Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten - Reichweite und Wirksamkeit
Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG
Instanzenzug: Az: S 62 SO 199/17 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 9 SO 769/18 Urteil
Gründe
1I. Die Kläger begehren von der Beklagten die Zustimmung zur Anmietung einer Wohnung sowie die Übernahme höherer Unterkunftskosten.
2Die Kläger, die ergänzend neben einer Altersrente des Klägers Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) beziehen, haben am einen Mietvertrag über eine neue Wohnung geschlossen, der Beklagten dies am mitgeteilt und zugleich einen Antrag auf Zustimmung zur Anmietung sowie auf Übernahme von Umzugskosten (Bezugsdatum zum ) gestellt, der erfolglos blieb (Bescheid der Beklagten vom ; Widerspruchsbescheid des Hochsauerlandkreises vom ). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Dortmund vom ; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom ). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, die Klage sei unzulässig, soweit höhere Leistungen für Unterkunftsbedarfe geltend gemacht würden, da der angefochtene Bescheid hierüber keine Regelung treffe. Die Klage sei im Übrigen nach dem Umzug in die neue Wohnung unzulässig geworden.
3Mit ihrer Beschwerde machen die Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) geltend; ua sei das Urteil des LSG ohne mündliche Verhandlung ergangen, obwohl ein wirksames Einverständnis von ihnen nicht mehr vorgelegen habe; damit sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.
4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensmangels den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
5Die Beschwerde ist auch begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den in § 124 Abs 1 SGG festgelegten Grundsatz der mündlichen Verhandlung ergangen. Er führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
6Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Nach § 124 Abs 2 SGG kann das Gericht unter der Voraussetzung, dass die Beteiligten ihr Einverständnis mit dieser Verfahrensweise erklärt haben ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Der Sinn dieser Ausnahmeregelung besteht darin, die Gerichte zu entlasten und das Verfahren im Interesse der Beteiligten zu vereinfachen und zu beschleunigen (vgl - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist daher nur dann sinnvoll, wenn die Sach- und Rechtslage eine mündliche Erörterung mit den Beteiligten überflüssig erscheinen lässt (vgl ). Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör ( - RdNr 10; - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 mwN).
7Das von den Klägern schriftsätzlich zu Beginn des Berufungsverfahrens erklärte Einverständnis mit einer - in ihrem Sinne ausfallenden - Entscheidung des LSG ohne mündliche Verhandlung war nach ihrem im späteren Verlauf des Berufungsverfahrens erfolgten weiteren Vortrag, in Reaktion auf den ablehnenden Prozesskostenhilfe (PKH)-Beschluss des LSG, und nach ihren weiteren gestellten Anträgen verbraucht. Es hätte neu eingeholt werden müssen, wenn das LSG weiterhin ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden wollen.
8Die Erklärung, auf mündliche Verhandlung zu verzichten, bezieht sich regelmäßig nur auf die nächste gerichtliche Entscheidung und steht unter dem Vorbehalt der im Wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage. Wenn eine solche Entscheidung nicht das abschließende Urteil ist, wird in der Regel die Einverständniserklärung durch jede gerichtliche Entscheidung verbraucht, welche die Entscheidung sachlich vorbereitet (vgl - SozR 1500 § 124 Nr 3; - SozSich 1995, 477; jeweils mwN). Dasselbe gilt bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage; auch sie entzieht dem bisherigen Verzicht die Grundlage; das Einverständnis verliert damit automatisch ohne weitere Erklärungen seine Wirksamkeit (vgl - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 9; - SozR 3-1500 § 124 Nr 4).
9Dahinstehen kann, ob vorliegend die wesentliche Änderung der Prozesslage bereits durch die ablehnende Entscheidung über den PKH-Antrag eingetreten ist. Jedenfalls der sich hieran anschließende weitere Vortrag der Kläger und die von ihnen gestellten weiteren Anträge, über die zu entscheiden das LSG die Notwendigkeit gesehen hat, haben zum Verbrauch des Einverständnisses geführt. Das LSG hat mit seiner Verfahrensweise auch aus der Sicht eines objektiven Prozessbeobachters deutlich gemacht, dass es vor der Entscheidung des Rechtsstreits in der Hauptsache noch weitere Schritte für erforderlich erachtet hat.
10Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, hätte das LSG im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen müssen. Die Beteiligten sind bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl - RdNr 14).
11Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Zivilprozessordnung <ZPO>), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG) verstoßen wird, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa ; - SozR 4-1500 § 124 Nr 1; - SozR 3-1500 § 124 Nr 4; - RdNr 10 f mwN). Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob auch die weiteren Verfahrensrügen durchgreifen. Es wäre in jedem Fall zu erwarten, dass ein Revisionsverfahren zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führen würde (vgl dazu - und vom - B 11 AL 203/02 B), sodass der Senat von der Möglichkeit Gebrauch macht, in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).
12Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits unter Beachtung des Ausgangs der Nichtzulassungsbeschwerde zu befinden haben.Bieresborn Scholz Luik
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:061022BB8SO1422B0
Fundstelle(n):
AAAAJ-31927