BGH Beschluss v. - I ZR 111/21

Subsidiarität von Netzsperren bei Urheberrechtsverletzungen

Gesetze: Art 8 Abs 3 EGRL 29/2001, § 7 Abs 4 S 1 TMG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: I ZR 111/21 Urteilvorgehend Az: 29 U 6933/19 Urteilvorgehend LG München I Az: 21 O 15007/18 Urteil

Gründe

1I. Die Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO ist zulässig, aber nicht begründet. Der Senat hat den Anspruch der Klägerinnen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht verletzt. Auch ein Verstoß gegen ihr Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) liegt - unabhängig von der Frage, ob dies mit der Anhörungsrüge geltend gemacht werden kann - nicht vor.

21. Ohne Erfolg bringen die Klägerinnen vor, der Senat habe ihren Vortrag nicht beachtet, nach dem sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Vereinbarkeit des in § 7 Abs. 4 TMG enthaltenen Subsidiaritätserfordernisses mit Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft nicht ergebe und dieses unter die materiellen Anspruchsvoraussetzungen des Sperranspruchs falle, die zur Vermeidung einer Rechtszersplitterung vollharmonisiert seien. Der Senat habe ein Vorabentscheidungsersuchen abgelehnt, ohne sich mit den Argumenten der Klägerinnen auseinanderzusetzen und auch die von ihnen befürwortete unionsrechtskonforme Auslegung des § 7 Abs. 4 TMG nicht erwogen.

3a) Der Senat hat die Ausführungen der Klägerinnen zur Vereinbarkeit des Subsidiaritätserfordernisses mit dem Unionsrecht erwogen, ist ihrer Rechtsauffassung jedoch nicht gefolgt. Hieraus folgt keine Verletzung ihres Gehörsrechts (vgl. , MarkenR 2022, 493 [juris Rn. 13]). Nach Auffassung des Senats handelt es sich gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zweifelsfrei um eine im nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu regelnde Modalität für eine gerichtliche Anordnung (vgl. , GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 29 bis 32] = WRP 2023, 75 - DNS-Sperre).

4Erstmals mit ihrer Anhörungsrüge machen die Klägerinnen zum Gegenstand ihres Vorbringens, dass die von den Mitgliedstaaten aufgestellten Regeln und ihre Anwendung durch die nationalen Gerichte den Zielen der Urheberrechtsrichtlinie entsprechen und die sich aus ihr ergebenden Beschränkungen beachten müssen (vgl. , Slg. I-2011, 12006 = GRUR 2012, 265 [juris Rn. 33] - Scarlet Extended; Urteil vom - C-314/12, GRUR 2014, 468 [juris Rn. 44] = WRP 2014, 540 - UPC Telekabel Wien; Urteil vom - C-682/18, C-683/18, GRUR 2021, 1054 [juris Rn. 128] = WRP 2021, 1019 - Youtube und Cyando) sowie die tatsächliche Beendigung einer Urheberrechtsverletzung oder eines verwandten Schutzrechts nicht derart verzögert werden darf, dass dem Rechtsinhaber unverhältnismäßige Schäden entstehen (vgl. EuGH, GRUR 2021, 1054 [juris Rn. 141] - Youtube und Cyando). Der Senat hat auch diesen Gesichtspunkt bei seiner Entscheidung berücksichtigt (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 41] - DNS-Sperre).

5b) Die von den Klägerinnen befürwortete unionsrechtskonforme Auslegung, nach der keine überhöhten Anforderungen an die Rechtsinhaber gestellt werden dürften und das Merkmal "keine andere Möglichkeit" in § 7 Abs. 4 Satz 1 TMG so zu lesen sei, dass keine konkrete und zumutbare andere Rechtsschutzmöglichkeit bestehe, hat der Senat vorgenommen. Er hat jedoch festgestellt, dass die Klägerinnen im Streitfall eine konkrete und zumutbare andere Rechtsschutzmöglichkeit nicht ergriffen haben (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 47 bis 56] - DNS-Sperre).

6c) Unabhängig davon, ob mit der Anhörungsrüge auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) wegen eines unterbliebenen Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union gerügt werden kann (offengelassen in , GRUR 2006, 346 [juris Rn. 6] = WRP 2006, 467 - Jeans II; die unmittelbare Anwendbarkeit des § 321a ZPO verneinend , NJW 2011, 1516 [juris Rn. 8]; BeckOK. ZPO/Bacher, 47. Edition [Stand ], § 321a Rn. 21 und 21a), liegt eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Streitfall danach nicht vor.

72. Ebenfalls ohne Erfolg rügen die Klägerinnen, der Senat habe, soweit er eine tatsächliche Vermutung zugunsten des Rechtsinhabers abgelehnt habe, den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt nicht ausgeschöpft.

8a) Ein Gehörsverstoß scheidet schon deswegen aus, weil das Vorbringen der Klägerinnen, die streitgegenständlichen Internetseiten seien strukturell urheberrechtsverletzend, aus rechtlichen Gründen für die Entscheidung des Senats unerheblich gewesen ist. Der Senat hat entschieden, dass an den von der Revision vorgeschlagenen Begriff einer "strukturell urheberrechtsverletzenden Internetseite" kein Satz der alltäglichen Lebenserfahrung geknüpft werden kann (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 36] - DNS-Sperre). Unabhängig davon hat der Senat das Vorbringen berücksichtigt (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 33] - DNS-Sperre).

9b) Soweit die Klägerinnen vortragen, der Senat habe vom Landgericht festgestellten und nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Sachverhalt übergangen, verkennen sie, dass sich das Berufungsgericht die (sinngemäße) Feststellung des Landgerichts, es handle sich um strukturell urheberrechtsverletzende Internetseiten, nicht zu eigen gemacht hat. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte im Berufungsverfahren gerügt, das Landgericht habe Bestreiten der Beklagten unzulässigerweise als unbeachtlich gewertet und eine notwendige Beweisaufnahme unterlassen. Das Berufungsgericht hat das genannte Vorbringen für seine Entscheidung nicht herangezogen und daher nicht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO geprüft, ob konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Landgerichts begründen (vgl. hierzu , NJW 2008, 576 [juris Rn. 27]; Ball in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl., § 559 Rn. 13). Es kann daher nicht angenommen werden, dass das genannte Vorbringen von der allgemeinen Bezugnahme des Berufungsgerichts auf die Feststellungen des Landgerichts abgedeckt ist.

103. Ebenso wenig hat der Senat das Gehörsrecht der Klägerinnen dadurch verletzt, dass er ihren Vortrag, die Zustellung einer einstweiligen Verfügung innerhalb der Europäischen Union führe zu unverhältnismäßigen Verzögerungen, nicht berücksichtigt hätte.

11a) Im Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren haben die Klägerinnen lediglich allgemein vorgetragen, mit einer Inanspruchnahme deutscher Gerichte würden Auslandszustellungen und Übersetzungen mit entsprechend hohem Aufwand erforderlich. Diesen offensichtlichen Umstand hat der Senat erwogen, ist aber zu dem Ergebnis gelangt, dass er der generellen Zumutbarkeit eines Vorgehens im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes innerhalb der Europäischen Union nicht entgegensteht. Bei der konkreten Prüfung der Zumutbarkeit im Streitfall hat der Senat zudem berücksichtigt, dass es sich bei den Klägerinnen um große und international tätige Wissenschaftsverlage handelt (BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 55] - DNS-Sperre).

12b) Soweit die Klägerinnen darauf abstellen, dass in vielen Fällen nur die Zustellung eines übersetzten Schriftstücks sicher Erfolg hat (vgl. Art. 12 Abs. 1 der Verordnung [EU] 2020/1784 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten) und in der Regel die Erstellung einer amtlich beglaubigten Übersetzung beim erlassenden Gericht beantragt wird, verkennen sie zudem, dass es dem Rechtsinhaber offensteht, selbst eine Übersetzung zu erstellen und das Gericht um deren Zustellung zu ersuchen (vgl. , NJW 2021, 1598 [juris Rn. 38, 42 und 44]), soweit es ihm zur Beschleunigung des Verfahrens angezeigt erscheint.

13c) Ebenfalls ohne Erfolg verweisen die Klägerinnen auf ihren Vortrag, es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Betreiber illegaler Webseiten nicht ihre wahren Identitäten angäben und ein Titel bei der mutmaßlichen Betreiberin von "Sci-Hub" nicht vollstreckt werden könne. Der Senat hat diesen Vortrag berücksichtigt (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 33] - DNS-Sperre), ist der Ansicht der Klägerinnen jedoch nicht gefolgt. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass nach Auffassung des Senats nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass beim Host-Provider B.     entweder Name und Anschrift eines bislang noch nicht bekannten Betreibers der Internetdienste oder zumindest eine bislang noch nicht bekannte Anschrift der bereits ermittelten Betreiberin des Internetdienstes "Sci-Hub" hinterlegt ist (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 54] - DNS-Sperre).

14d) Soweit die Klägerinnen rügen, es sei widersprüchlich, dass der Senat gemeint habe, die Klägerinnen hätten ein einstweiliges Verfügungsverfahren durchführen können, zugleich aber angenommen habe, dass inzwischen kein Verfügungsgrund mehr bestehe (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 57] - DNS-Sperre), zeigen sie bereits keine Gehörsrechtsverletzung auf. Unabhängig davon liegt kein Widerspruch vor, weil der Grundsatz des fairen Verfahrens es nicht gebietet, den Klägerinnen durch eine Zurückverweisung die Möglichkeit zu verschaffen, bisher unterbliebene Ermittlungsmaßnahmen erst noch zu veranlassen (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 57] - DNS-Sperre).

154. Der Senat hat das Gehörsrecht der Klägerinnen auch nicht dadurch verletzt, dass er ihren im Berufungsverfahren gestellten neuen Hauptantrag auf Sperrung weiterer, noch nicht benannter Domains als unzulässig angesehen hat (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 4 und 71 bis 73] - DNS-Sperre). Entgegen der Auffassung der Klägerinnen hat der Senat ausgeführt, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerinnen zu ständigem Domainwechsel zu Recht als streitig angesehen hat (vgl. BGH, GRUR 2022, 1812 [juris Rn. 64 bis 66] - DNS-Sperre). Dass das Bestimmtheitserfordernis in bestimmten Fällen hinter das Gebot effektiven Rechtsschutzes zurücktreten kann (vgl. , BGHZ 172, 119 [juris Rn. 48] - Internet-Versteigerung II; Urteil vom - I ZR 80/12, GRUR 2013, 1030 [juris Rn. 21] = WRP 2013, 1348 - File-Hosting-Dienst), ist in die Prüfung des Senats eingeflossen. Würde der neue Hauptantrag der Klägerinnen als hinreichend bestimmt angesehen, könnten sie einen dynamischen Titel erwirken, über dessen Erweiterung sie letztlich selbst entschieden. Dies ginge über eine Inkaufnahme von Unschärfen hinsichtlich der Reichweite des Titels aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes weit hinaus.

16II. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:260123BIZR111.21.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-35897