Zulässigkeit der Anhörungsrüge trotz Erledigung der Hauptsache
Leitsatz
Die für eine Anhörungsrüge erforderliche prozessuale Beschwer entfällt nicht dadurch, dass sich der belastende Verwaltungsakt nach dem Erlass der ihn bestätigenden Gerichtsentscheidung erledigt.
Gesetze: § 152a Abs 1 VwGO, § 152a Abs 5 VwGO, § 23a Abs 3 WBO, Art 103 Abs 1 GG, § 108 Abs 2 VwGO
Tatbestand
1Die Soldatin wendet sich mit ihrer Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Senats vom , mit dem ihre Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom zurückgewiesen worden ist (2 WRB 2.21). In der Sache geht es um einen disziplinarrechtlichen Verweis, den die Soldatin am wegen der Gestaltung ihres Internetauftritts auf der Datingplattform Tinder erhalten hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Rechtsauffassung des Truppendienstgerichts im Ergebnis gebilligt, dass ein Verstoß der Soldatin gegen ihre außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht vorgelegen hat. Mit ihrer Anhörungsrüge macht die Soldatin geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei in fünf Punkten nicht auf ihr Vorbringen eingegangen.
2Während des Verfahrens der Anhörungsrüge ist die dreijährige Tilgungsfrist für disziplinarrechtliche Verweise am abgelaufen. Der Verweis ist nach Mitteilung des Bundeswehrdisziplinaranwalts im Disziplinarbuch getilgt worden und erscheint in einem Disziplinarbuchauszug vom nicht mehr. Die Soldatin sieht sich weiterhin beschwert und hält an der Anhörungsrüge fest.
Gründe
3Die Anhörungsrüge, über die der Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern ohne ehrenamtliche Richter entscheidet ( 1 WB 4.10 - Buchholz 310 § 152a VwGO Nr. 12 Rn. 6), ist zulässig, aber unbegründet.
41. Zwar ist nach § 23a Abs. 3 WBO i. V. m. § 152a Abs. 1 VwGO nur die Anhörungsrüge eines durch die gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten statthaft (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 152a Rn. 13). Eine solche Beschwer im prozessrechtlichen Sinne liegt jedoch bereits dann vor, wenn die Entscheidung zum Nachteil eines Beteiligten ausgegangen ist. Sie wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der zugrunde liegende Verwaltungsakt nach der Einlegung des Rechtsmittels - wie hier durch Zeitablauf - erledigt hat. Denn wer als Beteiligter durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist, kann ein Rechtsmittel allein zu dem Zweck einlegen und fortführen, damit in dem Rechtsmittel die prozessualen Folgerungen aus einer inzwischen eingetretenen Erledigung der Hauptsache gezogen werden können. Er hat ein berechtigtes Interesse daran, dass eine gegen ihn ergangene ungünstige Entscheidung aufgehoben oder für unwirksam erklärt wird (vgl. 6 B 1.14 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 70 Rn. 16). In gleicher Weise kann eine von einer letztinstanzlichen Entscheidung beschwerte Person ein Interesse daran haben, mit einer Anhörungsrüge die Fortführung des Gerichtsverfahrens zu erreichen, um eine erledigungsbedingte Unwirksamkeitserklärung der gegen sie ergangenen behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen zu erlangen.
52. Eine Fortsetzung des Verfahrens ist jedoch nach § 23a Abs. 3 WBO i. V. m. § 152a Abs. 1 und 5 Satz 1 VwGO in einem letztinstanzlichen Verfahren nur möglich, wenn die Anhörungsrüge begründet ist.
6a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verpflichtet das zur Entscheidung berufene Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht dieser Pflicht nachgekommen ist. Das Gericht ist insbesondere nicht gehalten, sich in den Gründen seiner Entscheidung mit jedem Vorbringen zu befassen. Art. 103 Abs. 1 GG begründet keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Verfahrensbeteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist erst dann anzunehmen, wenn im Einzelfall besondere Umstände erkennen lassen, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 1 BvR 1729/09 - NZS 2010, 497 Rn. 12 und vom - 1 BvR 2441/10 - juris Rn. 10 und 1 WB 27.22 - NVwZ 2022, 1139 Rn. 5 m. w. N).
7b) Nach diesen Maßstäben ist der Anspruch der Soldatin auf rechtliches Gehör nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden.
8aa) Der Senat hat insbesondere das Vorbringen zur formellen Rechtswidrigkeit des Verweises berücksichtigt ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 14). Er hat die diesbezüglichen Bedenken der Beschwerdeführerin zurückgewiesen und dargelegt, dass die Disziplinarmaßnahme hinsichtlich der Schuldform den Vorwurf eines vorsätzlichen Handelns enthält ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 12). Maßgeblich für das Rechtsbeschwerdeverfahren seien der Inhalt und die Begründung der einfachen Disziplinarmaßnahme, die sie im Beschwerdebescheid und im gerichtlichen Verfahren erhalten habe. Daraus folgt, dass der Senat auch das Vorbringen der Soldatin zur Unbestimmtheit des Schuldvorwurfs berücksichtigt hat. Die Bezugnahme auf die diesbezüglichen Feststellungen des Truppendienstgerichts steht auch nicht im Widerspruch dazu, dass das Bundesverwaltungsgericht der rechtlichen Würdigung des Truppendienstgerichts an anderer Stelle nicht gefolgt ist.
9bb) Der Senat ist auch auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Verletzung ihres Rechts am eigenen Bild eingegangen. Er hat ausgeführt, dass der Einwand der Verletzung der Nutzungsbedingungen der Plattform Tinder, ihres Urheberrechts und ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Geltendmachung eines Beweisverwertungsverbots darstellt und dass die dafür erforderliche Verfahrensrüge nicht formgerecht erhoben worden ist ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 10 f.). Soweit die Soldatin einwendet, sie habe die Rechtswidrigkeit der Beweiserlangung und -verwertung auch auf die Verletzung der Kameradschaftspflicht gestützt, kann dafür nichts anderes gelten.
10Die weitere Rüge, die Rechtswidrigkeit der Beweismittelerlangung habe auch zur Folge, dass das Entschließungsermessen bei der Einleitung des Disziplinarverfahrens rechtswidrig ausgeübt worden sei, greift gleichfalls nicht durch. Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens ist die Rechtmäßigkeit des angegriffenen vorinstanzlichen Urteils. Weil das Truppendienstgericht in Ausübung eigener disziplinarrechtlicher Gewalt über den mit dem Verweis geahndeten Vorfall zu entscheiden und dabei sämtliche relevanten Tatsachen zu untersuchen hat, ist allein die Rechtmäßigkeit seiner Tatsachenfeststellungen maßgeblich. Die Frage der Rechtswidrigkeit der Verwendung des Bildes durch vorgelagerte Entscheidungsträger ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht entscheidungserheblich.
11cc) Der Senat ist auch auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin eingegangen, dass die Datingplattform Tinder als geschlossenes System anzusehen sei. Er hat dazu ausgeführt, dass das Truppendienstgericht diese Frage offenlassen durfte. Die tatsächliche Feststellung des Truppendienstgerichts sei nicht zu beanstanden, dass die Soldatin mit dem Bekanntwerden ihres Profilbildes rechnen musste und dies in Kauf nahm ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 25). Soweit die Beschwerdeführerin ihr früheres Vorbringen dahin verstanden wissen will, dass sie bei ihren Äußerungen auf den spezifischen Empfängerhorizont der Nutzer der Plattform Tinder abgestellt habe, dürfte darin der im Rahmen einer Anhörungsrüge unzulässige Versuch liegen, neue Argumente vorzubringen. Außerdem verkennt die Beschwerdeführerin die Zielsetzung des § 17 Abs. 2 Satz 3 SG. Denn es kommt bei dieser Vorschrift nicht darauf an, wie das Verhalten eines Soldaten auf einer bestimmten Internetplattform verstanden und bewertet wird. Maßgeblich ist vielmehr, wie das Verhalten in der Bundeswehr und in der Öffentlichkeit verstanden wird und welche Auswirkungen es auf das Ansehen eines Soldaten in der Bundeswehr und der Öffentlichkeit hat. Dies hat der Senat in dem Beschluss auch zum Ausdruck gebracht ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 19 bis 23).
12dd) Der Senat hat auch die Rechtsausführungen der Beschwerdeführerin zum Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften Beeinträchtigung" in § 17 Abs. 2 Satz 3 SG zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Er ist ihrem Vorbringen gefolgt, dass nicht jede Beeinträchtigung des eigenen Ansehens im Rahmen des § 17 Abs. 2 Satz 3 SG pflichtwidrig ist. Das Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften Beeinträchtigung" erfordert vielmehr eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Grundrechte des Soldaten ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 27 bis 29).
13Der Senat hat ferner - anders als die Beschwerdeführerin meint - das Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften Beeinträchtigung" auch berücksichtigt. Er hat ausgeführt, auch bei der nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG erforderlichen Abwägung der privaten und dienstlichen Belange ergebe sich eine Pflichtverletzung ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 36). In diesem Satz wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die vom Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften Beeinträchtigung" geforderte umfassende Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls stattgefunden hat. Der Senat ist bei der Begründung der Abwägungsentscheidung auch speziell auf das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf sexuelle Selbstbestimmung eingegangen und hat lediglich die für die Grundrechtsausübung nicht erforderliche Überspitzung ihres sexuellen Anliegens als pflichtwidrig gewertet ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 37).
14ee) Schließlich hat sich der Senat in dem angegriffenen Beschluss auch mit den verfassungsrechtlichen Bedenken der Soldatin gegen § 17 Abs. 2 Satz 3 SG befasst und ausgeführt, die Vorschrift sei Ausdruck des besonderen Dienst- und Treueverhältnisses des Soldaten aus Art. 33 Abs. 4 GG und genüge dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot ( 2 WRB 2.21 - NVwZ 2022, 1622 Rn. 16). Er hat damit zum Ausdruck gebracht, dass er auch die übrigen weniger gewichtigen verfassungsrechtlichen Einwände gegen die Rechtsnorm nicht für überzeugend hält.
15Dies gilt insbesondere für die behauptete Verletzung von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Das verfassungsrechtliche Zitiergebot findet Anwendung auf Grundrechte, die aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen ( - BVerfGE 113, 348 <366>). Dies folgt daraus, dass Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG auf den Tatbestand des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG Bezug nimmt und damit nur gilt, "soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Das Zitiergebot findet daher insbesondere für Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG keine Anwendung (vgl. , 47/80 - BVerfGE 64, 72 <79 f.>). Für Grundrechte, die - wie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung - von der Rechtsprechung aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet worden sind, kann nichts anderes gelten (vgl. 2 WDB 12.21 - NVwZ 2022, 1728 Rn. 38). Denn auch für sie besteht im Grundgesetz kein expliziter Gesetzesvorbehalt. Daher kann aus der mangelnden Erwähnung des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung in § 17 Abs. 2 Satz 3 SG nicht geschlossen werden, die Rechtsnorm lasse keinerlei Beschränkungen dieses Rechts in der Sozialsphäre zu.
163. Die Kostenentscheidung beruht auf § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:301122B2WRB1.22.0
Fundstelle(n):
PAAAJ-32706