Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr: Verkehrsspezifische Gefahr durch Steinwürfe
Gesetze: § 315b Abs 1 StGB
Instanzenzug: Az: 534 KLs 1/22
Gründe
1Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Beschuldigten hat Erfolg.
21. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
3a) Die rechtliche Würdigung der Anlasstaten durch das Landgericht ist teilweise rechtsfehlerhaft. Nach den Urteilsfeststellungen warf die Beschuldigte in fünf Fällen jeweils einen Stein gezielt auf fahrende Kraftfahrzeuge, um diese zu beschädigen. In vier dieser Fälle trafen die Steine die Fahrzeuge und beschädigten sie teils erheblich. In einem der Fälle gelangte der Stein durch ein geöffnetes Fahrzeugfenster in das Wageninnere und verfehlte nur knapp den Kopf des Fahrers. Das Landgericht hat diese Fälle rechtlich jeweils als vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB) in Tateinheit mit Sachbeschädigung (§ 303 StGB) - wobei es in einem Fall jeweils beim Versuch blieb - gewertet. Die Annahme gefährlicher Eingriffe in den Straßenverkehr wird von den Feststellungen indes nicht getragen.
4Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB setzt den Eintritt einer verkehrsspezifischen Gefahr und - bei vorsätzlicher Begehung - einen hierauf gerichteten (natürlichen) Tatvorsatz voraus. Erforderlich ist daher in objektiver Hinsicht, dass die eingetretene konkrete Gefahr jedenfalls auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist. Dies ist der Fall, wenn eine der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt hat, in der eines der genannten Individualrechtsgüter im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. , NStZ 2022, 298, 299; Beschluss vom - 4 StR 53/17 Rn. 5 mwN). Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann aber auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung - wie jedenfalls in den Vollendungsfällen hier - unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht (grundlegend , BGHSt 48, 119, 124; vgl. ferner , NStZ 2022, 298, 299; Beschluss vom - 4 StR 21/21 Rn. 6, je mwN). Die vom Landgericht festgestellten Steinwürfe der Beschuldigten erfüllen diese Anforderungen, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, nicht. Denn den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass der (beabsichtigte) Schadenseintritt auf die für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen war.
5Schon dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils. Denn der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer die Anordnung der die Beschuldigte außerordentlich belastenden Maßregel der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt unterlassen oder ihren Vollzug zur Bewährung ausgesetzt hätte, wenn sie den - gewichtigen - Straftatbestand des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in den Fällen II.2.a) bis c) der Urteilsgründe nicht bejaht und insoweit lediglich (versuchte) Sachbeschädigungen sowie daneben eine versuchte gefährliche Körperverletzung (Fall II.2.d) der Urteilsgründe) angenommen hätte.
6b) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf zudem nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat schuldunfähig oder erheblich vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Dabei muss es sich um einen länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekt handeln, der zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen ( mwN). Schließt sich das Gericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit der Einschätzung eines Sachverständigen an, müssen die ihr zugrundeliegenden wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschlüsse vom - 5 StR 74/22; vom - 4 StR 81/21, je mwN).
7Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Nach den Feststellungen und Wertungen der sachverständig beratenen Strafkammer leidet die Beschuldigte unter einer paranoiden Schizophrenie, die sich in Form von „paranoiden Ideen“ und akustischen Halluzinationen zeigt. Daneben liege bei ihr eine Grenzbegabung sowie ein pathologischer Konsum multipler Substanzen vor. Die Anlasstaten stellten sich im Kontext der seit Jahren bestehenden psychischen Störung als „auf Fehlbeurteilung der Realität beruhende krankheitsbedingte Fehlhandlungen“ dar. Bei Begehung der Taten sei die Einsichtsfähigkeit, jedenfalls aber die Steuerungsfähigkeit der Beschuldigten infolge der Erkrankung aufgehoben gewesen. Nach Ansicht des psychiatrischen Sachverständigen, dem das Landgericht gefolgt ist, sei hinsichtlich einer der Taten (Fall II.2.b) der Urteilsgründe) deutlich, dass eine akute psychotische Symptomatik vorgelegen habe und diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auch handlungsleitend gewesen sei; dies werde auch durch klinische Epikrisen vom Tattag sowie vom Vortag der Tat belegt, die akut psychotische Symptome beschrieben. Angesichts der Gleichartigkeit der weiteren Vorfälle gelte diese Einschätzung auch für diese. Zudem deuteten auch die eigenen Angaben der Beschuldigten zum jeweiligen Tatgeschehen auf eine akute psychotische Symptomatik hin.
8Diese Ausführungen belegen bereits die Annahme des Landgerichts, dass die Beschuldigte alle Anlasstaten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe, nicht tragfähig. Die mitgeteilte Diagnose einer paranoiden Schizophrenie führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit und macht die konkretisierende Darlegung, auf welche Weise sich die festgestellte psychische Störung bei der Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat, nicht entbehrlich (, juris Rn. 9 mwN). An einer solchen Darlegung fehlt es hier jedoch. Die äußerst knappe Wiedergabe der Anknüpfungstatsachen, auf die der psychiatrische Sachverständige seine von der Strafkammer geteilte Beurteilung gestützt hat, ermöglicht es dem Senat nicht, dieselbe nachzuvollziehen. So bleiben, worauf der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zu Recht hingewiesen hat, der Inhalt und die Aussagekraft der vom Sachverständigen herangezogenen Epikrisen ebenso unklar wie die Angaben der Beschuldigten zu dem „jeweiligen Tatgeschehen“, welche allein in Bezug auf eine der Taten - in groben Zügen - wiedergegeben, aber auch insoweit keiner eingehenden Würdigung unterzogen werden.
9Zudem ist der erforderliche symptomatische Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Beschuldigten und den Anlasstaten (vgl. mwN) nicht belegt. Denn nachdem der Sachverständige lediglich angenommen hat, dass die akute psychotische Symptomatik der Beschuldigten mit hoher Wahrscheinlichkeit handlungsleitend gewesen sei, hätte es einer beweiswürdigenden Darlegung bedurft, worauf die Strafkammer ihre darüber hinausgehende sichere Überzeugung stützt, dass der krankhafte Zustand der Beschuldigten wenigstens mitursächlich für ihre Taten gewesen sei. Auch diese Darlegung lassen die Urteilsgründe vermissen.
102. Die vom Verteidiger der Beschuldigten beantragte Aufhebung des Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom kommt nicht in Betracht. Die Voraussetzungen einer Entscheidung durch den Senat nach der durch § 126a Abs. 2 Satz 1 StPO angeordneten entsprechenden Anwendung des § 126 Abs. 3 Satz 1 StPO liegen nicht vor, denn aus dem Erfolg der Revision ergibt sich hier nicht ohne weiteres, dass der Unterbringungsbefehl entsprechend § 120 Abs. 1 StPO aufzuheben ist.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:300822B4STR215.22.0
Fundstelle(n):
CAAAJ-36173