(Krankenversicherung - Versorgung mit dem Arzneimittel Avastin - grundrechtsorientierte Auslegung - § 2 Abs 1a SGB 5)
Gesetze: § 2 Abs 1a SGB 5, Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 20 Abs 1 GG
Instanzenzug: Az: S 39 KR 642/17 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 4 KR 349/18 Urteilnachgehend Az: 1 BvR 2491/21 Nichtannahmebeschluss
Gründe
1I. Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin leidet an einem Glioblastoma multiforme. Eine im Sommer 2015 durchgeführte Chemotherapie mit Temodal und eine zusätzliche Radiotherapie wurden wegen erheblicher Nebenwirkungen kurze Zeit später wieder ausgesetzt. Nach deutlichem Tumorwachstum folgte von März bis Mai 2016 eine Chemotherapie mit Procarbazin und Lomustin, die wegen schwerer Nebenwirkungen ebenfalls abgebrochen wurde. Ab Mitte April 2016 wurde die Klägerin mit Avastin (Wirkstoff: Bevacizumab) behandelt. Das Medikament ist für den Einsatz in Deutschland und der Europäischen Union (EU) zur Behandlung verschiedener Krebserkrankungen zugelassen, nicht aber zur Behandlung von Glioblastomen. Mit ihrem zuletzt auf Kostenerstattung iH von 28 326,14 Euro, zukünftige Versorgung sowie Feststellung des Bestehens des Anspruchs auf Versorgung mit Avastin in der Zeit vom bis gerichteten Begehren ist die Klägerin bei der Beklagten und in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das LSG hat ausgeführt, die Voraussetzungen eines zulassungsüberschreitenden Einsatzes von Avastin (Off-Label-Use) lägen nicht vor. Einem Leistungsanspruch nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw § 2 Abs 1a SGB V stehe die Sperrwirkung entgegen, welche die Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 sowie die 2014 erfolgte Versagung der Zulassungserweiterung für Avastin durch die Europäische Arzneimittelbehörde entfalteten (Verweis auf - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6; - GesR 2019, 38). Die Sachlage habe sich seither nicht verändert (Urteil vom ).
2Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
3II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
41. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB - juris RdNr 6; - juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG <Dreierausschuss> vom - 2 BvR 676/81 - juris RdNr 8). Diesen Anforderungen wird das Vorbringen der Klägerin nicht gerecht.
5a) Die Klägerin bezeichnet als Rechtssatz des BVerfG, "dass es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. (…) Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Arzneimittel-Therapie oder eine Behandlungsmethode handelt."
6Diesem Rechtssatz des BVerfG stellt die Klägerin den Rechtssatz des BSG gegenüber, den sich das LSG zu eigen mache, "dass von hinreichenden Erfolgsaussichten im dargelegten Sinn nur dann auszugehen ist, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen."
7Insofern legt die Klägerin jedoch eine Abweichung der bezeichneten Rechtssätze nicht schlüssig dar. Sie setzt sich nicht damit auseinander, dass das LSG - im Einklang mit der stRspr des Senats (vgl zB - juris RdNr 15 ff mwN) - die Voraussetzungen eines Off-Label-Use nach den vom Senat entwickelten Grundsätzen mit der Forderung von Erkenntnissen in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (grundlegend - BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) und den Leistungsanspruch nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw nach der Regelung § 2 Abs 1a SGB V getrennt und nacheinander prüft, die von ihr formulierten Rechtssätze mithin unterschiedliche Anspruchsgrundlagen betreffen.
8b) Soweit die Klägerin die gerügte Divergenz sinngemäß weiterhin darauf stützt, dass das LSG unter Berufung auf die Rspr des BSG § 2 Abs 1a SGB V bzw die durch das BVerfG aufgestellten Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung einschränkend dahingehend auslege, dass bei Fertigarzneimitteln, für die eine Genehmigung im Zulassungsverfahren behördlich abgelehnt wurde, kein Leistungsanspruch existiere, fehlt es an einer schlüssigen Darlegung der Unvereinbarkeit der Rechtssätze.
9Der Senat hat hierzu entschieden, dass die Auslegung des § 2 Abs 1a SGB V in dem vorgenannten Sinne aus Entwicklungsgeschichte, Regelungssystem von Arzneimittelzulassungsrecht und SGB V sowie dem Regelungszweck folge, ohne dass der Wortlaut der Vorschrift entgegenstehe ( - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 19 ff; - GesR 2019, 38, juris RdNr 15 ff). § 2 Abs 1a SGB V führe dabei in der Sache die Rspr des BVerfG und des erkennenden Senats zur grundrechtsorientierten Auslegung fort, anknüpfend an jene des BVerfG. Der Senat habe bereits bei der Konkretisierung des - BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) nicht außer Acht gelassen, dass die vom BVerfG betonten verfassungsrechtlichen Schutzpflichten nicht nur die leistungserweiternde Konkretisierung der Leistungsansprüche der Versicherten bestimmten, sondern dass diese Schutzpflichten die Versicherten auch davor bewahren sollten, auf Kosten der GKV mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht wahrgenommen werde. Der erkennende Senat habe zudem darauf hingewiesen, dass ebenso wenig die Rspr des BVerfG dazu führen dürfe, dass unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte begründet würden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten institutionelle Sicherungen aushebelten, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes der Versicherten und der Gesamtbevölkerung errichtet habe ( aaO, RdNr 19; aaO, RdNr 16, jeweils mwN).
10Danach handelt es sich bei der Auslegung des § 2 Abs 1a SGB V durch den Senat und das LSG gerade nicht um eine Abweichung von den Vorgaben des BVerfG, sondern um deren Konkretisierung. Damit setzt sich die Klägerin nicht auseinander. Sie macht im Ergebnis lediglich geltend, die vom BVerfG aufgestellten und inzwischen in § 2 Abs 1a SGB V geregelten Voraussetzungen der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts seien entgegen der Auffassung des LSG (und des BSG) vorliegend erfüllt. Damit wendet sie sich allein gegen die Richtigkeit der LSG-Entscheidung. Solches Vorbringen reicht nicht aus, um die Revision zuzulassen (stRspr; - SozR 1500 § 160a Nr 7; - SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18).
112. Sofern die Klägerin sinngemäß geltend machen sollte, dass die Auslegung des § 2 Abs 1a SGB V durch den erkennenden Senat im Hinblick auf die Versorgung mit Arzneimitteln (erneut) klärungsbedürftig sei, wird ihr Vorbringen den Anforderungen an die Darlegung des damit in der Sache geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht gerecht.
12Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB - juris RdNr 4 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 f mwN). Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden ist. Sie kann wieder klärungsbedürftig werden, wenn der Rspr in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden, was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zB - SozR 4-1500 § 160a Nr 32; - juris RdNr 7). Erneute Klärungsbedürftigkeit ist darüber hinaus auch gegeben, wenn neue erhebliche Gesichtspunkte gegen die bisherige Rspr vorgebracht werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen (vgl - SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2; - juris RdNr 6, jeweils mwN). Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung selbst dann nicht, wenn sie eine Rechtsfrage sinngemäß dahingehend formuliert haben sollte, ob in den Fällen des § 2 Abs 1a SGB V Versicherte Anspruch auf ein Arzneimittel für eine bestimmte Indikation haben, wenn der Antrag auf die indikationsbezogene Zulassungserweiterung im europäischen Arzneimittelzulassungsverfahren erfolglos gebliebenen ist, aber das Arzneimittel mit dieser Indikation in einigen Staaten außerhalb der EU (hier: Schweiz, USA, Kanada) zugelassen ist.
13Die Klägerin legt weder dar, dass der von ihr kritisierten Rspr des Senats in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wurde, noch zeigt sie auf, inwieweit es sich bei den von ihr vorgebrachten Argumenten um neue erhebliche Gesichtspunkte handeln sollte, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen könnten. Sie beruft sich vielmehr maßgeblich auch auf die durch den Senat mit dem Urteil vom (B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6) aufgehobene Entscheidung des Bayerischen - juris). Im Übrigen macht die Klägerin im Kern nur geltend, die Entscheidung des LSG und die Rspr des erkennenden Senats zur Konkretisierung des Anspruchs auf Arzneimittel in Fällen des § 2 Abs 1a SGB V beruhe auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG in der Auslegung durch das BVerfG in seinem Beschluss vom (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5). Die objektivrechtlichen Schutzpflichten des Staates, hier realisiert durch das Arzneimittelzulassungsrecht, und die Grundrechtsberechtigung des einzelnen Leistungsempfängers könnten nicht gegeneinander "ausgespielt" werden.
143. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
154. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.Estelmann Scholz Bockholdt
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2021:280921BB1KR721B0
Fundstelle(n):
VAAAJ-36586