BGH Beschluss v. - 4 StR 62/22

Vergewaltigungsvorwurf: Beweiserwägungen zur Aussagekonstanz bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

Gesetze: § 261 StPO, § 337 Abs 1 StPO, § 177 Abs 1 StGB, § 177 Abs 5 Nr 1 StGB, § 177 Abs 6 S 2 Nr 1 StGB

Instanzenzug: LG Siegen Az: 21 KLs 10/19

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Vergewaltigung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

21. Nach den Feststellungen führten der Angeklagte und die Nebenklägerin seit Ende des Jahres 2015 eine „On-Off-Beziehung“ mit mehreren Trennungen und anschließenden Versöhnungen, aus der eine im November 2016 geborene Tochter hervorgegangen ist.

3a) Kurz nachdem sich die Nebenklägerin wegen zunehmender Gewalttätigkeiten des Angeklagten von ihm getrennt hatte, verschaffte sich dieser in der Nacht vom 24. auf den Zutritt zu ihrer Wohnung. Dort legte er die sich dagegen wehrende Nebenklägerin auf das Sofa, zog sie aus, setzte sich auf sie, drückte mit einer Hand ihren Hals und drang gleichzeitig mit seinem Glied vaginal in sie ein. Der wiederholten Aufforderung der Nebenklägerin aufzuhören, kam der Angeklagte nicht nach, sondern ließ erst von ihr ab, nachdem er zum Samenerguss gekommen war.

4b) Etwa ein halbes Jahr später Mitte Juni 2018 suchte der Angeklagte die Nebenklägerin an einem Abend in ihrer neuen Wohnung auf. Die Nebenklägerin forderte ihn auf zu gehen, sonst würde sie die Polizei rufen. Der Angeklagte kam dieser Aufforderung nicht nach, sondern kniete sich vor sie hin und versuchte, ihr die Unterhose auszuziehen. Als sie zurücktrat, ergriff er sie und würgte sie, so dass sie kurzzeitig ohnmächtig wurde. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, saß der Angeklagte auf ihr. Sie sagte zu ihm, sie sei kurzzeitig „weg“ gewesen und er erwiderte, dass er das wisse und hielt sie weiter fest. Sodann riss sich die Nebenklägerin los und versuchte wegzugehen. Der Angeklagte folgte ihr, hielt sie fest und drang mit seinem Penis vaginal in sie ein. Dabei sagte sie immer wieder, dass sie das nicht wolle, was der Angeklagte auch verstand, sich aber darüber hinwegsetzte. Ob der Anklagte auch dieses Mal zu einem Samenerguss kam, konnte die Strafkammer nicht aufklären.

52. Der Angeklagte hat die Taten bestritten und angegeben, es sei ihm in beiden Fällen lediglich darum gegangen, die Nebenklägerin wegen des Fortbestandes ihrer Beziehung oder der Regelung des Umgangs mit der gemeinsamen Tochter zur Rede zu stellen. Das Landgericht hat die Verurteilung jeweils auf die für glaubhaft erachtete Aussage der Nebenklägerin gestützt.

II.

6Die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur , BGHSt 29, 18, 20 f. mwN; Franke in LR-StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 117 ff. mwN) – durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.

71. In Fällen, in denen – wie hier – „Aussage gegen Aussage“ steht, ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht vorzunehmen (vgl. Rn. 3; Beschluss vom – 2 StR 235/16 Rn. 16). Erforderlich sind vor allem eine sorgfältige Inhaltsanalyse, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (st. Rspr.; vgl. , NStZ 2022, 372 Rn. 36; Urteil vom – 1 StR 299/20 Rn. 8; Beschluss vom ‒ 2 StR 7/20 Rn. 4 mwN).

82. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht, weil die Beweiserwägungen zur Aussagekonstanz nicht nachvollziehbar und lückenhaft sind.

9a) Das Landgericht hat die Aussagen der Nebenklägerin als sowohl zum Rand- wie zum Kerngeschehen widersprüchlich und teilweise wenig detailreich beschrieben, ist ihnen aber gleichwohl gefolgt, weil sie im festgestellten Umfang konstant und die Abweichungen nachvollziehbar seien.

10aa) Zur Tat in der Weihnachtsnacht 2017 habe die Nebenklägerin in der polizeilichen Vernehmung vom und in der Exploration gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen im Wesentlichen übereinstimmend angegeben, dass sie von dem Angeklagten auf den Arm genommen, auf die Couch gelegt und an den Hals „gepackt“ worden sei. Dann habe sie der Angeklagte ausgezogen, „überall“ „geleckt“ und sei in sie eingedrungen. Davon wichen die Bekundungen in der Hauptverhandlung zwar in wesentlichen Punkten ab. So habe die Nebenklägerin nicht mehr berichtet, wie der Angeklagte sie ausgezogen habe, dass sie vorher von ihm auf den Arm genommen und nach dem Ausziehen von ihm „geleckt“ worden sei. Das Kerngeschehen habe sie aber konstant geschildert. Auch auf wiederholte Nachfrage habe sie bekundet, dass der Angeklagte gegen ihren deutlich geäußerten Willen vaginal in sie eingedrungen sei, während sie auf der Couch gelegen und er eine Hand an ihrem Hals gehabt habe. Wegen des Zeitablaufs von dreieinhalb Jahren seit der Tat sei nachvollziehbar, dass sich die Nebenklägerin an die weiteren Umstände nicht mehr erinnern könne. Dass sie nur wenige Angaben zum Randgeschehen gemacht habe, stehe der Glaubhaftigkeit der Aussage gleichfalls nicht entgegen, da hinsichtlich der Zeit und des Orts des Vorfalls und des vaginal durchgeführten Geschlechtsverkehrs gegen ihren Willen eine hohe Konstanz in den Schilderungen bestehe.

11bb) Auch bezogen auf die Tat im Juni 2018 seien zwar erhebliche Widersprüche in den Darstellungen der Nebenklägerin festzustellen, namentlich unterschiedliche Angaben dazu, in welchem Zimmer es zum Geschlechtsverkehr gekommen sei, ob der Angeklagte von hinten oder von vorne, im Stehen oder Liegen vaginal in sie eingedrungen und ob er zum Samenerguss gekommen sei. Die Aussage der Nebenklägerin sei aber insoweit konstant, als es um einen gegen ihren deutlich geäußerten Willen durchgeführten vaginalen Geschlechtsverkehr an diesem Abend in ihrer Wohnung gehe. Die Abweichungen beträfen die Art und Weise der Durchführung des Geschlechtsaktes, seien im Wesentlichen erst in der Hauptverhandlung aufgetreten und mit Erinnerungslücken zu erklären.

12b) Diese Erwägungen erfüllen bezogen auf beide Taten, die zur Verurteilung des Angeklagten geführt haben, nicht die an eine Konstanzanalyse zu stellenden Anforderungen.

13aa) Der Annahme, dass in der Übereinstimmung von Aussageinhalten in aufeinanderfolgenden Vernehmungen ein Indiz für das Vorliegen einer erlebnisbegründeten Aussage gesehen werden kann, liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Beobachtungen realer Vorgänge und eigene Erlebnisse zuverlässiger gespeichert werden, als aus dem Allgemeinwissen zusammengesetzte oder von Dritten vorgegebene Inhalte. Eine für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung bedeutsame Konstanz kann sich daher nur in Bezug auf hinreichend komplexe Sachverhaltsschilderungen ergeben (, NStZ-RR 2012, 383, 385 mwN). Eine Inkonstanz in den Bekundungen eines Zeugen ist ein Hinweis auf die mangelnde Glaubhaftigkeit seiner Angaben insgesamt, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann (vgl. , BGHSt 45, 164, 172). Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge insbesondere globale Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält (vgl. , NStZ-RR 2012, 383, 384; Beschluss vom – 4 StR 457/21 Rn. 13 mwN).

14bb) Gemessen daran erweisen sich die vom Landgericht vorgenommenen Konstanzanalysen in zweifacher Hinsicht als rechtsfehlerhaft.

15(1) Zum einen fehlt es jeweils an einer hinreichend komplexen Sachverhaltsschilderung, die Grundlage für eine Konstanzannahme sein könnte. Dies gilt insbesondere für die Tat im Juni 2018, für die es die Strafkammer hat ausreichen lassen, dass die Nebenklägerin konstant geschildert hat, dass es am Tatabend gegen ihren Willen in ihrer Wohnung zum vaginalen Geschlechtsverkehr gekommen sei. Diese Schilderung enthält nahezu keine phänomengebundenen Angaben und geht kaum über die Wiedergabe der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB hinaus. Bezogen auf den Vorfall in der Weihnachtsnacht 2017 erschöpft sich der konstant gebliebene Teil der Aussage der Nebenklägerin in der Angabe, dass der Angeklagte gegen den Willen der Nebenklägerin an ihr den vaginalen Geschlechtsverkehr vollzogen hat, während sie auf der Couch lag und er eine Hand an ihrem Hals hatte.

16(2) Zum anderen hat die Strafkammer in beiden Fällen die Inkonstanzen in den Bekundungen der Nebenklägerin mit rechtsfehlerhafter Begründung als unbedenklich bewertet. Die Auslassungen bei der Darstellung des Übergriffs in der Weihnachtsnacht 2017 beziehen sich auf das Kerntatgeschehen, nämlich das Auf-den-Arm-Nehmen der Nebenklägerin, das Ausziehen und das Lecken an ihrem Körper unmittelbar vor dem Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Alle diese Umstände sind körpernah und wenig vergessensanfällig. Bezogen auf die Tat im Juni 2018 bestehen die Widersprüche vor allem in der Beschreibung der Art und Weise des Eindringens in die Vagina der Nebenklägerin. Der Hinweis auf den erheblichen Zeitablauf ist angesichts der zentralen Bedeutung dieser Tatsachen für die Beurteilung der Erlebnisbasiertheit der Aussage und des Umstands, dass sich die diesbezüglichen Erinnerungslücken der Nebenklägerin erstmals in der Hauptverhandlung und noch nicht bei der Exploration durch die Sachverständige gezeigt haben, nicht ausreichend.

173. Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

184. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer auch die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussagen der Nebenklägerin in den Blick zu nehmen und im Rahmen der Fehleranalyse fremdsuggestive Einflüsse in Erwägung zu ziehen haben wird (vgl. ‒ 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 173). Dafür besteht nicht nur mit Blick auf die Wiederannäherung zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten ab März 2020 Anlass, sondern auch vor dem Hintergrund der von der Sachverständigen bei der Nebenklägerin diagnostizierten bipolaren affektiven Störung mit langjähriger Remission, der das Landgericht nur für die Frage der Aussagetüchtigkeit Bedeutung beigemessen hat.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:030822B4STR62.22.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-33375