BGH Urteil v. - 6 StR 407/22

Unterbringung in Entziehungsanstalt; Anspruch auf Entschädigung des Angeklagten

Gesetze: Art 6 Abs 1 S 1 MRK, Art 20 Abs 3 GG, § 64 S 3 StGB

Instanzenzug: LG Frankfurt (Oder) Az: 22 KLs 7/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Körperverletzung in zwei Fällen, wegen „Diebstahls geringwertiger Sachen“ und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte unter Freispruch im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Ferner hat es ausgesprochen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer zehn Monate als vollstreckt gelten.

I.

2Die Revision des Angeklagten hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

31. Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte seit vielen Jahren unter einer Alkoholabhängigkeit, einer Abhängigkeit von Stimulanzien und einem schädlichen Gebrauch von Cannabinoiden leidet. Eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat das Tatgericht abgelehnt. Es hat bereits nicht festzustellen vermocht, dass die verfahrensgegenständlichen Taten im Rausch begangen wurden oder auf einen Hang des Angeklagten, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, zurückzuführen seien; ein symptomatischer Zusammenhang zwischen seiner Abhängigkeitserkrankung und den Taten habe nicht bestanden.

42. Dies ist rechtfehlerhaft. Es fehlt insoweit eine Auseinandersetzung mit der Einlassung des Angeklagten, er habe die zwölf Pakete Kaffee am gestohlen und (ganz überwiegend) verkaufen wollen, weil er das Geld (auch) für Drogen gebraucht habe. Ist von einer solchen Beschaffungstat auszugehen – das Urteil verhält sich dazu nicht –, liegen ein Hang und der für § 64 StGB erforderliche symptomatische Zusammenhang zumindest nahe (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 613/16; vom – 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75), es hätte dann jedenfalls ausdrücklicher Erörterung der einzelnen Voraussetzungen des § 64 StGB im Urteil bedurft.

5Zudem hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte bei der Tat vom – einer Körperverletzung – alkoholisch beeinflusst war und einen Blutalkoholwert von 1,7 mg/g aufwies. Es verneint insoweit zwar rechtsfehlerfrei die §§ 20, 21 StGB, geht aber nicht näher auf die Voraussetzungen des § 64 StGB ein. Dazu hätte indes – gerade auch wegen der festgestellten jahrelangen Abhängigkeitserkrankung – Anlass bestanden. Denn für einen symptomatischen Zusammenhang genügt es, wenn der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Hat er – wie hier – mehrere Taten begangen, reicht es aus, wenn ein Teil von ihnen auf den Hang zurückzuführen ist (vgl. , NStZ-RR 2019, 308; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. Rn. 454 mwN).

63. Das Urteil beruht auf diesem Rechtsfehler. Eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 Satz 3 StGB) kann auch unter Berücksichtigung der bei ihm diagnostizierten Schizophrenie nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

74. Die Frage der Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB bedarf daher unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) neuer tatgerichtlicher Entscheidung. Einer etwaigen Nachholung der Unterbringungsanordnung steht nicht entgegen, dass – bezogen auf den Schuld- und Strafausspruch – nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StPO). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 284/22; vom – 2 StR 11/22; vom – 6 StR 61/22).

8Der aufgezeigte Rechtsfehler lässt den Strafausspruch unberührt. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine mildere Strafe erkannt hätte. Zwischen beiden Sanktionen besteht grundsätzlich keine Wechselwirkung; sie sind unabhängig voneinander festzusetzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168; vom – 3 StR 283/16).

II.

9Das von der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten auf die Kompensationsentscheidung beschränkte Rechtsmittel ist zulässig und begründet.

10Die Beschränkung ist wirksam. Denn Rechtsfehler bei dieser Entscheidung haben keine Auswirkungen auf den Schuld- und Strafausspruch (vgl. ; Urteil vom – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO Rn. 752, 1572b).

11Der Ausspruch über die Entschädigung hat keinen Bestand, weil die Strafkammer nicht mitgeteilt hat, wann der Angeklagte von dem gegen ihn geführten Strafverfahren Kenntnis erlangt hat (vgl. EGMR, Urteil vom – 497/17, NJW 2020, 1047, 1048; BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 405/18; vom – 2 StR 252/08; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO Rn. 754). Dies wäre aber notwendig gewesen, um prüfen zu können, ob diese Entscheidung rechtsfehlerfrei ergangen ist. Das Erfordernis, den Zeitpunkt der Kenntnisnahme festzustellen, folgt mittelbar aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK (i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Hiernach hat jede Person „ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Ziel der Regelung ist es zu verhindern, dass ein Beschuldigter nicht unnötig lange der Ungewissheit und den Belastungen ausgesetzt wird, die mit anhängigen Strafverfahren typischerweise verbunden sind (vgl. EGMR aaO; Gaede in MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 362; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 8). Für eine solche Ungewissheit ist jedoch erst dann Raum, wenn dem Betroffenen von offizieller Seite mitgeteilt oder sonst offenbart worden ist, dass er einer Straftat beschuldigt wird. Solcherlei Feststellungen sind den Urteilsgründen indes nicht zu entnehmen.

12Es kann daher offenbleiben, ob die gewährte Kompensation sich noch im Rahmen des dem Tatgericht zustehenden Beurteilungsspielraums bewegt oder – wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen – rechtsfehlerhaft überhöht ist. Für die erneute Verhandlung weist der Senat vorsorglich auf den Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des hin, wonach die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken ist (GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 147).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:240123U6STR407.22.0

Fundstelle(n):
KAAAJ-33201