BGH Beschluss v. - I ZR 127/22

Wettbewerbsrechtliche Unterlassungsklage eines Wettbewerbsvereins: Fehlerhafte Bestimmung des Streitgegenstands von Unterlassungsanträgen gegen eine irreführende Online-Werbung für Lebensmittel mit der Bezeichnung "Essig" durch das Gericht

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 3 UWG, § 3a UWG, § 5 UWG, § 8 Abs 1 UWG, § 8 Abs 3 Nr 3 UWG, § 1 Abs 3 EssigV, Art 78 Abs 2 Anh 7 Teil 2 Nr 17 Buchst b EUV 1308/2013

Instanzenzug: Az: 29 U 431/21vorgehend LG München II Az: 2 HKO 1932/20

Gründe

1I. Der Kläger ist ein Wettbewerbsverein. Die Beklagte betreibt einen Feinkosthandel mit Onlineshop. Der Kläger wendet sich gegen den Vertrieb von Produkten durch die Beklagte gemäß den Anlagen A bis M, die zum Beispiel als "Aprikosen Aperitif Essig" oder "Haselnuss Balsam Essig" bezeichnet sind. Die Zutatenverzeichnisse der Produkte führen Traubenmost an erster Stelle. Als Essigbestandteil verwendet die Beklagte ausschließlich Weinessig. Die Produkte weisen einen Säuregehalt von 5 % auf; sie enthalten zudem Fruchtsaftkonzentrat oder Fruchtpüree sowie Aromen.

2Der Kläger meint, es handle sich bei den Produkten nicht um Essig, weil ihre Zusammensetzung nicht der Legaldefinition von Essig in der Verordnung über den Verkehr mit Essig und Essigessenz entspreche. Auch der notwendige Essigsäuregehalt von Weinessig von 6 % werde nicht erreicht. Die Beklagte informiere zudem irreführend über die Eigenschaften der streitgegenständlichen Lebensmittel, indem sie diese als Essig ausgebe, obwohl sie gerade nicht das Ergebnis einer Vergärung von Fruchtweinen darstellten. Die Produkte enthielten hauptsächlich Traubenmost und vor allem Fruchtpüree sowie Fruchtsaftkonzentrat.

3Der Kläger hat in der Berufungsinstanz beantragt,

der Beklagten unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu verbieten, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Produkte unter der Bezeichnung des Lebensmittels "Essig" zu bewerben und/oder in den Verkehr zu bringen, die auch

a) Traubenmost enthalten, wenn dies jeweils geschieht wie in Anlagen A bis M

und/oder

b) Fruchtpüree enthalten, wenn dies jeweils geschieht wie in Anlagen A, C, E und/oder Anlage K

und/oder

c) natürliche Aromen enthalten, wenn dies jeweils geschieht wie in Anlagen A bis F, H bis J, L und/oder Anlage M

und/oder

d) konzentrierten und/oder nicht konzentrierten Fruchtsaft enthalten, wenn dies jeweils geschieht wie in Anlagen B, D, F, H, I, K und/oder Anlage M

und/oder

e) gekochtes Dattelsaftkonzentrat wie geschehen in Anlage K enthalten

und/oder

f) Fruchtextrakte enthalten, wenn dies jeweils geschieht wie in Anlagen G, Anlage L.

4Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben.

5II. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht, soweit für das Beschwerdeverfahren relevant, ausgeführt:

6Ein Verstoß gegen Art. 17 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (Lebensmittelinformationsverordnung - LMIV) in Verbindung mit der Verordnung über den Verkehr mit Essig und Essigessenz (EssigV) sei nicht gegeben. Es liege auch keine Irreführung gemäß Art. 7 LMIV vor.

7Nicht unter die Klageanträge falle der Vorwurf, die Beklagte täusche die Verbraucher darüber, dass der Essig der streitgegenständlichen Produkte nicht aus den namensgebenden Zutaten gewonnen sei. Auch der Vorwurf, die angegriffenen Produkte enthielten hauptsächlich Traubenmost und vor allem Fruchtpüree sowie Fruchtsaftkonzentrat, werde nicht von den Klageanträgen erfasst. Ebenfalls nicht unter die Klageanträge falle der Vorwurf, die Beklagte verwende für die Produkte ausschließlich Weinessig als Essigbestandteil, der notwendige Essigsäuregehalt von Weinessig von 6 % werde jedoch nicht erreicht.

8Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt. Mit der angestrebten Revision möchte der Kläger seine zuletzt gestellten Klageanträge weiterverfolgen.

9III. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise Art. 103 Abs. 1 GG.

101. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 119, 292 [juris Rn. 13]). Zwar gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen, die Sachvortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Vortrags verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfG, JZ 2015, 1053 [juris Rn. 8]). Die Verletzung einer entsprechenden Verfahrensbestimmung stellt deshalb zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, wenn das Gericht bei der Auslegung oder Anwendung der Verfahrensbestimmung die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt hat (vgl. BVerfGE 119, 292 [juris Rn. 13]). Befasst sich das Gericht zu Unrecht nicht mit der Sache selbst, ist deshalb - neben Art. 19 Abs. 4 Satz 1 beziehungsweise Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG - zugleich der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. , ZUM-RD 2021, 466 [juris Rn. 10] mwN).

112. Nach diesen Maßstäben verletzt die angegriffene Entscheidung das Recht des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, soweit das Berufungsgericht angenommen hat, der Klagevortrag werde nicht von den Anträgen erfasst.

12a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird der Streitgegenstand durch den Klageantrag, in dem sich die von der Klagepartei in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert, und den Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt, aus dem die Klagepartei die begehrte Rechtsfolge herleitet (, BGHZ 225, 59 [juris Rn. 25] - WarnWetter-App; Beschluss vom - I ZR 175/19, juris Rn. 18 mwN). Der Streitgegenstand einer Unterlassungsklage wird dementsprechend nicht nur durch das im Antrag umschriebene Klageziel bestimmt, sondern auch durch den Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet (vgl. , GRUR 2011, 742 [juris Rn. 14] = WRP 2011, 873 - Leistungspakete im Preisvergleich; Urteil vom - I ZR 82/17, GRUR 2018, 627 [juris Rn. 11] = WRP 2018, 827 - Gefäßgerüst). Richtet sich die Klage gegen die konkrete Verletzungsform, so ist in dieser Verletzungsform der Lebenssachverhalt zu sehen, durch den der Streitgegenstand bestimmt wird (BGH, BGHZ 225, 59 [juris Rn. 27] - WarnWetter-App; , juris Rn. 18 mwN; vgl. auch BGH, GRUR 2011, 742 [juris Rn. 17 f.] - Leistungspakete im Preisvergleich; , BGHZ 194, 314 [juris Rn. 24] - Biomineralwasser; Urteil vom - I ZR 93/21, GRUR 2022, 1347 [juris Rn. 23] = WRP 2022, 1253 - 7 x mehr).

13b) Gegenstand der vorliegenden Unterlassungsanträge ist jeweils die konkrete Verletzungsform. Die Klageanträge enthalten zwar abstrakte Umschreibungen (zum Beispiel "Produkte unter der Bezeichnung des Lebensmittels 'Essig' zu bewerben … die auch Traubenmost enthalten"). Sie werden aber durch einen Hinweis auf die konkret beanstandete Verletzungshandlung näher bestimmt ("...wenn dies jeweils geschieht wie in Anlagen ..."). Dies deutet bereits darauf hin, dass ein Vertrieb und/oder eine Werbung für Produkte untersagt werden soll, die neben den abstrakt umschriebenen Merkmalen noch eine Reihe weiterer Eigenschaften aufweisen. Anders als Antragsfassungen, die die konkrete Verletzungsform nur als Beispiel heranziehen, wird durch die unmittelbare Bezugnahme auf die konkrete Werbeanzeige in der Regel deutlich gemacht, dass Gegenstand des Antrags allein die konkrete Verletzungsform sein soll. Zum Gegenstand eines solchen Klageantrags gehört auch der Lebenssachverhalt, mit dem das Klagebegehren begründet wird. Werden in der Klage zur Begründung der Wettbewerbswidrigkeit der beanstandeten Anzeige über die abstrakte Darstellung im Antrag hinaus weitere Sachverhalte vorgetragen, gehören sie ebenfalls zum Streitgegenstand (vgl. BGH, GRUR 2011, 742 [juris Rn. 17 f.] - Leistungspakete im Preisvergleich; GRUR 2018, 627 [juris Rn. 11] - Gefäßgerüst).

14c) Mit Recht rügt die Beschwerde, das Berufungsgericht habe den nach diesen Maßstäben näher bestimmten Gegenstand der hier zur Entscheidung stehenden Unterlassungsanträge gehörswidrig verkannt.

15aa) Das Berufungsgericht ist im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass der Angriff des Klägers von Beginn an auch den Vorwurf umfasst hat, die beanstandeten Produkte der Beklagten täuschten den Verkehr darüber, der angebotene Essig sei nicht aus den namensgebenden Zutaten gewonnen. Ein weiterer Angriff des Klägers hat darauf gezielt, dass die Produkte als Hauptanteil nicht Essig, sondern Traubenmost, Fruchtpüree und Fruchtsaftkonzentrat enthalten. Außerdem hat der Kläger geltend gemacht, die Produkte der Beklagten, die als Essigbestandteil ausschließlich Weinessig enthielten, erreichten unter Verstoß gegen die Essigverordnung in Verbindung mit der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht den für Weinessig notwendigen Essigsäuregehalt von 6 %.

16bb) Bei seiner anschließenden rechtlichen Würdigung hat das Berufungsgericht jedoch allein auf den Wortlaut der Anträge abgestellt und angenommen, die Anträge brächten diese gerügten Irreführungsaspekte sowie den geltend gemachten Verstoß gegen § 1 Abs. 3 EssigV in Verbindung mit Art. 78 und Anhang VII Teil II Nr. 17 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 nicht zum Ausdruck. Dabei hat es weder die Bezugnahme auf die konkrete Verletzungsform in den Anträgen noch die Klagebegründung hinreichend berücksichtigt. Mit dieser rechtsfehlerhaften Bestimmung des Streitgegenstands hat es zugleich die Bedeutung und die Tragweite des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör verkannt.

17d) Diese Gehörsrechtsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, hätte es die weiteren Irreführungsaspekte und den geltend gemachten Verstoß gegen § 1 Abs. 3 EssigV in Verbindung mit Art. 78 und Anhang VII Teil II Nr. 17 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 in der Sache geprüft, auf die Berufung des Klägers das landgerichtliche Urteil abgeändert und der Klage stattgegeben hätte.

183. Sollte das Berufungsgericht den Unterlassungsantrag mit Blick darauf, dass dieser einzelne Beanstandungen in verschiedenen Klageanträgen jeweils unter Bezugnahme auf die konkreten Verletzungsformen umschreibt, dahin ausgelegt haben, der Kläger wolle damit eine Verurteilung allein unter diesen Gesichtspunkten erreichen (vgl. BGHZ 194, 314 [juris Rn. 25] - Biomineralwasser; BGH, BGHZ 225, 59 [juris Rn. 27] - WarnWetter-App; , GRUR 2020, 1226 [juris Rn. 25] = WRP 2020, 1426 - LTE-Geschwindigkeit), ginge eine solche Auslegung nach den vorstehend dargestellten Maßstäben unter Berücksichtigung der weiteren vom Kläger schlüssig vorgetragenen Gesichtspunkte im Ergebnis fehl. Unabhängig davon hätte in diesem Fall ebenfalls ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorgelegen.

19a) Das Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG schützt auch vor "Überraschungsentscheidungen". Eine den verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welchen Vortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Es kann daher der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt abstellt (vgl. BVerfG, NZM 2018, 440 [juris Rn. 16] mwN). Das rechtliche Gehör vor Gericht zum Streitgegenstand einer Klage bezieht sich dabei auch auf die sachdienliche Fassung der Klageanträge (vgl. , NZV 2017, 226 [juris Rn. 6]).

20b) Danach wäre Art. 103 Abs. 1 GG auch dann verletzt worden, wenn die einschränkende Auslegung der Anträge durch das Berufungsgericht zutreffend gewesen wäre.

21aa) Nachdem das Landgericht (implizit) davon ausgegangen war, zumindest der Aspekt einer Täuschung des Verkehrs darüber, dass der angebotene Essig nicht aus den namensgebenden Zutaten gewonnen sei, werde von den Klageanträgen erfasst, hätte das Berufungsgericht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO auf seine vom Landgericht abweichende Auslegung der Klageanträge hinweisen müssen. Die betroffene Partei muss Gelegenheit erhalten, ihren Sachantrag klarzustellen und gegebenenfalls den Bedenken des erkennenden Gerichts anzupassen (vgl. , NJW-RR 2010, 1363 [juris Rn. 3]).

22bb) Ein solcher Hinweis wäre auch nicht entbehrlich gewesen, weil der Kläger von der Gegenseite die gebotene Unterrichtung erhalten hätte (vgl. dazu , GRUR 2020, 292 [juris Rn. 14] = WRP 2020, 330 - Da Vinci, mwN). Ein erstinstanzlicher Hinweis der Beklagten wäre jedenfalls nach dem insoweit abweichenden Urteil des Landgerichts nicht mehr geeignet gewesen, einen gerichtlichen Hinweis zu ersetzen.

23cc) Dass der danach erforderliche Hinweis erteilt worden wäre, ist nicht ersichtlich. Nach § 139 Abs. 4 Satz 1 ZPO sind Hinweise so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nach § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht ergibt sich lediglich, dass die Klägervertreterin nach einer Sitzungspause einen modifizierten Klageantrag gestellt hat. Zwar ist es in einem Anwaltsprozess Sache der Partei, eine Anpassung der Anträge in eigener Verantwortung vorzunehmen, wenn das Gericht auf eine für erforderlich gehaltene Anpassung der Anträge hinweist. Missachtet sie den Hinweis des Gerichts, so muss sie sich an den von ihr gestellten unzulänglichen Anträgen festhalten lassen (vgl. , NJW-RR 1998, 1005 [juris Rn. 11]). Aus dem Protokoll ergibt sich jedoch nicht, dass das Berufungsgericht einen entsprechenden Hinweis erteilt hätte.

24c) Auch diese Gehörsverletzung wäre entscheidungserheblich gewesen, weil nicht hätte ausgeschlossen werden können, dass der Kläger auf einen Hinweis hin seine Anträge entsprechend angepasst hätte.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:230223BIZR127.22.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-40792