dem Insolvenzgericht die angemeldeten Forderungen auf 50.850,59 €. Von dem Erlass von Feststellungsbescheiden sah es ab. Das Insolvenzgericht berichtigte die Insolvenztabelle am , dass nunmehr die festgestellte Forderung 7.561,26 € betrage und angemeldete Forderungen in Höhe von 43.289,33 € bestritten seien. Nach Bekanntmachung des Schlusstermins am forderte das Finanzamt bei dem Insolvenzgericht eine Abschrift des Schlussberichts und der Schlussrechnung an, die nachfolgend ohne die Tabelle übersandt wurden. Am erhielt das Finanzamt die Tabelle mit Stand . Mit Schreiben vom bat das Finanzamt den Beklagten um eine Korrektur der Tabelle, was er als nicht mehr möglich ablehnte. Der Kläger erhielt auf die bestrittenen Forderungen keine Zuteilung. Am wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.
2Der Kläger nimmt den Beklagten persönlich wegen dessen Tätigkeit als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz nach § 60 InsO in Anspruch. Er macht geltend, das Finanzamt habe keine Feststellungsbescheide erlassen, weil der Beklagte die zuletzt angemeldeten Forderungen mit dem Schreiben vom anerkannt habe. Wären die Forderungen bei der Verteilung berücksichtigt worden, hätte der Kläger 4.177 € erhalten.
3Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg gehabt. Mit der von dem Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungsantrag weiter.
Gründe
4Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
5Das Berufungsgericht hat gemeint, der Beklagte habe insolvenzspezifische Pflichten nicht verletzt. Der Umstand, dass er die Forderungen zunächst vorläufig bestritten habe, stelle keinen Verstoß gegen die ihm obliegende Pflicht zur sachgerechten Prüfung angemeldeter Forderungen nach § 176 InsO dar. Das Finanzamt hätte die Möglichkeit gehabt, die Feststellung der angemeldeten Forderungen gegen den Beklagten im Wege eines Feststellungsbescheides zu betreiben, hiervon aber keinen Gebrauch gemacht. Der Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, dem Insolvenzgericht gegenüber zu erklären, dass er sein Bestreiten aufgegeben habe. Sowohl der Gläubiger als auch der Insolvenzverwalter könnten die Rücknahme des Widerspruchs dem Insolvenzgericht mitteilen. Der Gläubiger könne zudem die Berichtigung der Tabelle beantragen. Schließlich habe der Beklagte keinen von ihm geschaffenen Vertrauenstatbestand verletzt, der einen Schadensersatzanspruch nach § 60 InsO zur Folge gehabt hätte. Das Finanzamt sei selbst noch nicht von einer verbindlichen Erklärung des Beklagten ausgegangen, wie sich den Schreiben vom und vom entnehmen lasse. Auch die Hinweise des Amtsgerichts Chemnitz in dem Auszug aus der Insolvenztabelle begründeten keine Haftung des Beklagten.
II.
6Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten, da dieser nach Rücknahme des erhobenen Widerspruchs gegen die angemeldeten Forderungen des Klägers pflichtwidrig nicht auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hingewirkt hat.
71. Grundlage des Begehrens ist § 60 InsO. Nach dieser Bestimmung ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach der Insolvenzordnung obliegen (vgl. , NZI 2014, 757 Rn. 10 mwN). Die Forderungsprüfung gehört zu den originären Aufgaben des Insolvenzverwalters (vgl. HK-InsO/Depré, 11. Aufl., § 176 Rn. 2). Dieser ist als Amtswalter der Interessen aller Beteiligten zur Prüfung und gegebenenfalls zum Widerspruch nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet (vgl. MünchKomm-InsO/Schumacher, 4. Aufl., § 178 Rn. 18). Sofern sich aufgrund der eingereichten Unterlagen Zweifel an der Berechtigung der Forderung aufdrängen oder aufdrängen müssen, kann der Insolvenzverwalter gehalten sein, die Forderung vorläufig zu bestreiten, um so Zeit für eine weitergehende Prüfung zu erhalten (vgl. LG Stendal, ZIP 2018, 191, 192). Durch ein schuldhaftes Unterlassen des Widerspruchs macht sich der Insolvenzverwalter nach § 60 InsO persönlich haftbar; es handelt sich um eine insolvenztypische Amtspflicht des Verwalters. Umgekehrt kann aber auch das grundlose Bestreiten einer Forderung eine Schadensersatzpflicht gemäß § 60 InsO auslösen (vgl. Jaeger/Gerhardt, InsO, § 176 Rn. 25 mwN).
82. Der Beklagte hat dem Kläger gegenüber im Rahmen der Forderungsprüfung und -feststellung obliegende Pflichten verletzt.
9a) Das vorläufige Bestreiten einer Forderung durch den Insolvenzverwalter stellt keine Pflichtverletzung im Sinne von § 60 InsO dar.
10aa) Die Insolvenzordnung sieht nicht vor, dass der Verwalter im Prüfungstermin (§ 176 InsO) eine angemeldete Forderung lediglich vorläufig bestreitet. Daher ist auch ein solches vorläufiges Bestreiten als ein Bestreiten im Sinne des § 179 Abs. 1 InsO anzusehen (vgl. , NJW-RR 2006, 773 Rn. 8). Auch wenn der Verwalter sein Bestreiten in dem Prüfungstermin nicht wirksam als "vorläufig" bezeichnen kann, macht er durch eine solche Erklärung jedoch deutlich, dass er die Forderung nur deshalb bestreitet, weil er sich zu ihr noch nicht abschließend erklären kann (vgl. BGH, aaO Rn. 10). Dann ist dem Gläubiger zur Beseitigung des durch das "vorläufige" Bestreiten eingetretenen Schwebezustands zuzumuten, sich bei dem Insolvenzverwalter zu vergewissern, ob dieser seinen Widerspruch aufrechterhält (vgl. BGH, aaO).
11bb) Der Beklagte hat die durch das Finanzamt für den Kläger am angemeldeten Steuerforderungen in Höhe von 50.049,27 € bestritten, weil die Steuerforderungen nicht bestandskräftig beziehungsweise nicht tituliert seien und die Höhe noch zu klären wäre. Damit hat er deutlich gemacht, sich noch nicht abschließend zu den angemeldeten Steuerforderungen erklären zu können und eine weitere Prüfung insoweit vorzunehmen.
12cc) Soweit in der Rechtsprechung eine Ersatzpflicht des Konkursverwalters für den durch das zunächst erfolgte Bestreiten entstandenen Schaden angenommen worden ist, wenn der Verwalter im Prüfungstermin eine Forderung ohne Prüfung der Berechtigung bestritten und diese Forderung später anerkannt hat (vgl. LG Osnabrück, ZIP 1984, 91), liegt der vorliegende Fall insoweit anders, als der Kläger keinen Kostenschaden, sondern einen Ausfallschaden geltend macht.
13b) Der Beklagte hat eine ihm obliegende insolvenzspezifische Pflicht im Sinne von § 60 InsO verletzt, indem er weder das Insolvenzgericht über die Rücknahme des Widerspruchs in Kenntnis gesetzt noch das Finanzamt darauf hingewiesen hat, eine Berichtigung der Tabelle zu veranlassen. Denn der Insolvenzverwalter muss nach der Rücknahme eines zuvor durch ihn erhobenen Widerspruchs, jedenfalls bei einem vorläufigen Bestreiten, auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hinwirken.
14aa) Die Frage, wer der richtige Adressat für die Rücknahme des Widerspruchs ist, also ob die Erklärung entweder dem Gläubiger gegenüber oder dem Insolvenzgericht gegenüber oder aber ausschließlich nur dem Insolvenzgericht gegenüber abzugeben ist, wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet.
15(1) Nach einem Teil des Schrifttums kann die Rücknahme des Widerspruchs nur gegenüber dem Insolvenzgericht erklärt werden (vgl. HK-InsO/Depré, 11. Aufl., § 178 Rn. 8; Graf-Schlicker/Graf-Schlicker, InsO, 6. Aufl., § 176 Rn. 21; HmbKomm/InsO-Herchen, 9. Aufl., § 179 Rn. 3; Schmidt/Jungmann, InsO, 20. Aufl., § 178 Rn. 14).
16Zur Begründung wird auf den Beschluss des Amtsgerichts Bremen (NZI 2005, 399) verwiesen (vgl. HK-InsO/Depré, 11. Aufl., § 178 Rn. 8; Schmidt/Jungmann, InsO, 20. Aufl., § 178 Rn. 14). Das Amtsgericht Bremen hat als entscheidend erachtet, dass die Rücknahme des Widerspruchs actus contrarius zu dem im Prüfungstermin selbst erklärten Widerspruch sei. Da die Erklärung des Widerspruchs gegenüber dem Insolvenzgericht zu erfolgen habe, müsse aus Gründen der Rechtssicherheit und der spiegelbildlichen Anwendung der Vorschrift über die Erhebung des Widerspruchs die Rücknahme daher ebenfalls gegenüber dem Insolvenzgericht erfolgen (vgl. AG Bremen, NZI 2005, 399).
17Zudem wird auf Eckardt (Kölner Schrift zur InsO, 3. Aufl., S. 545 ff Rn. 26) Bezug genommen (HmbKomm/InsO-Herchen, 9. Aufl., § 179 Rn. 3), nach dessen Auffassung die Rücknahme des Widerspruchs aus Gründen der Rechtssicherheit schriftsätzlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 496 ZPO) gegenüber dem Insolvenzgericht erklärt werden müsse (vgl. Eckardt, Kölner Schrift zur InsO, aaO).
18Schließlich wird zur Begründung auch das Urteil des Senats vom (IX ZR 79/18, ZIP 2019, 1024 Rn. 20) angeführt (vgl. Graf-Schlicker/Graf-Schlicker, InsO, 6. Aufl., § 176 Rn. 21). Danach führt spätestens der Prüfungstermin zu einer relevanten Zäsur im Feststellungsverfahren, der dadurch Rechnung zu tragen sei, dass die Rücknahme einer geprüften Forderungsanmeldung gegenüber dem Insolvenzgericht zu erklären sei (vgl. , ZIP 2019, 1024 Rn. 20).
19(2) Nach einer anderen Meinung kann die Rücknahme des Widerspruchs entweder dem Gläubiger gegenüber oder dem Insolvenzgericht gegenüber erklärt werden (vgl. Jaeger/Gerhardt, InsO, § 176 Rn. 18, 82; Uhlenbruck/Sinz, InsO, 15. Aufl., § 176 Rn. 33; Pape/Schaltke in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2015, § 176 Rn. 27; MünchKomm-InsO/Riedel, 4. Aufl., § 176 Rn. 33 f; Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer, InsR-Handbuch, 6. Aufl., § 62 Rn. 9; KK-InsO/Thiele, 2017, § 178 Rn. 39; Bähr, InVO 1998, 205, 209).
20Zur Begründung wird auf das Urteil des VIII. Zivilsenats des , WM 1957, 1225, 1226) verwiesen (vgl. Jaeger/Gerhardt, InsO, § 176 Rn. 18; Uhlenbruck/Sinz, InsO, 15. Aufl., § 176 Rn. 33; Gottwald/Haas-Eickmann/Wimmer, InsR-Handbuch, 6. Aufl., § 62 Rn. 9), das zu § 146 KO ergangen ist und keine Aussage zu dem richtigen Adressaten einer Widerrufserklärung trifft (vgl. , WM 1957, 1225, 1226).
21Zudem wird auf das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden (ZIP 1995, 665) Bezug genommen (vgl. Jaeger/Gerhardt, InsO, § 176 Rn. 18; Uhlenbruck/Sinz, InsO, 15. Aufl., § 176 Rn. 33; Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer, InsR-Handbuch, 6. Aufl., § 62 Rn. 9), das zu § 11 GesO ergangen ist und nur den Gläubiger als Adressaten der Erklärung nennt (vgl. OLG Dresden, ZIP 1995, 665).
22(3) Die Frage ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden worden (vgl. , NZI 2013, 396 Rn. 11). Einschlägige obergerichtliche Entscheidungen liegen ebenfalls nicht vor (vgl. OLG Dresden, ZIP 1995, 665, das zur GesO ergangen ist).
23bb) Die Frage ist dahin zu entscheiden, dass der Insolvenzverwalter nach seiner Wahl die Rücknahme des Widerspruchs gegenüber dem anmeldenden Gläubiger oder aber gegenüber dem Insolvenzgericht erklären kann.
24(1) Gemäß § 87 InsO können Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Diese Regelung verweist die Insolvenzgläubiger auf das Anmeldeverfahren nach §§ 174 ff InsO (vgl. , NZI 2022, 856 Rn. 16). Gemäß § 178 Abs. 1 Satz 1 InsO gilt eine Forderung als festgestellt, soweit ein gegen sie erhobener Widerspruch beseitigt ist. Hat der Insolvenzverwalter einer Forderung widersprochen, so bleibt es nach § 179 Abs. 1, § 180 Abs. 1 InsO dem Gläubiger überlassen, die Feststellung gegen den Bestreitenden durch Klageerhebung im ordentlichen Verfahren zu betreiben. Das Insolvenzgericht ist an dem Feststellungsverfahren nicht beteiligt. Ist der Gläubiger im Sinne von § 179 Abs. 1 InsO betreibungsbelastet, kann ihm gegenüber die Rücknahme des Widerspruchs erklärt und auf diese Weise die Einleitung des sonst erforderlich werdenden Feststellungsverfahrens verhindert werden. Der Gläubiger kann nachfolgend eine dahingehende Berichtigung der Tabelle beantragen (vgl. Uhlenbruck/Sinz, InsO, 15. Aufl., § 176 Rn. 33; Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer, InsR-Handbuch, 6. Aufl., § 62 Rn. 9).
25(2) Wird die Erklärung im Prüfungstermin oder später gegenüber dem Insolvenzgericht abgegeben, so hat dieses die Rücknahme von Amts wegen in der Tabelle zu vermerken (vgl. Uhlenbruck/Sinz, InsO, 15. Aufl., § 176 Rn. 33; Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer, InsR-Handbuch, 6. Aufl., § 62 Rn. 9).
26(3) Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ist die eine Verfahrensweise der anderen gegenüber nicht vorzuziehen. Die Erklärung der Rücknahme des Widerspruchs gegenüber dem Gläubiger stellt sicher, dass dieser unmittelbar darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass ein Feststellungsrechtsstreit vor den ordentlichen Gerichten nicht erforderlich ist. Allerdings obliegt es dann dem Gläubiger, die Berichtigung der Tabelle zu beantragen. Wird die Erklärung an das Insolvenzgericht adressiert, ist die Rücknahme von Amts wegen in der Tabelle zu vermerken und daher ein Rechtsverlust des Gläubigers nicht zu befürchten, jedoch mit der Gefahr, dass weitere Kosten durch den Gläubiger ausgelöst werden.
27Dem Gesetz ist mit der Regelung in § 179 Abs. 1 InsO zu entnehmen, dass der Gläubiger die Betreibungslast trägt, also er die Feststellung der bestrittenen Forderung veranlassen muss. Hieraus lässt sich ableiten, dass der Gesetzgeber grundsätzlich dem Gläubiger die Last des Tätigwerdens zur Feststellung seiner eigenen Forderung auferlegt hat.
28cc) Dennoch begründet der Umstand, dass es der Beklagte nach Aufgabe seines vorläufigen Bestreitens unterlassen hat, auf eine Berichtigung der Tabelle hinzuwirken das Insolvenzgericht über die Aufgabe seines vorläufigen Bestreitens in Kenntnis zu setzen, begründet eine Pflichtverletzung im Sinne des § 60 InsO. Denn wenn der Insolvenzverwalter zunächst einen Widerspruch erhoben und diesen später wieder zurückgenommen hat, so ist er jedenfalls bei einem vorläufigen Bestreiten verpflichtet, in einer zu einer Berichtigung der Tabelle führenden Weise einen Antrag des Gläubigers zu unterstützen oder aber selbst die Berichtigung zu beantragen.
29dd) Hat der Insolvenzverwalter zunächst vorsorglich einen Widerspruch erhoben, weil er die angemeldete Forderung noch nicht abschließend geprüft hat und diesen später zurückgenommen, so ist er bei persönlicher Verantwortlichkeit (§ 60 InsO) gehalten, in einer zur Tabellenberichtigung ausreichenden Weise den Antrag des Gläubigers zu unterstützen oder aber selber die Berichtigung zu beantragen (vgl. Jaeger/Gerhardt, InsO, § 183 Rn. 25). Zwar ist eine allgemeine Hinweis- oder Warnpflicht des Insolvenzverwalters bei geschäftserfahrenen Gläubigern nicht anzunehmen (vgl. OLG Hamm, ZIP 1994, 1373, 1376).
30Dem Gläubiger wird mit einem vorläufigen Bestreiten zugleich suggeriert, dass sich der Verwalter nochmals meldet, wozu aber keine Verpflichtung besteht, da auch ein vorläufiges Bestreiten als Bestreiten im Sinne des § 179 Abs. 1 InsO anzusehen ist (vgl. , NJW-RR 2006, 773 Rn. 8). Es entsteht ein Schwebezustand, dessen Beendigung der Gläubiger nur mit einem Kostenrisiko beenden kann (vgl. MünchKomm-InsO/Riedel, 4. Aufl., § 176 Rn. 30). Nimmt der Insolvenzverwalter seinen Widerspruch zurück, so tritt hierdurch nachträglich eine Unrichtigkeit der Tabelle ein, die zu berichtigen ist (vgl. MünchKomm-InsO/Schumacher, aaO). Der Insolvenzverwalter hat in diesem Fall alles zu tun, was erforderlich ist, um die Berichtigung der Tabelle herbeizuführen (vgl. OLG Frankfurt am Main, Rundschau - Sammlung von Entscheidungen in Rechts- und Verwaltungssachen aus dem Bezirke des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, 39 (1905), 156, 157 f zu § 146 KO). Er muss deshalb nach der Rücknahme des zuvor durch ihn erhobenen Widerspruchs auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hinwirken, entweder indem er den Gläubiger auf einen entsprechenden Antrag hinweist oder selbst eine Berichtigung der Insolvenztabelle beantragt.
III.
31Das angefochtene Urteil ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist, ist sie zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Es wird festzustellen haben, ob die weiteren Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs des Klägers gegen den Beklagten nach § 60 InsO vorliegen.
32Soweit dem Kläger durch die Pflichtverletzung des Beklagten ein Schaden entstanden ist, wird zu prüfen sein, ob dem Schadensersatzanspruch ein dem Kläger zurechenbares Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB entgegensteht. Nachdem das Finanzamt jegliche Möglichkeit ungenutzt ließ, einen Rechtsverlust in dem Insolvenzverfahren zu verhindern, muss sich der Kläger in entsprechender Anwendung von § 278 BGB ein Mitverschulden des Finanzamts zurechnen lassen, das die in eigenen Angelegenheiten obliegende Sorgfalt jedenfalls fahrlässig verletzt hat.
33Bei der gebotenen Abwägung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB ist in erster Linie das Maß der Verursachung maßgeblich, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung. Es kommt für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Die unter diesem Gesichtspunkt vorzunehmende Abwägung kann zwar in besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss. Unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung gemäß § 254 BGB ist eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten aber nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen. Ob ein vollständiger Haftungsausschluss gerechtfertigt ist, kann jeweils nur nach einer umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entschieden werden (vgl. , NJW-RR 2009, 239, Rn. 15 mwN).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:270423UIXZR99.22.0
Fundstelle(n):
BB 2023 S. 1473 Nr. 26
DB 2023 S. 1663 Nr. 29
DStR 2023 S. 1895 Nr. 34
DStR 2023 S. 2232 Nr. 40
DStR-Aktuell 2023 S. 10 Nr. 31
NJW 2023 S. 9 Nr. 28
WM 2023 S. 1244 Nr. 25
ZIP 2023 S. 1436 Nr. 27
ZIP 2023 S. 4 Nr. 25
KAAAJ-42137