BGH Urteil v. - 5 StR 432/22

Instanzenzug: Az: 16 Ks 305 Js 48539/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition und mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Patronenmunition zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt sowie eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die Staatsanwaltschaft greift mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision den Strafausspruch an. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg. Die mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten, mit der er sich gegen seine Verurteilung wendet, bleibt dagegen erfolglos.

I.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. In den frühen Morgenstunden des kam es in der „S.         “ in L.     zunächst zu einer verbalen und danach gewalttätigen Auseinandersetzung. In deren Verlauf versprühten mehrere Personen, darunter der später Geschädigte, große Mengen Pfefferspray, schlugen zwei Anwesende und verließen die Lokalität. Der Angeklagte, der in dem Lokal beschäftigt war und dieses später übernehmen wollte, wurde telefonisch vom Vorfall unterrichtet. Er erschien etwa zeitgleich mit der Polizei und dem Rettungsdienst vor Ort. Diese beendeten ihren Einsatz, nachdem ihnen aus dem Kreis der Angegriffenen deutlich gemacht worden war, dass „die Sache unter sich geklärt werde“. Unterdessen hatten sich der später Geschädigte und seine Unterstützer mit Bierflaschen ausgerüstet und bewegten sich nunmehr Flaschen werfend in Richtung der „S.        “.

4Der Angeklagte wies einen Mitarbeiter der Bar an, erneut die Polizei zu rufen, zog eine in der Bar deponierte schusssichere Weste an und bewaffnete sich mit einer Selbstladepistole. Aus einem geöffneten Fenster der „S.        “ gab er zwei Warnschüsse ab und forderte die Angreifer auf, nicht näher zu kommen. Diese traten daraufhin den Rückzug in Richtung der 50 bis 60 Meter schräg gegenüberliegenden Gaststätte „J.   “ an. Dort versteckten sie sich hinter einem Mauervorsprung im Eingangsbereich. Der Angeklagte setzte den Gegnern in Begleitung von zwei Personen nach. Das gesamte Geschehen wurde von lautstarken wechselseitigen Beleidigungen begleitet. Nachdem sich der Angeklagte, der die Pistole bei sich trug und diese zunächst hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte, bis zur Höhe der Gaststätte „J.   “ angenähert hatte, gab er drei gezielte Schüsse über eine Straßenkreuzung hinweg in Richtung der durch den Mauervorsprung gedeckten und erneut Flaschen werfenden Personen ab. Ihm war bewusst, dass die Schüsse geeignet waren, mindestens eine Person aus der Gruppe zu treffen und tödlich zu verletzen. Dies war ihm aufgrund seiner Wut und Empörung über die vorangegangenen Auseinandersetzungen gleichgültig. Zudem wollte er seine Macht gegenüber der Gruppierung demonstrieren und die Auseinandersetzung nicht als Verlierer verlassen. Der letzte Schuss traf den Geschädigten, der sich hinter dem Mauervorsprung verschanzt hatte, von hinten streifend am Kopf mit der Folge einer Weichteilverletzung im Bereich des linken Ohres. Eine nur wenige Grad geänderte Kopfhaltung hätte zu einem Treffer in Höhe der Schädelbasis und damit sehr wahrscheinlich zu tödlichen Hirnverletzungen geführt.

5Der Angeklagte, der erkannte, dass einer der Schüsse getroffen hatte und der Geschädigte deshalb zu Boden gestürzt war, gab keine weiteren Schüsse ab, da er das erneute Eintreffen der Polizei bemerkte. Er kehrte in die Räumlichkeiten der „S.        “ zurück, ohne sich weitere Gedanken über Art und Ausmaß der Verletzung und eine etwaige medizinische Versorgung des Geschädigten zu machen. Dessen weiteres Schicksal war ihm gleichgültig.

62. Das Landgericht hat das Geschehen als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition sowie mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Patronenmunition gemäß § 212 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 22 StGB, § 52 Abs. 1 Nr. 2b und Abs. 3 Nr. 2b WaffG gewertet. Die Strafe hat es dem – nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten – Strafrahmen des minder schweren Falles nach § 213 Alt. 2 StGB entnommen.

II.

7Revision der Staatsanwaltschaft

8Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

91. Der Strafausspruch weist auch unter Berücksichtigung des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. zuletzt Rn. 11) Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.

10a) Das Landgericht hat mit der Wahl des nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmens des minder schweren Falls des Totschlags nach § 213 Abs. 1 Alt. 2 StGB (drei Monate bis sieben Jahre und sechs Monate) gegen § 52 Abs. 2 StGB verstoßen. Nach dieser Vorschrift muss die Strafe nach dem Gesetz bestimmt werden, das die schwerste Strafe androht. Für die Ermittlung der maßgeblichen Strafdrohung gilt danach nicht die abstrakte Betrachtungsweise in dem Sinne, dass die Regelstrafrahmen der in Betracht kommenden Tatbestände darüber entscheiden, welches Gesetz die höhere Strafe androht. Maßgeblich ist vielmehr ein Vergleich der konkret in Betracht kommenden Strafrahmen unter Berücksichtigung von Ausnahmestrafrahmen, etwa dem Vorliegen eines minder schweren oder eines besonders schweren Falls bei dem jeweiligen Delikt ( Rn. 6). Das Landgericht hätte daher prüfen müssen, ob die Strafe nicht dem Regelstrafrahmen des tateinheitlich verwirklichten Tatbestands der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 StGB) zu entnehmen gewesen wäre, der eine Untergrenze von sechs Monaten und eine Obergrenze von zehn Jahren vorsieht, oder ob – falls es auch insoweit einen minder schweren Fall angenommen hätte – die höhere Strafrahmenuntergrenze von sechs Monaten aus dem ebenfalls verwirklichten § 52 Abs. 1 WaffG zu berücksichtigen gewesen wäre (zur Sperrwirkung eines tateinheitlich verwirklichten Delikts vgl. , BGHR StGB § 23 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 12; MüKO-StGB/v. Heintschel-Heinegg, 4. Aufl., § 52 Rn. 114 mwN).

11b) Ungeachtet dessen hält die Annahme eines minder schweren Falls nach § 213 Abs. 1 Alt. 2 StGB rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

12aa) Die erforderliche Gesamtbetrachtung bei der Prüfung eines minder schweren Falles nach § 213 Alt. 2 StGB (vgl. hierzu , BGHR StGB § 213 Alt. 2 Gesamtwürdigung 3) weist Lücken auf. Das Landgericht hat die Anwendung des Sonderstrafrahmens ausschließlich mit strafmildernden Umständen begründet und weitere im Urteil festgestellte potenziell strafschärfende Gesichtspunkte unerörtert gelassen. So hat es insbesondere nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte auch mit dem Ziel der „Bestrafung“ seiner Gegner handelte, zur „Machtdemonstration“ und Ausübung von „Selbstjustiz“ sowie, um „nicht als Verlierer der Auseinandersetzung“ zu gelten. Hierin hat das Landgericht bei der Prüfung der Mordmerkmale rechtlich zutreffend Beweggründe gesehen, welche dann, wenn sie der Tat das Gepräge geben, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, deshalb verwerflich sind und das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erfüllen (vgl. , NStZ 2022, 740 f.; vom – 2 StR 550/99, BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 39; vom – 3 StR 476/93, BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 28). Hiervon hat sich das Landgericht unter Anwendung des Zweifelssatzes zwar letztlich nicht zu überzeugen vermocht. Dennoch hätten diese Beweggründe und Ziele der Tat, die sich im Grenzbereich zu Mordmerkmalen bewegen, aber als gewichtige Strafzumessungsgründe im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden müssen.

13bb) Ein Erörterungsdefizit ergibt sich ferner aus dem Umstand, dass das Urteil keine Feststellungen dazu enthält, ob der Angeklagte die Tat unter laufender Führungsaufsicht beging. Wäre dies der Fall gewesen, stellte dieser Umstand einen regelmäßig bestimmenden Strafzumessungsgrund dar (vgl. , NStZ-RR 2019, 227), der neben einer hohen Rückfallgeschwindigkeit bei der Prüfung eines minder schweren Falles ebenfalls im Rahmen der Gesamtwürdigung hätte erörtert werden müssen.

14Den Ausführungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten lässt sich entnehmen, dass das Landgericht Leipzig gegen ihn mit Urteil vom unter Freispruch von einem Tatvorwurf, der nicht mitgeteilt wird, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet hatte (§ 63 StGB). Dem lag zugrunde, dass eine bei ihm bestehende überdauernde schizophrene Erkrankung festgestellt worden war. Mit Beschluss vom ordnete die Strafvollstreckungskammer die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Die weitere Vollstreckung der Maßregel wurde mit Beschluss vom für erledigt erklärt und der Angeklagte aus der Vollzugseinrichtung entlassen, weil eine überdauernde schizophrene Erkrankung nicht vorgelegen habe. Unter diesen Voraussetzungen steht jedenfalls die Tatbegehung nur kurze Zeit nach der Entlassung des Angeklagten aus dem Maßregelvollzug fest. Zur Frage einer Tatbegehung unter laufender Führungsaufsicht (§ 67d Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 Satz 4 StGB) schweigt das Urteil.

15cc) Nach alledem kann offenbleiben, ob das Landgericht bereits die einzuhaltende Prüfungsreihenfolge bei minder schweren Fällen (vgl. ) missachtet hat, weil es strafschärfende Umstände erstmals bei der Strafzumessung im engeren Sinne berücksichtigt hat.

162. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Tatgericht unter Berücksichtigung aller zumessungsrelevanten Gesichtspunkte zur Anwendung eines für den Angeklagten ungünstigeren Strafrahmens und einer höheren Strafe gelangt wäre. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, da es sich lediglich um Wertungsfehler handelt. Das neue Tatgericht ist nicht gehindert, ergänzende, nicht widersprechende Feststellungen zu treffen.

III.

17Revision des Angeklagten

18Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Die Überprüfung des Urteils hat keine Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.

191. Zu Recht hat das Landgericht eine Rechtfertigung der Tat durch Notwehr (§ 32 StGB) abgelehnt, weil im Zeitpunkt der Abgabe der letzten drei Schüsse der vorherige Angriff der Gruppe um den Geschädigten beendet war und keine Notwehrlage mehr bestand. Vielmehr war es nunmehr der bewaffnete Angeklagte, der gemeinsam mit den Zeugen A.   und N.    den früheren Angreifern, die sich nach Abgabe der Warnschüsse entfernt hatten, nachsetzte. Zudem hat die Strafkammer ohne Rechtsfehler den Verteidigungswillen des Angeklagten verneint.

20Entgegen dem Revisionsvorbringen kommt ein Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht in Betracht, denn ein Festnahmewille des Angeklagten ist nicht festgestellt. Zudem wäre ein lebensgefährlicher Schusswaffeneinsatz zur Durchsetzung eines etwaigen Festnahmerechts des Angeklagten ohnehin nicht gestattet gewesen (vgl. , BGHSt 45, 378, 381).

212. Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch des Totschlags verneint hat, halten im Ergebnis rechtlicher Prüfung stand.

22a) Rechtsfehlerfrei hat es auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen einen beendeten Versuch angenommen, von dem der Angeklagte nicht durch die bloße Einstellung weiterer Angriffe strafbefreiend zurücktreten konnte (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB).

23aa) Ein Tötungsversuch ist beendet, wenn der Täter nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns macht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 303/17, NStZ-RR 2018, 10; vom – 4 StR 464/18; vom – 1 StR 58/21, NStZ-RR 2021, 272 f.).

24bb) Nach den Feststellungen hatte sich der bewaffnete Angeklagte der gegnerischen Gruppe bis zur Höhe der Gaststätte „J.   “ angenähert. Von dieser, nun nur noch durch eine Straßenkreuzung getrennt, schoss er drei Mal gezielt in Richtung der dort hinter einem Mauervorsprung im Eingangsbereich stehenden Personen. Nach Abgabe des letzten Schusses erkannte er, dass er den Geschädigten getroffen hatte und dieser deshalb zu Boden gestürzt war. Unmittelbar danach wandte er sich vom Tatort ab, wobei ihm das weitere Schicksal des Geschädigten gleichgültig war. Die durch den Schuss verursachte Gefährdung des Geschädigten schätzte er zutreffend ein und hielt den Erfolgseintritt (Tod des Geschädigten) für möglich.

25b) Die Feststellungen beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung (vgl. zum eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab Rn. 14 f.). Die Darstellung leidet zwar unter einer unausgewogenen Schwerpunktsetzung und erschöpft sich in weiten Teilen in der bloßen Wiedergabe von Zeugenaussagen und Ergebnissen einzelner Beweiserhebungen (vgl. Rn. 5). Die Urteilsgründe lassen aber noch hinreichend erkennen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatgericht gezogenen Schlüsse möglich und nicht bloße Vermutungen sind (vgl. , 5 StR 207/21 Rn. 56).

26Das Landgericht hat sich insoweit auf die Einlassung des Angeklagten gestützt, der das äußere Tatgeschehen „vollumfänglich und glaubhaft“ eingeräumt hat. Dieses wird zudem durch die im Urteil wiedergegebenen Zeugenaussagen belegt. Der Angeklagte hat weiter ausdrücklich gestanden, dass er wahrgenommen habe, den Geschädigten getroffen zu haben. Aus der Gesamtschau der äußeren Umstände, insbesondere der Tatausführung (gezielte Schüsse mit einer besonders gefährlichen Schusswaffe), der „unmittelbaren“ Beendigung der Tathandlungen nach dem letzten, den Geschädigten verletzenden Schuss, sowie der Erkennbarkeit des Sturzes des Geschädigten, die sich aus der Aussage eines deutlich weiter entfernten Zeugen ergibt, konnte das Landgericht ohne Rechtsfehler den möglichen Schluss auf das Vorstellungsbild des Angeklagten im Zeitpunkt der letzten Tathandlung ziehen. Angesichts dieser Beweislage besorgt der Senat auch im Hinblick auf die missverständliche Formulierung in der rechtlichen Würdigung, der Angeklagte „[müsse] wahrgenommen haben […] wie der Geschädigte stürzte“, nicht, dass sich das Landgericht mit der Feststellung einer bloßen Erkenntnismöglichkeit des Angeklagten begnügt haben könnte.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:150323U5STR432.22.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-37283