Unterschiedlich beurteilte Schuldfähigkeit eines Angeklagten bei Vorliegen derselben Grunderkrankung und ähnlicher Taten im zeitlichen Zusammenhang
Gesetze: § 267 StPO, § 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB, § 185 StGB, § 240 StGB, § 241 StGB
Instanzenzug: LG Bückeburg Az: 4 KLs 2/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung in zwei Fällen und wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt, ihn von weiteren Anklagevorwürfen freigesprochen sowie seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
21. Nach den Feststellungen des Landgerichts flüchtete die Ehefrau im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit dem Angeklagten, in deren Verlauf er eine Autoscheibe einschlug, zu einer Freundin. Als diese seinen Anruf auf dem Telefon seiner Ehefrau entgegennahm, beleidigte er sie. In weiteren Telefonaten in derselben Nacht drohte er, die Freundin und ihre Kinder zu töten, was diese ernst nahm (Tat 1).
3Seiner Schwiegermutter sandte der Angeklagte einen Monat später eine Sprachnachricht, in der er ankündigte, sich „rächen“ zu wollen und weder Angst davor zu haben, zu sterben, noch davor, jemanden zu töten. Sie solle daher „gut aufpassen“. Auch die Schwiegermutter nahm die Drohung ernst (Tat 2).
4Wenige Tage danach beleidigte der Angeklagte einen Zugbegleiter, nachdem dieser ihn wegen eines fehlenden Fahrausweises aufgefordert hatte, den Zug zu verlassen. Zudem stellte er in Aussicht, dass es für diesen nicht gut ausgehe, wenn man sich wiedersehe, was den Zugbegleiter ängstigte (Tat 3).
5Die herbeigerufenen Polizeibeamten beschimpfte der Angeklagte und drohte einem von ihnen mit den Worten: „Ich habe mir dein Gesicht gemerkt, warte ab.“ (Tat 4).
6An einem anderen Tag verlangte er von einer Geschäftsinhaberin die Kontaktdaten einer Kundin, die ihn am Vortag aufgefordert hatte, „nicht so rumzuschreien“, und kündigte nach ihrer Weigerung an, in einer Stunde wiederzukommen und die Daten dann in Empfang zu nehmen, anderenfalls werde sie „schon sehen…!“ Die Geschäftsinhaberin, die den Angeklagten aus vorangegangenen Streitigkeiten mit seiner Ehefrau kannte, nahm die Drohung ernst und alarmierte die Polizei (Tat 5).
7Auf die am selben Tag von einer Richterin verkündete Entscheidung, den Angeklagten für sechs Wochen in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen, reagierte dieser mit der von ihr ernstgenommenen Drohung: „Wenn Sie mich in eine Klinik bringen, werde ich, bei Allah, Sie und die anderen töten.“ Der Angeklagte weigerte sich, der Anordnung Folge zu leisten, und wehrte sich gegen die ihn ergreifenden Polizeibeamten durch Einsatz erheblicher körperlicher Kraft (Tat 6).
8Ergänzend hat die Strafkammer festgestellt, dass der Angeklagte im Rahmen mehrerer familiärer Auseinandersetzungen im März 2022 seine Ehefrau und im Juni 2022 seine Schwiegermutter schlug. Zudem riss er seiner Ehefrau mehrmals an den Haaren.
9Sachverständig beraten hat die Strafkammer angenommen, dass der Angeklagte an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis oder einer schizoaffektiven Psychose leide. Aufgrund dieser Erkrankung habe er die Taten 1, 2 und 6 im Zustand nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit, die Taten 3 bis 5 im Zustand erheblich verminderter Schuldunfähigkeit begangen.
102. Die Ausführungen der Strafkammer zu der bei den einzelnen Taten unterschiedlich beurteilten Schuldfähigkeit des Angeklagten begegnen durchgreifenden Bedenken. Insoweit erweist sich die Beweiswürdigung als lückenhaft.
11a) Das Tatgericht hat die Schuldfähigkeit des Angeklagten ohne Bindung an die Äußerungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beurteilen. Schließt es sich dem Sachverständigen an, muss es sich grundsätzlich mit dem Gutachteninhalt auseinandersetzen und die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen auf eine für das Revisionsgericht nachprüfbare Weise im Urteil mitteilen (vgl. ; vom – 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165; Beschlüsse vom – 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306; vom – 2 StR 314/15).
12Daran fehlt es. Die Strafkammer hat lediglich ausgeführt, es ergebe sich aus dem Gutachten des Sachverständigen, dass sich der Angeklagte aufgrund eines schizo-manischen Syndroms oder einer schizoaffektiven Psychose zum Zeitpunkt der Begehung der Taten 1, 2 und 6 im Zustand nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit und bei Begehung der Taten 3 bis 5 im Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit befunden habe. Anknüpfungstatsachen hat das Landgericht in diesem Kontext nicht mitgeteilt. Deshalb ist es für den Senat nicht nachvollziehbar, wie und warum die Strafkammer zu ihrer unterschiedlichen Beurteilung kommt. Diese Differenzierung versteht sich im Hinblick auf dieselbe Grunderkrankung und den zeitlichen Zusammenhang der sich ähnelnden Taten auch nicht von selbst.
13b) Davon abgesehen hat die Strafkammer versäumt darzulegen, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung in den konkreten Tatsituationen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. , NStZ-RR 2020, 379, 381; Beschlüsse vom – 1 StR 62/16, NStZ-RR 2016, 239; vom – 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75). Ihre allgemeinen Ausführungen zu den mit der Erkrankung verbundenen „ausgeprägten Störungen der Realitätsprüfung, der Handlungsübersicht, der Kritikfähigkeit, der adäquaten Selbsteinschätzung, des verinnerlichten Wertgefüges und der Impulskontrolle“ genügen insoweit nicht, zumal eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis für sich allein keine dauerhafte Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit zu begründen vermag (vgl. ; Beschlüsse vom – 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39; vom – 5 StR 150/12, NStZ-RR 2012, 239; vom – 4 StR 443/18).
143. Diese Lückenhaftigkeit führt sowohl zur Aufhebung des Frei- als auch des Schuldspruchs. Damit ist der Anordnung der Maßregel die Grundlage entzogen.
15a) Es hindert die Aufhebung des Freispruchs nicht, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dem neuen Tatgericht bleibt es aber verwehrt, erneut die Unterbringung anzuordnen und zugleich wegen der Taten 1, 2 und 6 erstmals Strafen zu verhängen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 229/10, StraFo 2011, 55; vom – 3 StR 349/13, NStZ-RR 2014, 89).
16b) Der Senat kann vor dem Hintergrund der Feststellungen des Landgerichts, der Angeklagte habe bei Begehung aller Taten an derselben Grunderkrankung gelitten, nicht ausschließen, dass es bei rechtsfehlerfreier Würdigung in allen Fällen Schuldunfähigkeit angenommen hätte, so dass der gesamte Schuldspruch der Aufhebung bedarf.
174. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie können um solche ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen.
185. Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
19a) Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung verurteilt hat (Tat 5), tragen die Feststellungen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung nicht.
20b) Sollte das neue Tatgericht wiederum die Anordnung einer Maßregel erwägen, wird es sich näher als bisher geschehen mit den bezüglich des Angeklagten gestellten abweichenden Diagnosen auseinanderzusetzen haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 594/16, BGHR StGB § 63 Anordnung 2; vom – 6 StR 106/20, StV 2021, 292). Zudem wird es sich im Hinblick darauf, dass sich der Angeklagte in einem Trennungskonflikt mit seiner Ehefrau sowie bei der richterlichen Ankündigung der mehrwöchigen Unterbringung in einer Ausnahmesituation befand, mit der Frage zu befassen haben, ob die Taten auch normalpsychologisch zu erklären sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 206/19; vom – 2 StR 372/21; vom – 6 StR 99/22). Schließlich wird es gegebenenfalls eingehender als bisher geschehen zu erörtern haben, ob das Gewicht der festgestellten Taten die Gefährlichkeitsprognose zu tragen vermag.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:090323B6STR22.23.0
Fundstelle(n):
QAAAJ-36579