Aktenanforderungsersuchen eines Landesuntersuchungsausschusses an den Generalbundesanwalt
Leitsatz
1. Hält eine um Amtshilfe ersuchte Stelle in Ausübung ihres Prüfungsrechts, ob sich die durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss angeordnete Beweiserhebung innerhalb des Untersuchungsauftrags hält, Beweismittel zurück, hat sie das substantiiert zu begründen.
2. Bei der Prüfung, ob die angeordnete Beweiserhebung sachlich von dem Untersuchungsauftrag abgedeckt wird, können nur Einwendungen der ersuchten Stelle durchgreifen, aus denen sich klar ergibt, dass das konkrete Beweisthema als ein aliud nicht mehr von dem Untersuchungsgegenstand umfasst wird.
3. Die Bestimmung der Ermittlungstiefe innerhalb des Untersuchungsauftrags ist Sache des Untersuchungsausschusses im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative zum Umfang notwendiger Beweiserhebungen.
Gründe
I
1Der Antragsteller, der Hessische Landtag, begehrt von dem Generalbundesanwalt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Herausgabe von Unterlagen im Zusammenhang mit dem am verübten Terroranschlag in Hanau.
2Mit Beschluss vom hat der Antragsteller einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Dieser soll Handeln und mögliches Unterlassen der Hessischen Landesregierung sowie ihrer nachgeordneten Behörden aufklären, das im Zusammenhang mit dem rassistischen Anschlag von Hanau steht oder stehen könnte. Dadurch sollen sich Hinweise auf einen möglichen Veränderungsbedarf bestehender Strukturen der hessischen Sicherheitsbehörden und entsprechende Handlungsempfehlungen ergeben. Dazu hat der Landtag zehn den Untersuchungsauftrag konkretisierende Fragestellungen zu Versäumnissen der Verwaltung im Vorfeld, während der Begehung oder im Nachgang der Tat sowie zu Problemen in den verwaltungsinternen Abläufen und zu Defiziten der bestehenden Strukturen formuliert.
3Der Untersuchungsausschuss hat am beschlossen, im Wege der Amts- bzw. Rechtshilfe Akten und Dokumente beizuziehen, die sich u. a. im Gewahrsam des für die strafrechtlichen Ermittlungen zuständigen Generalbundesanwalts befinden. Daraufhin ersuchte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses den Generalbundesanwalt mit Schreiben vom um die Übermittlung sämtlicher Akten, Schriftstücke und Ausdrucke elektronischer Speichermedien der Generalbundesanwaltschaft, die aufgrund oder im Zusammenhang mit den im Einsetzungsbeschluss benannten Vorgängen bis zum Tag der Beschlussfassung über die Einsetzung des Untersuchungsausschusses angelegt und gefertigt wurden; die zeitliche Begrenzung wurde mit Beschluss vom fallen gelassen.
4Am hat der Generalbundesanwalt dem Untersuchungsausschuss 79 Aktenordner mit zum Teil geschwärztem Inhalt übersandt. Auf Remonstration des Ausschusses hat er zuletzt nur noch Informationen und Bilder geschwärzt, die seiner Auffassung nach den Kernbereich der Persönlichkeitssphäre der Anschlagsopfer und ihrer Angehörigen betreffen (u. a. Bilder der Leichen und Obduktionen, Obduktionsbefunde, Arztberichte von Verletzten und deren Krankenakten mit Ausnahme der Informationen zum Tatgeschehen). Geschwärzt seien in den Obduktionsberichten die Feststellungen zur Ganzkörper-CT-Untersuchung des Leichnams, Angaben zur äußeren und inneren Besichtigung des Leichnams, die Sektionsbefunde, das im Obduktionsbericht enthaltene vorläufige Gutachten und die bei der Sektion zurückbehaltenen Asservate, mit Ausnahme der den Leichnamen entnommenen, der Polizei übergebenen Projektile. In den toxikologischen Gutachten seien die Feststellungen bezüglich des Obduktionsbefunds (Todesursache), des analysierten Untersuchungsmaterials (Mageninhalt, Herzblut, Urin, Gehirn und Lunge), der Untersuchung und Bewertung der Testergebnisse sowie die Zusammenfassung geschwärzt. Diese Feststellungen enthielten Angaben über eine ggf. erfolgte Einnahme von Alkohol, Arznei- und Betäubungsmitteln und erlaubten - wie die Ergebnisse der Blut- und Urinalkoholkonzentration - Rückschlüsse auf Trinkgewohnheiten, Vorerkrankungen und den Konsum von Betäubungsmitteln.
5Hinsichtlich des getöteten Tatverdächtigen sei ebenso verfahren worden. Jedoch sei die Gesamtbewertung des toxikologischen Gutachtens ungeschwärzt, derzufolge sich keine Hinweise auf die Aufnahme relevanter Mengen an Alkohol, Arznei- und Betäubungsmitteln oder sonstiger Noxen ergeben hätten. Die 20 Jahre alte, anlässlich einer Unterbringung in ein Bezirkskrankenhaus angelegte Krankenakte des Tatverdächtigen wurde vollständig geschwärzt.
6Aus dem Gutachten des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Prof. S. vom seien lediglich Schilderungen von Erkrankungen der verstorbenen Mutter des Täters, Wiedergaben aus dessen Krankenunterlagen, Beschreibungen von Videos des Täters bei sexuellen Handlungen, Schilderungen bezüglich der im Anschluss an die Tat erfolgten ärztlichen Behandlung des Vaters sowie Angaben des Hausarztes der Familie R. unkenntlich gemacht worden.
7Mit seinem beim Bundesverwaltungsgericht gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Antragsteller,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, folgende vom Generalbundesanwalt geführte Akten dem Untersuchungsausschuss 20/2 des Antragstellers ohne Schwärzungen zu übermitteln:
hilfsweise, den Antragsteller zu verpflichten, den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses 20/2 des Antragstellers Einsicht in die genannten ungeschwärzten Akten in Räumen des Generalbundesanwalts zu gewähren.
8Zur Begründung führt er im Wesentlichen an, der Anordnungsanspruch ergebe sich aus Art. 35 Abs. 1 GG. Durch den Tatort sei der föderale Bezug zum Land Hessen gegeben. Die angeforderten Akten könnten offenkundig zur Erfüllung des Untersuchungsauftrags beitragen. Die von der Antragsgegnerin vorgetragenen Verweigerungsgründe, insbesondere der postmortale Persönlichkeitsschutz, erwiesen sich nicht als tragfähig. Im Übrigen sei im vorliegenden Verfahren - wie im verfassungsrechtlichen Organstreitverfahren - ein Nachschieben von Gründen für die Weigerung der Aktenvorlage in ungeschwärzter Fassung unzulässig.
9Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
10Sie trägt im Kern vor, das Begehren des Antragstellers sei nicht vom Untersuchungsauftrag gedeckt. Die streitgegenständlichen Aktenbestandteile würden zur Aufklärung potentieller Versäumnisse hessischer Behörden nicht benötigt. Mit Blick auf den Untersuchungsauftrag sei die Sachdienlichkeit der Obduktionsberichte, Alkohol- und toxikologischen Untersuchungen in ungeschwärzter Fassung nicht erkennbar. Die vom Antragsteller angeführte "Aufklärung des Gesamtgeschehens" und "umfassende Aufklärung des Sachverhalts" seien mangels Bezugs zu parlamentarischen Aufgabenstellungen nicht Gegenstand des Untersuchungsauftrags. Auch die in der 20 Jahre alten Krankenakte sowie dem Gutachten von Prof. S. enthaltenen Informationen besäßen keine erkennbare Relevanz für die Aufklärung etwaiger Versäumnisse hessischer Behörden.
11Zudem stünde der offenen Vorlage der geschwärzten Aktenbestandteile der streng persönliche Charakter der betreffenden Daten und Abbildungen entgegen, deren Offenlegung gegenüber dem Untersuchungsausschuss für die Betroffenen unzumutbar wäre bzw. dem postmortalen Persönlichkeitsschutz widerspräche. Denn die detaillierten Beschreibungen gäben nicht nur Aufschluss über den Gesundheitszustand der Betroffenen, sondern ermöglichten sehr weitgehende Rückschlüsse auf deren Lebensführung, Ernährungs- und Trinkgewohnheiten sowie den Konsum von Betäubungsmitteln. Auch wenn die Schutzwirkungen des postmortalen Persönlichkeitsschutzes und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht identisch seien, eröffne die Zuordnung von Informationen zum Bereich "streng persönlicher Informationen" den objektivrechtlichen Garantiebereich der Menschenwürde mit entsprechender postmortaler Schutzwirkung, wenn sich die Informationen auf die besonders geschützte Privat- und Intimsphäre bezögen. Der Verweis auf Geheimschutzmöglichkeiten greife zu kurz, weil es vorliegend nicht (allein) um die Gefahr der Veröffentlichung der geschwärzten Informationen gehe, sondern diese wegen ihres streng persönlichen Charakters bereits der Kenntnisnahme durch die Mitglieder des Untersuchungsausschusses entzogen seien. Dem Antragsteller seien die Gründe für die Schwärzungen sowohl schriftlich als auch mündlich erläutert worden. Anders als im verfassungsrechtlichen Organstreitverfahren könnten Gründe im gerichtlichen Verfahren nachgeschoben werden, da das Verfahren nicht auf einen Feststellungsausspruch begrenzt sei.
12Darauf repliziert der Antragsteller, es sei der Antragsgegnerin verwehrt, ihre eigene Beurteilung der Untersuchungsrelevanz an die Stelle derjenigen des Untersuchungsausschusses zu setzen. Letzterem komme eine Einschätzungsprärogative zu, die Untersuchungsrelevanz von Beweisthemen eigenverantwortlich zu beurteilen. Die Antragsgegnerin könne eine Aktenvorlage lediglich bei evidenter Überschreitung des durch den Einsetzungsbeschluss fixierten Untersuchungsrahmens verweigern. Das sei hier aber nicht der Fall. Denn die geschwärzten toxikologischen Untersuchungsberichte seien potentiell aussagekräftig, ob und mit welcher Reaktionsfähigkeit den getöteten Opfern eine Flucht durch einen unverschlossenen Notausgang der Bar überhaupt möglich gewesen wäre. Die Frage, ob die Gewerbeaufsicht eine Verantwortung dafür treffe, dass der Notausgang verschlossen gewesen sei, sei Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Auch für die Bewertung der polizeilichen Reaktionszeit sei die Beurteilung realer Fluchtmöglichkeiten der Opfer notwendig. Im Übrigen ließen sich mögliche Fehler von Behörden erst dann hinreichend sicher beurteilen, wenn die Akten vollständig vorgelegt worden seien.
13Untersuchungsausschüsse seien zwar vornehmlich ein Instrument, um die parlamentarische Verantwortung der Regierung durch Kontrolle zu aktualisieren, seien aber hierauf nicht von vornherein beschränkt. Sie könnten auch andere Missstände aufklären, wenn hierfür ein öffentliches Interesse bestehe.
II
14Der Antrag, für dessen Entscheidung der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und das Bundesverwaltungsgericht nach § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zuständig ist (1.), erweist sich als zulässig und im Wesentlichen als begründet (2.).
151. Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist eröffnet und das Bundesverwaltungsgericht ist sachlich zuständig.
16a) Es handelt sich um eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit i. S. v. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, da der geltend gemachte Anspruch nicht im verfassungsrechtlichen Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern im einfachen öffentlichen Recht wurzelt. Begehrt ein Untersuchungsausschuss eines Landesparlaments gegenüber einer Bundesbehörde zum Zwecke der Beweiserhebung, dass ihm bestimmte Materialien zugänglich gemacht werden, kann er sich auf den allgemeinen Anspruch auf Gewährung von Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG stützen. Zwar ergibt sich dieser Anspruch aus der Verfassung, aber Art. 35 Abs. 1 GG sagt nichts über den Umfang der Verpflichtung zur Amtshilfe aus, insbesondere nichts darüber, inwieweit aus einfachem Recht oder dem Grundgesetz Schranken der Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand herzuleiten sind (vgl. 6 C 99.67 - BVerwGE 38, 336 <340> und vom - 2 C 15.74 - BVerwGE 50, 301 <310>). Art. 35 Abs. 1 GG erweist sich deshalb als eine auf das Grundsätzliche beschränkte Bestimmung, die im besonderen Maß der Ausfüllung durch das einfache Recht bedarf. Eine Konkretisierung erfährt sie insbesondere durch die Regelungen der Amtshilfe in §§ 4 bis 8 VwVfG. Der Streit wurzelt daher entscheidend im Verwaltungs- und nicht im Verfassungsrecht ( 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art 28 GG Nr. 176 Rn. 15).
17b) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern. Die Vorschrift ist eng auszulegen und soll von den allgemein geltenden Zuständigkeitsregeln nur solche Streitigkeiten ausnehmen, die in ihrer Eigenart gerade durch die Beziehung zwischen Bund und Land geprägt sind und sich ihrem Gegenstand nach einem Vergleich mit landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entziehen. Dies trifft jedenfalls in den Fällen zu, in denen über die Abgrenzung der beiderseitigen Hoheitsbefugnisse und der Rechtsstellung zueinander zu entscheiden ist ( 2 VR 1.99 - BVerwGE 109, 258 <261> m. w. N.). Das ist hier der Fall. Die Beteiligten streiten über die Reichweite der Amtshilfepflicht und damit über die Abgrenzung ihrer beiderseitigen Hoheitsbefugnisse im Rahmen einer grundsätzlich zu leistenden Amtshilfe (BVerwG, Beschlüsse vom - 6 A 1.11 - Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 305 Rn. 12 und vom - 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 16).
182. Der zulässige Antrag ist überwiegend begründet. Die Begehren stehen in tatsächlichem Zusammenhang und können deshalb gemäß § 44 VwGO in einem Verfahren verfolgt werden. Der Antragsteller hat hinsichtlich der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage der meisten Beweismittel sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
19a) Der geltend gemachte Anordnungsgrund der Rechtsvereitelung ist glaubhaft. Zwar nimmt der Antrag nach § 123 VwGO die Hauptsache vorweg. Aber die Eilbedürftigkeit des verfolgten Begehrens ergibt sich aus der Bedeutung des Untersuchungsrechts von Untersuchungsausschüssen in der parlamentarischen Demokratie vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Diskontinuität des Parlaments (dazu ausführlich: 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 26 f.).
20b) Der Antragsteller hat hinsichtlich der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage der Beweismittel mit Ausnahme der personenbezogenen Daten des Vaters des Täters, die dessen erst im Anschluss an die Tat erfolgte ärztliche Behandlung betreffen, den sich aus Art. 35 GG i. V. m. §§ 4 ff. VwVfG ergebenden Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Danach ist die Antragsgegnerin - worüber der Senat ohne Einschränkung seiner gerichtlichen Kognitionsbefugnis zu entscheiden hat - zur Vorlage der ungeschwärzten Dokumente und Bilder der Opfer des Anschlags sowie des Täters im Wege der Amtshilfe verpflichtet; ihre dagegen gerichteten Einwendungen erweisen sich als unbegründet.
21aa) Verwaltungsgerichte sind nicht daran gehindert, Tatsachen- und Rechtsvortrag eines Beteiligten auch dann bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, wenn dieser erstmals im gerichtlichen Verfahren erfolgt; vielmehr sind sie dazu grundsätzlich verpflichtet. Einschränkungen dieser Pflicht, die sich für den Vortrag von Tatsachen aus § 86 Abs. 1 VwGO und im Hinblick auf rechtliche Ausführungen aus dem Grundsatz iura novit curia ableitet, sieht das allgemeine Prozessrecht in § 87b Abs. 3, § 114 Satz 2, §§ 128a, 133 Abs. 3 Satz 3 und § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO vor. Der Annahme des Antragstellers, ein Nachschieben von Gründen sei auch in dem hier vorliegenden Verfahren in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ( - BVerfGE 147, 50 Rn. 259 m. w. N.) ausgeschlossen, folgt der Senat nicht. Denn der Rechtsschutz durch Verwaltungsgerichte geht - anders als der auf einen Feststellungsausspruch begrenzte Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht (§ 67 Satz 1 BVerfGG) - über die Feststellung rechtswidrigen Behördenverhaltens hinaus. Feststellungsbegehren sind zudem im Verwaltungsprozessrecht gegenüber Leistungsklagen subsidiär (§ 43 Abs. 2 VwGO). Ein Verpflichtungs- oder Leistungsausspruch ist aber wegen der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) - abgesehen von prozessrechtlichen Sonderregelungen - nur möglich, wenn die ausgeurteilte Verpflichtung dem im gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt geltenden Recht entspricht. Daher bedarf jede Präklusion des Vorbringens eines Beteiligten einer verwaltungsprozessrechtlichen Regelung, die der Gesetzgeber in Fällen der vorliegenden Art nicht vorgesehen hat.
22bb) Die prinzipielle Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage der vom Antragsteller bezeichneten Akten des Generalbundesanwalts in ungeschwärzter Form ergibt sich aus Art. 35 GG i. V. m. §§ 4 ff. VwVfG. Denn eine Behörde, zu der auch ein Untersuchungsausschuss zählt ( 6 A 1.11 - Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 305 Rn. 7), kann gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG um Amtshilfe ersuchen, wenn sie zur Durchführung ihrer Aufgaben Urkunden oder sonstige Beweismittel benötigt, die sich im Besitz der ersuchten Behörde befinden. Zur Aufklärung von Missständen, Versäumnissen oder Rechtsverstößen im Bereich der Landesverwaltung kann es auch sachdienlich sein, auf Unterlagen von Bundesbehörden als Beweismittel zurückzugreifen ( 2 VR 1.99 - BVerwGE 109, 258 <266 f.> m. w. N.). Ersucht eine Stelle eines Landes eine Bundesbehörde um Amtshilfe, richten sich Zulässigkeit und Grenzen der Amtshilfeleistung gemäß den insoweit übereinstimmenden Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder (§ 7 Abs. 1 und 2 VwVfG) nach den für die ersuchte Behörde maßgeblichen Regelungen ( 6 C 10.17 - BVerwGE 162, 296 Rn. 20).
23cc) Die formellen Voraussetzungen für die Entstehung der Amtshilfepflicht der Antragsgegnerin liegen vor; das wird von ihr auch nicht infrage gestellt. Das an den Generalbundesanwalt gerichtete Schreiben des Ausschussvorsitzenden vom wird den an ein Amtshilfeersuchen zu stellenden Anforderungen gerecht. Auch der in § 5 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG genannte Grund für ein Amtshilfeersuchen ist gegeben. Der Antragsteller vermag sich gegenüber der Antragsgegnerin zudem auf sein Beweiserhebungsrecht aus § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Hessischen Landtags (Hessisches Untersuchungsausschussgesetz - HUAG) vom (GVBl. HE S. 222) zu berufen. Nach dieser Vorschrift erhebt der Untersuchungsausschuss die durch den Untersuchungsauftrag gebotenen Beweise aufgrund von Beweisbeschlüssen. Hier hat der Untersuchungsausschuss am und entsprechende Beweisbeschlüsse gefasst.
24dd) Der dem Untersuchungsausschuss vom Landtag vorgegebene Untersuchungsauftrag genügt den rechtlichen Anforderungen (vgl. zur gerichtlichen Prüfungsdichte: 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 33 ff.). Der im Einsetzungsbeschluss des Hessischen Landtags vom definierte Untersuchungsauftrag, das Handeln und mögliche Unterlassen der Hessischen Landesregierung sowie ihrer nachgeordneten Behörden im Zusammenhang mit dem Anschlag von Hanau aufzuklären, ist von öffentlichem Interesse. Jedenfalls in der Zusammenschau mit den zehn Fragestellungen, die den Untersuchungsauftrag zu Versäumnissen der Verwaltung im Vorfeld, während der Begehung oder im Nachgang der Tat und zu Problemen in verwaltungsinternen Abläufen sowie zu Defiziten bestehender Strukturen näher konkretisieren, erweist sich der Untersuchungsauftrag als hinreichend bestimmt. Angesichts der Fokussierung auf die bestehenden Strukturen der hessischen Sicherheitsbehörden wahrt der Untersuchungsauftrag die bundesstaatlichen Kompetenzgrenzen (vgl. 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 37 m. w. N.).
25ee) Die begehrte Beweiserhebung des Untersuchungsausschusses 20/2 durch Einsichtnahme in die vom Generalbundesanwalt in ungeschwärzter Form vorzulegenden Akten wahrt den Rahmen des Untersuchungsauftrags in föderaler und sachlicher Hinsicht. Die gegen den letztgenannten Aspekt gerichteten Einwendungen der Antragsgegnerin verkennen die Reichweite des ihr als ersuchte Stelle insoweit eingeräumten Prüfungsrechts (vgl. - BVerfGE 124, 78 <118 f.>).
26(1) Das Begehren des Antragstellers wahrt die aus dem Bundesstaatsprinzip abzuleitenden Grenzen des Beweiserhebungsrechts. Fordert ein Landesuntersuchungsausschuss von einer Bundesbehörde Beweismittel an, müssen diese nötig oder zumindest sachdienlich sein können, um den im Rahmen des zulässigen Untersuchungsgegenstandes zu prüfenden Sachverhalt erschöpfend aufzuklären. Die Beweiserhebung darf nicht darauf abzielen, zu einer Aufdeckung und Bewertung der Arbeitsweise und von Vorgängen bei Bundesbehörden zu führen. Als sachdienlich anzuerkennen sind im vorliegenden Fall demzufolge Beweismittel, welche Erkenntnisse beinhalten, die zur Feststellung geeignet sind, ob Hessische Behörden Fehler oder Versäumnisse im Zusammenhang mit dem Anschlag in Hanau anzulasten sind. Das sind nicht nur Dokumente, die von Hessischen Stellen stammen oder an diese als Adressaten gerichtet sind. Über dieses formale Kriterium hinaus reicht ein inhaltlicher Bezug zum Ermittlungsvorgehen von Hessischen Behörden aus. Mit Blick auf die gebotene Effizienz parlamentarischer Kontrolle und das Vertrauen, das sich die Glieder des Bundesstaates gegenseitig schulden, ist in Zweifelsfällen großzügig zu verfahren. Denn selbst wenn Beweismittel in überschießendem Umfang vorgelegt würden, die (auch) eine Beurteilung des Verhaltens von Bundes- oder Landesbehörden anderer Bundesländer zuließen, wäre einem Landesuntersuchungsausschuss eine solche Bewertung aus Kompetenzgründen untersagt ( 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 40).
27(2) Die angeordnete Beweiserhebung durch Aktenvorlage in ungeschwärzter Form hält sich auch sachlich innerhalb des Untersuchungsauftrags. Gemäß Art. 92 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Hessen (Hessische Verfassung - HV) vom (GVBl. HE S. 229), zuletzt geändert durch Gesetz vom (GVBl. HE S. 752) erheben die Untersuchungsausschüsse in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Deutlicher als in § 14 Abs. 1 HUAG kommt in dieser Bestimmung der Hessischen Verfassung zum Ausdruck, dass Untersuchungsausschüsse über einen Einschätzungsspielraum verfügen, frei vom Einfluss anderer Staatsorgane selbst darüber zu befinden, welche Beweiserhebungen sie zur Aufklärung des Sachverhalts als notwendig erachten ( - BVerfGE 67, 100 <128>; BVerwG, Beschlüsse vom - 2 VR 1.99 - BVerwGE 109, 258 <266> und vom - 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 31). Das Untersuchungsverfahren dient - anders als ein auf eine konkrete Tat und individuelle Schuld fokussierender Strafprozess - der Aufklärung eines Sachverhalts zu politischen Zwecken. Die einzelne Beweiserhebung muss daher nicht auf bestimmte Tatsachen bezogen sein, sondern kann darauf abzielen, zunächst "Licht ins Dunkel" eines Untersuchungskomplexes zu bringen, um auf diese Weise die Aufklärung von politischen Verantwortlichkeiten zu ermöglichen. Bei einem Ersuchen auf Aktenvorlage muss deshalb nicht bereits feststehen, dass die Unterlagen auch tatsächlich entscheidungserhebliches Material oder entsprechende Beweismittel enthalten. Es reicht aus, wenn sie Hinweise hierauf geben könnten ( - BVerfGE 124, 78 <116 f.>). Das ist hier der Fall.
28Wenn die Antragsgegnerin dem entgegenhält, die Übermittlung der ungeschwärzten Aktenbestandteile überschreite den Untersuchungsauftrag des Ausschusses, da der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe, dass die Kenntnis der bislang geschwärzten Passagen zur Erfüllung seines Untersuchungsauftrags überhaupt nötig oder zumindest sachdienlich wäre, geht das fehl. Die dafür von ihr angeführten Belege betreffen die - im Übrigen genau umgekehrt verteilten - Darlegungslasten, die der beschließende Senat mit Blick auf die Grenzen des Beweiserhebungsrechts eines Landesuntersuchungsausschusses entwickelt hat, die sich aus dem Bundesstaatsprinzip ergeben ( 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 40 f.; dazu oben unter (1)).
29Hinsichtlich der Frage, ob die angeordnete Beweiserhebung sachlich von dem Untersuchungsauftrag abgedeckt wird, können im Rahmen ihrer Obliegenheit zu substantiiertem Vortrag nur Einwendungen der ersuchten Stelle durchgreifen, aus denen sich klar ergibt, dass das konkrete Beweisthema als ein aliud nicht mehr von dem Untersuchungsgegenstand umfasst wird. Das lässt sich dem Vorbringen der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall nicht entnehmen. Denn die Bestimmung der Ermittlungstiefe innerhalb des - von dem Begehren des Antragstellers gewahrten - Untersuchungsauftrags ist Sache des Untersuchungsausschusses im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative zum Umfang notwendiger Beweiserhebungen. Das entspricht der Funktion eines mit einer autonomen Beweiserhebungskompetenz ausgestatteten Untersuchungsausschusses als eines effektiven Instruments zur Sicherung der parlamentarischen Verantwortung der Regierung. Die Grenzen des Beweiserhebungsrechts sind mit Blick auf den Untersuchungsauftrag und die diesen konkretisierenden Fragestellungen nicht überschritten.
30(3) Der von der Antragsgegnerin zudem betonte streng persönliche Charakter der betreffenden Daten und Abbildungen sowie der postmortale Persönlichkeitsschutz der Opfer stehen der begehrten Einsichtnahme des Untersuchungsausschusses in die vom Generalbundesanwalt in ungeschwärzter Form vorzulegenden Akten nicht entgegen. Etwas anderes ergibt sich hinsichtlich der in dem Gutachten von Prof. S. enthaltenen personenbezogenen Daten des Vaters von T. R., soweit sie dessen erst im Anschluss an die Tat erfolgte ärztliche Behandlung betreffen.
31Parlamentarische Untersuchungsausschüsse üben öffentliche Gewalt aus und haben gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte zu beachten. Deshalb können insbesondere die Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu einer Einschränkung des Beweiserhebungsrechts führen ( - BVerfGE 67, 100 <142 ff.>; 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 51).
32<1> Mit Blick auf die Daten und Bilder der getöteten Opfer endet die aller staatlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 1 GG auferlegte Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde nicht mit dem Tod einer Person ( - BVerfGE 30, 173 <194>). Der postmortale Persönlichkeitsschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG erfasst aber - im Unterschied zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des lebenden Menschen - zum einen nur den allgemeinen Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht und den Verstorbenen insbesondere davor bewahrt, herabgewürdigt oder erniedrigt zu werden. Zum anderen erstreckt er sich auf den sittlichen, personalen und sozialen Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat, und schützt vor einer "Verfälschung" des Lebensbildes ( 7 C 24.15 - BVerwGE 159, 194 Rn. 53 m. w. N.; Beschluss vom - 6 A 3.20 - DVBl. 2021, 588 Rn. 14). Beide Ausprägungen des postmortalen Persönlichkeitsschutzes werden durch die Offenlegung der geschwärzten Daten und Bilder der Verstorbenen gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht berührt.
33Art. 1 Abs. 1 GG bezieht auch den konkreten Leichnam als Hülle der verstorbenen Person in seine Schutzpflicht mit ein, der nicht wie beliebige Materie behandelt werden darf ( 4 CS 03.462 - NJW 2003, 1618 <1620>). Wenn aber die Leichenöffnung zur Feststellung der Todesursache den Toten in seinem allgemeinen Achtungsanspruch weder herabwürdigt noch erniedrigt ( - NJW 1994, 783 <784>), vermag Art. 1 Abs. 1 GG unter diesem Aspekt keinen weitergehenden Schutz vor der Beweiserhebung eines Untersuchungsausschusses durch Einsichtnahme in Daten und Bilder aus der Leichenschau bzw. die Krankenakten Verstorbener zu vermitteln.
34Auch wenn der höchstpersönliche Charakter der Bilder und Daten der getöteten Opfer und des Täters einer Kenntnisnahme durch die Mitglieder des Untersuchungsausschusses nicht entgegensteht, hat der Untersuchungsausschuss beim Umgang mit Informationen und Daten aus dem Intimbereich auch verstorbener Personen den Geheimschutz zu wahren. Dazu vermittelt das Regelungsregime in § 12 und § 13 HUAG ein ausreichendes Instrumentarium. Dass auch die Beobachtung von Vorschriften zur Wahrung von Dienstgeheimnissen deren Bekanntwerden nicht immer auszuschließen vermag, steht dem nicht entgegen, denn diese Tatsache betrifft alle drei Gewalten ( 6 VR 2.19 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 47 m. w. N.).
35<2> Hinsichtlich der in dem Gutachten von Prof. S. enthaltenen personenbezogenen Daten des Vaters von T. R., Herrn H. R., die dessen erst nach der Tat erfolgte medizinische Behandlung betreffen, ist der Anordnungsanspruch hingegen nicht glaubhaft gemacht. Insoweit fällt die von dem Gericht im Verfahren nach § 123 VwGO anzustellende Abwägung unter Berücksichtigung der derzeitigen Einschätzung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zulasten des Antragstellers aus.
36Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (grundlegend: u. a. - BVerfGE 65, 1 <42 ff.>). Dabei genießen personenbezogene Gesundheitsdaten, z. B. über ärztliche Behandlungen in Krankenunterlagen, die die Privat- und Intimsphäre des Individuums betreffen, aufgrund ihrer Sensibilität einen besonderen Schutz (vgl. - NJW 2006, 1116 Rn. 26 m. w. N.). Zwischen dem verfassungsrechtlich verbürgten Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und dem damit kollidierenden grundrechtlich gewährleisteten Datenschutz des betroffenen Individuums ist im konkreten Einzelfall ein Ausgleich im Wege praktischer Konkordanz herzustellen ( - BVerfGE 156, 270 Rn. 94).
37Hinsichtlich der geschwärzten Aussagen im Gutachten von Prof. S. zu Herrn H. R., die dessen ärztliche Behandlung im Anschluss an die Tat betreffen, ist bei der Herstellung praktischer Konkordanz mit dem Untersuchungsauftrag des Antragstellers die hohe Sensibilität jener Gesundheitsdaten zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass diese Daten erst bei der ärztlichen Behandlung im Anschluss an die Tat entstanden sind. Insoweit ist weder vorgetragen noch drängt es sich auf, dass Informationen zu einer erst nach der Tat erfolgten medizinischen Behandlung des Vaters des Täters dem Antragsteller weiteren Aufschluss im Rahmen seines Untersuchungsauftrags geben könnten. Deshalb fällt die von dem Gericht im Verfahren nach § 123 VwGO anzustellende Abwägung unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die Aussagekraft dieser personenbezogenen Daten für den Untersuchungsauftrag des Antragstellers nur in einem Hauptsacheverfahren aufklären lässt, zulasten des Antragstellers aus.
383. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der Streitwert bestimmt sich nach § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:270123B6VR2.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 1757 Nr. 24
AAAAJ-34276