Seelische Behinderung als Voraussetzung für eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
eines volljährigen, stark verhaltensauffälligen, Drogen konsumierenden Kindes
Leitsatz
1. Ein volljähriges Kind kann auch dann für das Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG infolge einer seelischen Behinderung
zu berücksichtigen sein, wenn zwar keine Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung nach
§ 152 Abs. 1 SGB IX vorliegt und ein Arzt auf eine gerichtliche Nachfrage hin das Vorliegen einer Behinderung nicht ausdrücklich
bestätigt hat, wenn jedoch starke psychische Auffälligkeiten (unter anderem paranoide Schizophrenie, skurriles Verhalten)
im Zusammenhang mit regelmäßigem Cannabiskonsum attestiert sowie eine stationäre Langzeittherapie empfohlen worden sind und
wenn das Kind nach der Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls zur Überzeugung des Gerichts im Streitzeitraum aufgrund einer
psychischen Erkrankung ausbildungs- und arbeitsunfähig war und die Erkrankung offensichtlich auch dazu geführt hat, dass das
Kind an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate gehindert
war.
2. Für die Frage des Vorliegens einer Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist auf die in § 2 Abs. 1 Satz
1 SGB IX in der im Streitzeitraum geltenden Fassung enthaltene Legaldefinition zurückzugreifen. Ob im Einzelfall eine Behinderung
vorliegt, hat das Finanzgericht aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen.
3. Als seelische Beeinträchtigung kommen körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge von Krankheit
oder Verletzung des Gehirns, Anfallsleiden oder körperliche Beeinträchtigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen
in Betracht. Wegen der Dauer der Beeinträchtigung ist nicht allein auf die seit Beginn der Erkrankung oder die seit ihrer
erstmaligen ärztlichen Feststellung tatsächlich abgelaufene Zeit, sondern auf die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von
ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung abzustellen. Zur Beurteilung dieser Frage ist ggf. eine Prognose zur Entwicklung
der Funktionsbeeinträchtigung zu stellen.
Fundstelle(n): NWB-Eilnachricht Nr. 42/2023 S. 2886 PAAAJ-32181
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