BGH Beschluss v. - 1 StR 72/23

Strafprozessrecht: Identität von angeklagter und festgestellter Tat

Gesetze: § 264 StPO

Instanzenzug: LG Offenburg Az: 8 KLs 204 Js 12730/20 jug

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sieben Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Von 37 weiteren Vorwürfen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet, hat wegen eines Verfahrenshindernisses den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Wesentlichen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

21. Eine Tat des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, nämlich der durch Eindringen mit dem Penis in den Mund der Nebenklägerin im Badezimmer vollzogene Oralverkehr (Fall II. B. Tat Ziffer 3 der Urteilsgründe), wird nicht von der – unverändert zugelassenen – Anklage erfasst. Da es somit an einer Verfahrensvoraussetzung fehlt, ist das Verfahren insoweit einzustellen (§ 206a Abs. 1 StPO; § 354 Abs. 1 Variante 2 StPO).

3a) Dem Angeklagten ist unter Ziffer 2 der Anklageschrift vom zur Last gelegt worden, dass er sich in drei Fällen im Zeitraum zwischen Ende 2010 und Mitte 2014 in der Badewanne von seiner leiblichen Tochter, der im September 2001 geborenen Nebenklägerin, mit ihrer Hand an seinem Penis manipulieren ließ. Anschließend habe er sich bis zum Samenerguss selbst befriedigt. Im Fall II. B. Tat Ziffer 3 der Urteilsgründe ist hingegen festgestellt, dass der Angeklagte in der Badewanne mit seinem Penis in den Mund der Nebenklägerin eindrang, bevor er anschließend an seinem Glied bis zum Samenerguss manipulierte.

4b) Mit dieser Abweichung ist die Identität der angeklagten von der festgestellten Tat (§ 264 Abs. 1 StPO) nicht gewahrt.

5aa) Die „Nämlichkeit“ der Tat als geschichtlicher Vorgang ist anzunehmen, wenn ungeachtet möglicher erst durch die Hauptverhandlung aufgeklärter Einzelheiten bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Auch bei Serienstraftaten wie hier den Missbrauchstaten zu Lasten eines Kindes, die zudem erst nach längerer Zeit aufgedeckt werden, können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann ( Rn. 10; Beschlüsse vom – 3 StR 195/21 Rn. 6 und vom – 1 StR 665/18 Rn. 5; je mwN).

6bb) An diesen Grundsätzen gemessen und nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 440/21 Rn. 7 und vom – 1 StR 665/18 Rn. 6; je mwN), namentlich der Fassung des Anklagesatzes unter zusätzlicher Berücksichtigung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen, ist der Oralverkehr in der Badewanne – anders als bei den von Ziffer 1 der Anklage erfassten Fällen des Oralverkehrs im Schlaf- oder Kinderzimmer – nicht Gegenstand der Ziffer 2 der Anklage. Unter den hier gegebenen Umständen werden die – nicht durch andere Umstände weiter individualisierbaren – Einzeltaten vornehmlich durch die Schwere des Missbrauchs (hier Oralverkehr statt „nur“ Manipulation am Glied) charakterisiert (vgl. auch Rn. 25). Das anschließende Selbstbefriedigen des Angeklagten, das in der Anklage beschrieben ist, genügt angesichts des erheblichen Abweichens der festgestellten von der angeklagten Tathandlung nicht zur Individualisierung der Tat.

72. Im Übrigen hat die auf die Sachrüge veranlasste umfassende sachlichrechtliche Überprüfung des Urteils aus den zutreffenden Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des – überwiegend geständigen – Angeklagten ergeben.

83. Der durch die Einstellung des Verfahrens im genannten Fall bedingte Wegfall der hierfür verhängten Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten lässt den Gesamtstrafausspruch unberührt. Es ist aufgrund des sehr straffen Zusammenzugs der rechtsfehlerfrei verhängten Einzelfreiheitsstrafen auszuschließen, dass das Landgericht ohne die entfallene Einzelstrafe auf eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:190423B1STR72.23.0

Fundstelle(n):
NAAAJ-40260