Angemessene Verfahrensdauer bei Untätigkeitsklagen; Bagatellverzögerungen innerhalb des Toleranzrahmens
Leitsatz
1. NV: In einem finanzgerichtlichen Verfahren, das keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, ist eine bereits 13 Monate nach Eingang der Klage erhobene Verzögerungsrüge als verfrüht und damit als unwirksam anzusehen.
2. NV: Weder aus dem Umstand, dass im Ausgangsverfahren eine Untätigkeitsklage erhoben wurde, noch aus dem langen Zurückliegen der Streitjahre folgt ein vom Ausgangsgericht von Amts wegen zu berücksichtigendes besonderes Beschleunigungsbedürfnis. Zur Begründung eines Anspruchs auf vorrangige Bearbeitung seines Verfahrens muss der Beteiligte vielmehr auch in solchen Fällen konkrete Umstände gegenüber dem Ausgangsgericht darlegen.
3. NV: Aufgrund des bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu beachtenden Toleranzrahmens, der einer allzu kleinteiligen Betrachtungsweise entgegensteht, ist eine im 25. Monat nach Klageerhebung zu verzeichnende Untätigkeit des Ausgangsgerichts noch nicht als unangemessen anzusehen, wenn bereits zu Beginn des 26. Monats ein Umstand eintritt, der dem Ausgangsgericht eine Förderung des Verfahrens auf unabsehbare Zeit unmög-lich macht.
4. NV: Nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelungen (§ 198 Abs. 5 Satz 3 GVG, § 851 Abs. 1 ZPO, § 36 Abs. 1 Satz 1, § 80 Abs. 1 InsO, § 240 Satz 1 ZPO) werden Entschädigungsklageverfahren durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers nicht unterbrochen. Ob eine erweiternde Auslegung des Anwendungsbereichs des § 240 Satz 1 ZPO geboten ist, brauchte der Senat hier nicht zu entscheiden.
Gesetze: GVG § 198 Abs. 1, 3, 5; ZPO § 240 Satz 1;
Instanzenzug: Ausgangsverfahren: Thüringer FG - 1 K 123/19 , 1 K 124/19
Tatbestand
I.
1 Der Kläger begehrt gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigung wegen der aus seiner Sicht unangemessenen Dauer der Klageverfahren 1 K 123/19 und 1 K 124/19, die seit dem beim Thüringer Finanzgericht (FG) anhängig sind und am wegen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen worden sind, ohne bisher aufgenommen worden zu sein.
2 Den Ausgangsverfahren liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war an einer atypisch stillen Gesellschaft beteiligt. Die Bescheide über die einheitliche und gesonderte Feststellung des Gewinns aus dieser Gesellschaft für die Streitjahre der Ausgangsverfahren (1997 und 1998) ergingen zunächst erklärungsgemäß. Aufgrund einer im Jahr 2000 begonnenen Außenprüfung erließ das Finanzamt (FA) am geänderte Feststellungsbescheide für 1997 und 1998; mit Schreiben vom erklärte das FA jedoch, es habe in Bezug auf die vorgenannten Bescheide keinen Bekanntgabewillen. Am ergingen erneut Gewinnfeststellungsbescheide, die inhaltsgleich mit den Bescheiden vom waren. Die hiergegen eingelegten Einsprüche wies das FA am als unbegründet zurück; die Einspruchsentscheidung wurde bestandskräftig.
3 Am erhob der Kläger eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit u.a. des Gewinnfeststellungsbescheids für 1998 vom mit der Begründung, er habe diesen Bescheid nicht erhalten. Nachdem das FA nachgewiesen hatte, dass der Kläger seinen Einspruch ausdrücklich gegen diesen Bescheid gerichtet hatte, nahm der Kläger die Klage zurück.
4 Am erhob der Kläger eine zweite Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Gewinnfeststellungsbescheids 1998 vom . Zur Begründung führte er nun aus, der Bescheid sei nicht wirksam bekanntgegeben worden, weil die Empfangsvollmacht einer Steuerberatungs-GmbH nicht beachtet worden sei. Zudem sei der Bescheid inhaltlich nicht hinreichend bestimmt, da er nicht regele, wie er sich zum inhaltsgleichen Feststellungsbescheid 1998 vom verhalte. Die Klage nahm der Kläger in der mündlichen Verhandlung am nach einem Hinweis des FG zurück; das FG stellte das Verfahren ein.
5 Ein Schreiben des Klägers an das in dem er u.a. geltend machte, der in dieser mündlichen Verhandlung erteilte Hinweis sei unzutreffend gewesen, wurde vom FG als dritte Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Gewinnfeststellungsbescheids 1998 vom gewertet. Das FG verwarf diese Klage mit Urteil vom wegen Verwirkung als unzulässig. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der Bundesfinanzhof (BFH) dieses Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück (Beschluss vom - IV B 80/16, nicht veröffentlicht). Das FG habe das Schreiben des Klägers vom verfahrensfehlerhaft als erneute (dritte) Nichtigkeitsfeststellungsklage gewertet. Richtigerweise hätte es jedoch von einem Antrag auf Fortsetzung des nach Klagerücknahme eingestellten zweiten Nichtigkeitsfeststellungs-Klageverfahrens ausgehen müssen.
6 Während des anschließenden zweiten Rechtsgangs stellte das FA mit einem an die damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers gerichteten Schreiben vom die Nichtigkeit der Gewinnfeststellungsbescheide für 1997 und 1998 vom fest. In einem an das FG gerichteten Schreiben vom selben Tage vertrat das FA die Auffassung, dass damit die inhaltsgleichen Bescheide vom wieder aufleben würden.
7 Am legte der Kläger gegen die Gewinnfeststellungsbescheide 1997 und 1998 vom Einspruch ein und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Wiedereinsetzung sei zu gewähren, weil der Kläger aufgrund der Erklärung des FA vom , es habe hinsichtlich der Bescheide vom keinen Bekanntgabewillen gehabt, bisher von der Unwirksamkeit dieser Bescheide ausgegangen sei und deshalb seinerzeit keinen Einspruch eingelegt habe. Nun sei das FA aber der Auffassung, die Bescheide vom seien aufgrund der am festgestellten Nichtigkeit der Bescheide vom wieder aufgelebt. Daher sei zur Wahrnehmung einer (erstmaligen) Rechtsschutzmöglichkeit gegen die vermeintlich wieder aufgelebten Bescheide die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erforderlich.
8 Der Einspruch sei auch begründet, da die Bescheide vom erst nach Ablauf der Feststellungsfrist ergangen seien. Der Beginn der Außenprüfung habe nicht zu einer Ablaufhemmung geführt, da die Prüfungsanordnung fehlerhaft adressiert gewesen sei. Zudem sei für das Jahr 1998 noch ein erheblicher Verlust aus dem —vor der Betriebsaufgabe zwingend vorzunehmenden— Übergang von der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung zur Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich zu erfassen.
9 Am —noch vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 46 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)— erhob der Kläger Untätigkeitsklagen in Bezug auf die Einspruchsverfahren zur Gewinnfeststellung 1997 (1 K 124/19) und 1998 (1 K 123/19), die Ausgangsverfahren der vorliegend zu beurteilenden Entschädigungsklagen. Er begründete die Klagen am . Anschließend entwickelte sich ein Schriftsatzaustausch zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens.
10 Am erließ das FA die Einspruchsentscheidung, mit der es die Einsprüche gegen die Gewinnfeststellungsbescheide 1997 und 1998 vom mit der Begründung, mittlerweile sei Feststellungsverjährung eingetreten, als unzulässig verwarf.
11 Anschließend wurde der Schriftsatzaustausch zwischen den Beteiligten fortgesetzt; der Kläger nahm zudem Akteneinsicht und erhob eine Sachaufsichtsbeschwerde beim Thüringer Finanzministerium, die eine Vorlage der Steuerakten erforderte. Zuletzt ging beim FG für 1997 ein Schriftsatz des Klägers vom ein, den das FG dem FA am zur Kenntnis übersandte. Für 1998 ging beim FG zuletzt am der Schriftsatz des FA vom —dessen Inhalt für beide Ausgangsverfahren relevant war— ein, den das FG dem Kläger aber zunächst nicht übersandte.
12 Am erhob der Kläger in beiden Verfahren Verzögerungsrügen. Am richtete das FG im Klageverfahren zum Streitjahr 1998 einen rechtlichen Hinweis an den Kläger und übersandte nun auch das Schreiben des FA vom . Ein weiterer rechtlicher Hinweis, der nur unter dem —das Streitjahr 1997 betreffende— Aktenzeichen 1 K 124/19 ergangen ist, inhaltlich aber beide Streitjahre betraf, folgte am . Anschließend kam es zu einem erneuten Schriftsatzaustausch zwischen den Beteiligten, der für das Streitjahr 1998 mit der Übersendung des Schreibens des Klägers vom durch das FG an das FA am endete und für das Streitjahr 1997 mit der Übersendung des Schreibens des FA vom durch das FG an den Kläger am . Zuvor hatte der Kläger erklärt, eine Terminierung sei erst ab dem möglich, da er sich bis dahin nicht in Deutschland aufhalte.
13 Am erhob der Kläger, der seinerzeit noch als Steuerberater zugelassen war, seine Zulassung aber zwischenzeitlich verloren hat, die vorliegenden Entschädigungsklagen. Er ist der Auffassung, die Ausgangsverfahren wiesen keine besonderen Schwierigkeiten auf. Ihre Dauer sei angesichts der schon zuvor über viele Jahre geführten Gerichtsverfahren als überlang anzusehen.
14 Am wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers eröffnet. Die finanzgerichtlichen Klageverfahren wurden damit gemäß § 240 der Zivilprozessordnung (ZPO) unterbrochen und sind bis heute nicht aufgenommen worden.
15 Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger wegen der Verzögerung der vor dem Thüringer FG geführten Verfahren 1 K 123/19 und 1 K 124/19 eine Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch nicht weniger als jeweils 1.200 € zuzüglich Zinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz,
außerdem festzustellen, dass die Dauer der vor dem Thüringer FG geführten Verfahren 1 K 123/19 und 1 K 124/19 unangemessen war.
16 Der Beklagte beantragt,
die Klagen abzuweisen.
17 Er ist der Auffassung, die Ausgangsverfahren beträfen schwierige und komplexe Angelegenheiten. Der Kläger habe selbst zu der von ihm gerügten Verfahrensdauer beigetragen (Akteneinsicht, Erhebung einer Sachaufsichtsbeschwerde, Bestreiten des Erhalts von Schreiben des FA). Die Verzögerungsrüge sei zu früh erhoben und daher unwirksam. Jedenfalls eine Geldentschädigung sei angesichts der Umstände des Streitfalls nicht erforderlich.
18 Aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers am hat der Senat zunächst die Auffassung vertreten, die Entschädigungsklageverfahren seien unterbrochen. Der Insolvenzverwalter hat erklärt, er nehme die Verfahren nicht auf. Daraufhin hat der Beklagte am die Aufnahme der Verfahren erklärt.
Gründe
II.
19 Die beiden Entschädigungsklageverfahren werden gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zu gemeinsamer Entscheidung verbunden. Die Verbindung entspricht wegen der im Wesentlichen gleichgelagerten Sachverhalte dem Gebot der Prozessökonomie.
III.
20 Der Senat kann offenlassen, ob die Entschädigungsklageverfahren aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers überhaupt unterbrochen waren (dazu unten 1.). Jedenfalls wäre eine eventuelle Unterbrechung zwischenzeitlich beendet worden (unten 2.), so dass den Entschädigungsklageverfahren Fortgang zu geben ist.
21 1. Aus den rechtlichen Regelungen über den Entschädigungsanspruch und das Insolvenzverfahren ließe sich ableiten, dass Entschädigungsklageverfahren nicht von der Unterbrechungswirkung des § 240 Satz 1 ZPO erfasst werden.
22 Der Eintritt der Rechtsfolge des § 240 Satz 1 ZPO setzt u.a. voraus, dass das jeweilige gerichtliche Verfahren „die Insolvenzmasse betrifft“. Gemäß § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG ist ein Entschädigungsanspruch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Entschädigungsklage nicht übertragbar. Daraus folgt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt auch unpfändbar ist (§ 851 Abs. 1 ZPO). Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, gehören aber nicht zur Insolvenzmasse (§ 36 Abs. 1 Satz 1 der Insolvenzordnung —InsO—). Nur in Bezug auf die Insolvenzmasse geht das Verwaltungs- und Verfügungsrecht auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Erst nach der rechtskräftigen Entscheidung über den Entschädigungsanspruch gelten die allgemeinen Vorschriften zur Übertragbarkeit, Aufrechenbarkeit (dazu ausführlich , BGHZ 224, 20), Pfändbarkeit und damit auch zum Insolvenzbeschlag.
23 In der Praxis wäre diese Betrachtung in Bezug auf Entschädigungsforderungen allerdings mit erheblichen Friktionen verbunden. Im ersten Schritt müsste das —nicht unterbrochene— Entschädigungsklageverfahren auch während des Insolvenzverfahrens vom nicht zahlungsfähigen Schuldner persönlich, auf sein Risiko und auf seine Kosten geführt werden. Sobald diesem aber eine Entschädigung rechtskräftig zugesprochen würde, könnte der Insolvenzverwalter sein nunmehr bestehendes Verwaltungs- und Verfügungsrecht hinsichtlich der Entschädigungsforderung ausüben. Angesichts dessen wäre es für den Schuldner weitestgehend sinnlos, ein solches Entschädigungsklageverfahren fortzuführen.
24 2. Der Senat muss diese Frage, ob im Hinblick auf die vorstehend dargelegte Problematik eine erweiternde Auslegung des Anwendungsbereichs des § 240 Satz 1 ZPO geboten ist, vorliegend nicht entscheiden, da eine eventuelle Unterbrechungswirkung zwischenzeitlich jedenfalls beendet worden wäre.
25 Bei den vorliegenden Entschädigungsklageverfahren handelt es sich um Aktivprozesse, in denen —falls sie durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbrochen worden sein sollten— der Insolvenzverwalter das erste Recht zur Aufnahme gehabt hätte (§ 85 Abs. 1 Satz 1 InsO). Nachdem dieser die Aufnahme abgelehnt hatte, lag das Recht zur Aufnahme der Verfahren gemäß § 85 Abs. 2 InsO u.a. beim Beklagten. Dieser hat am die Aufnahme erklärt, so dass die Verfahren jedenfalls seit diesem Zeitpunkt fortzuführen sind.
IV.
26 Die Entschädigungsklagen sind sowohl mit den Zahlungsanträgen (dazu unten 1.) als auch mit den Feststellungsanträgen (unten 2.) unbegründet.
27 1. Ein Anspruch auf Geldentschädigung ist in beiden Verfahren bereits wegen des Fehlens wirksamer Verzögerungsrügen ausgeschlossen.
28 a) Die Zuerkennung einer Geldentschädigung setzt eine (wirksame) Verzögerungsrüge voraus (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG). Diese kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird (§ 198 Abs. 3 Satz 2 GVG).
29 Für finanzgerichtliche Verfahren, die keine wesentlichen Besonderheiten aufweisen, gilt grundsätzlich die Vermutung einer angemessenen Verfahrensdauer, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach Klageeingang mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene Phase der gerichtlichen Aktivität nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht das Verfahren unbearbeitet lässt (Senatsurteil vom - X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179). Der Senat hat bereits entschieden, dass im Anwendungsbereich dieser Vermutung eine nach 14 Monaten erhobene Verzögerungsrüge in der Regel als verfrüht und damit unwirksam anzusehen ist (, BFHE 255, 407, BStBl II 2017, 350, Rz 45 ff., und vom - X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132, Rz 39 ff., auf die wegen der näheren Begründung verwiesen wird).
30 In den vorliegend zu beurteilenden Ausgangsverfahren wurden die Verzögerungsrügen jeweils bereits 13 Monate nach der Erhebung der beiden Klagen eingereicht. Sie sind daher nach den im vorstehenden Absatz dargelegten Maßstäben unwirksam.
31 b) Im Streitfall folgt nichts anderes daraus, dass es in den Ausgangsverfahren nicht um gewöhnliche Anfechtungs- oder Verpflichtungsklagen geht, sondern Untätigkeitsklagen erhoben worden sind.
32 Allein aus dem Umstand, dass es sich um Untätigkeitsklagen handelt, folgt noch kein besonderes Beschleunigungsgebot für das Ausgangsgericht. Der Kläger muss ein aus seiner Sicht bestehendes besonderes Beschleunigungsbedürfnis vielmehr auch in diesen Fällen ausdrücklich benennen (vgl. auch § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG), damit das von ihm betriebene Verfahren einen Vorrang gegenüber anderen, beim selben Spruchkörper anhängigen gleich alten —oder sogar jüngeren— Verfahren erhalten kann. Hinzu kommt, dass die Untätigkeitsklagen vorliegend noch vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO erhoben worden sind.
33 Der Kläger hat in den Ausgangsverfahren weder vor noch mit seinen Verzögerungsrügen ein nachvollziehbares Interesse an einer besonderen Beschleunigung der Verfahren dargelegt. Hierfür genügt insbesondere nicht der bloße Hinweis auf das lange Zurückliegen der Streitjahre. Der Kläger hätte zur Begründung eines besonderen Beschleunigungsanspruchs vielmehr konkrete Umstände (z.B. drohender Beweismittelverlust infolge des Zeitablaufs, Einfluss des Verfahrens auf seine gegenwärtigen oder zukünftigen steuerrechtlichen Planungen) darlegen müssen. Allein der Umstand, dass die Streitjahre lange zurückliegen, bewirkt noch keinen Vorrang eines solchen Ausgangsverfahrens gegenüber gleich alten oder jüngeren Verfahren, die beim selben Spruchkörper anhängig sind. Denn das FG ist —vorbehaltlich des Vorliegens besonderer, von dem die Beschleunigung begehrenden Beteiligten darzulegender Umstände— grundsätzlich nicht verpflichtet, Verzögerungen des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens gewissermaßen von Amts wegen auszugleichen. Im Übrigen beruhte ein erheblicher Teil der zwischen dem Streitjahr und dem Beginn der Ausgangsverfahren verstrichenen Zeit darauf, dass der Kläger mehrfach Nichtigkeitsfeststellungsklagen anhängig gemacht, zurückgenommen und später zum selben Streitgegenstand erneut anhängig gemacht hatte.
34 2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine gerichtliche Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war.
35 a) Die vom Kläger zusätzlich gestellten Anträge auf Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer sind nicht von der Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge abhängig, weil das in § 198 Abs. 3 GVG enthaltene Erfordernis der Verzögerungsrüge nach dem klaren Gesetzeswortlaut nur für den Anspruch auf Geldentschädigung gilt.
36 b) Da auch für die in den Ausgangsverfahren erhobenen Untätigkeitsklagen von der typisierenden Senatsrechtsprechung auszugehen ist, wonach das FG in einem durchschnittlichen Klageverfahren gut zwei Jahre nach Klageeingang mit Maßnahmen beginnen muss, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen (vgl. oben IV.1.), wären in den seit dem beim FG anhängigen Ausgangsverfahren grundsätzlich ab März 2021 auf den Verfahrensabschluss gerichtete Aktivitäten des FG erforderlich gewesen.
37 Bereits am sind die Ausgangsverfahren jedoch infolge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen worden (vgl. zur Unterbrechungswirkung bei Gewinnfeststellungsverfahren , BFHE 207, 10, BStBl II 2005, 246). Während der Unterbrechung ist dem Gericht eine Verfahrensförderung aus Rechtsgründen nicht möglich (zum Fristenlauf und zu Verfahrenshandlungen der Beteiligten vgl. § 249 Abs. 1, 2 ZPO; zu gerichtlichen Handlungen vgl. Senatsbeschluss vom - X B 134/12, BFHE 240, 534, BStBl II 2013, 585, Rz 17, m.w.N.), so dass diese Zeit nicht als Teil einer unangemessenen Verfahrensdauer angesehen werden kann.
38 c) Damit könnte allenfalls die Nichtbearbeitung der Ausgangsverfahren im Monat März 2021 als unangemessen anzusehen sein. Insoweit scheidet die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer jedoch aufgrund des Toleranzrahmens aus, der einer allzu kleinteiligen Betrachtungsweise entgegensteht (vgl. hierzu insbesondere Senatsurteil vom - X K 7/13, BFH/NV 2015, 33, Rz 52).
39 Dieser Toleranzrahmen beruht darauf, dass nach der vom Senat für das durchschnittliche finanzgerichtliche Klageverfahren entwickelten typisierenden Formel lediglich nach „gut“ zwei Jahren mit verfahrensfördernden Maßnahmen begonnen werden muss. Dies ermöglicht es, eine im 25. Monat nach Klageerhebung zu verzeichnende Untätigkeit des Ausgangsgerichts noch nicht als unangemessen anzusehen, sofern —wie hier— bereits zu Beginn des 26. Monats nach Klageerhebung ein Umstand eintritt, der dem Ausgangsgericht eine Förderung des Verfahrens auf unabsehbare Zeit unmöglich macht.
40 Nur zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass seine bisherige Rechtsprechung unberührt bleibt, wonach in Fällen, die nach Ablauf der „gut“ zwei Jahre nach Klageerhebung durch einen langen Zeitraum der gerichtlichen Untätigkeit gekennzeichnet sind, grundsätzlich bereits der 25. Monat in den Zeitraum der unangemessenen Verfahrensdauer einzubeziehen ist.
41 3. Der Senat hält es für angebracht, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a Abs. 1 FGO).
42 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2022:U.161122.XK1.21.0
Fundstelle(n):
EAAAJ-37140