BFH Beschluss v. - IX B 29/22

Überraschungsentscheidung

Leitsatz

NV: Eine Überraschungsentscheidung kann vorliegen, wenn das FG die Klageabweisung auf einen Gesichtspunkt stützt, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben, und wenn dies zudem mit einer rechtlich fehlerhafter und tatsächlich zweifelhafter Grundlage geschieht.

Gesetze: FGO § 116 Abs. 6; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG) gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Das FG hat ein Überraschungsurteil erlassen und damit den Anspruch des Klägers zu 1. und Beschwerdeführers (Kläger) auf rechtliches Gehör verletzt.

2 1. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (z.B. Senatsbeschluss vom  - IX B 2/17, BFH/NV 2017, 746, Rz 15). Zwar muss ein —zumal durch einen Rechtsanwalt und Steuerberater sachkundig vertretener— Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (, BVerfGE 86, 133, unter C.III.1.a; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 15, m.w.N.). Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben, und wenn dies zudem mit einer rechtlich fehlerhaften Begründung geschieht.

3 So liegt der Streitfall. Zwischen den Beteiligten war bis zur Entscheidung des FG nur streitig, ob der Kläger ein Veräußerungsgeschäft nach § 17 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) realisieren konnte, obwohl zuvor über das Vermögen der AG bereits das Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) hatte dies verneint; der Kläger hielt dies für rechtlich nicht ausgeschlossen. Streitig war zudem, ob der Kläger die objektive und subjektive Wertlosigkeit der Aktien im Zeitpunkt der Veräußerung der Aktien an die Klägerin zu 2. und Beschwerdeführerin (Klägerin) zum Erinnerungswert von 1 € nachgewiesen hatte. Weist das FG bei dieser Sachlage die Klage ohne mündliche Verhandlung mit der (neuen) Begründung ab, die Anteilsveräußerung könne als Vertrag zwischen nahen Angehörigen der Besteuerung nicht zugrunde gelegt werden, weil die Klägerin nicht (wie zwischen Dritten üblich) im Aktienregister (§ 67 des Aktiengesetzes) eingetragen worden sei, muss der Kläger mit dieser Wendung jedenfalls dann nicht rechnen, wenn sich die Begründung auch noch als rechtlich fehlerhaft und tatsächlich zweifelhaft erweist. Denn Veräußerung i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Übertragung von Anteilen gegen Entgelt; zivilrechtlich geschieht dies durch (Einigung und) Abtretung. Entgegen der Ansicht des FG scheitert die zivilrechtliche Übertragung der Anteile nicht daran, dass die Klägerin als Erwerberin (angeblich) im Aktienregister nicht eingetragen worden ist. Die Eintragung im Aktienregister ist nicht konstitutiv für die Wirksamkeit der Abtretung; sie dient allein dem Nachweis der Gesellschafterstellung gegenüber der Gesellschaft. Auf die fehlende Eintragung im Aktienregister kann die steuerliche Unbeachtlichkeit einer Aktienübertragung deshalb nicht gestützt werden, auch nicht im Fall einer Übertragung zwischen nahen Angehörigen. Vor diesem Hintergrund musste der Kläger auch nicht damit rechnen, dass das FG der (fehlenden) Eintragung im Aktienregister konstitutive Bedeutung für die Wirksamkeit der Veräußerung beimessen könnte.

4 2. Im Übrigen macht die Beschwerde in diesem Zusammenhang erfolgreich einen Sachaufklärungsmangel geltend, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Das FG hat die angeblich fehlende Eintragung der Klägerin als Erwerberin im Aktienregister ohne eigene Sachaufklärung aus dem Akteninhalt abgeleitet, obwohl die Frage zwischen den Beteiligten zuvor nicht streitig war und auch vom FA nicht gezielt aufgeklärt worden ist. Insbesondere aus dem Abschlussbericht des Insolvenzverwalters ergibt sich indes nicht, ob die Klägerin im Aktienregister eingetragen worden ist, auch wenn in ihm (fehlerhaft) der Kläger noch als Aktionär ausgewiesen ist. Wie der Kläger zutreffend ausgeführt hat, ist die Frage, wer Aktionär ist, für den Insolvenzverwalter in aller Regel ohne jede Bedeutung. Das FG konnte die Eintragung der Klägerin im Aktienregister auch nicht deshalb ausschließen, weil die im Rechtsbehelfsverfahren vorgelegte Bescheinigung vom (aus dem Aktionärsbuch), in der die Klägerin als Aktionärin ausgewiesen ist, (offenbar fehlerhaft) die laufende Nummer 22 (anstatt: 23) trägt. Bei dieser Sachlage hätte sich aus der Sicht des FG eine weitere Aufklärung durch Vorlage des Aktienbuchs oder Einvernahme des Vorstandsvorsitzenden der AG als Zeuge aufdrängen müssen. Außerdem hätte das FG den Beteiligten vor der Entscheidung Gelegenheit geben müssen, sich zu diesen aus seiner Sicht entscheidungserheblich gewordenen Tatsachen zu äußern und ergänzend vorzutragen. Das ist nicht geschehen.

5 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2023:B.120123.IXB29.22.0

Fundstelle(n):
BB 2023 S. 213 Nr. 5
BFH/NV 2023 S. 268 Nr. 3
MAAAJ-32010