Örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers bei Eltern mit unterschiedlichem Aufenthalt
Leitsatz
1. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist nicht nur anwendbar, wenn die Eltern bei Beginn der Leistung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk desselben Jugendhilfeträgers haben, sondern auch dann, wenn sie nach Beginn der Leistung erstmalig oder erneut einen solchen gemeinsamen Aufenthalt begründen.
2. Die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 SGB VIII kommt auch dann zur Anwendung, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, die bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach deren Beginn zwischenzeitlich einen Aufenthalt im Bereich desselben Jugendhilfeträgers (i. S. v. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) genommen haben, erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.
Gesetze: § 86 Abs 5 S 2 Alt 1 SGB 8, § 86 Abs 5 S 1 SGB 8
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein Az: 3 LB 6/19 Urteilvorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Az: 15 A 367/17 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe über die Verpflichtung des beklagten Landkreises, der klagenden Stadt von ihr in einem Jugendhilfefall aufgewandte Kosten zu erstatten.
2Die Klägerin leistete für ein 2005 geborenes Kind, für das das Sorgerecht beiden Elternteilen zustand, Hilfe zur Erziehung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch. Bei Beginn der Hilfe lebten das Kind und seine Mutter in K., während der Vater des Kindes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in F. im Zuständigkeitsbereich des Beklagten hatte. Nachdem die Mutter das Kind nicht mehr betreuen konnte, beantragten die Eltern bei der Klägerin die Gewährung von Jugendhilfeleistungen, die diese im Zeitraum von März 2012 bis Juni 2019 in unterschiedlicher Weise erbrachte.
3Die Mutter des Kindes gab ihre Wohnung in K. Mitte Dezember 2012 auf, meldete sich im Zeitraum vom 24. Januar bis unter der Adresse des Vaters in F. an und beantragte dort Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Am meldete sie sich im Kreis D. unter einer Adresse in H. an und teilte der Klägerin im März 2013 im Rahmen eines Hilfeplangesprächs mit, in H. zu wohnen.
4Die Klägerin forderte den Beklagten im Jahr 2014 vergeblich auf, seine örtliche Zuständigkeit für die gewährte Hilfe anzuerkennen, den Hilfefall zu übernehmen und von der Klägerin aufgewendete Kosten für den Zeitraum vom bis zur Fallübernahme zu erstatten. Ihre auf Erstattung der bezifferbaren Kosten sowie Feststellung der Erstattungsverpflichtung des Beklagten hinsichtlich der noch nicht bezifferbaren Kosten erhobene Klage hatte erstinstanzlich Erfolg.
5Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die vorinstanzliche Entscheidung in der Weise geändert, dass es die Klage zum ganz überwiegenden Teil abgewiesen und den Beklagten lediglich zur Zahlung von 1 057,58 € nebst Prozesszinsen für die im Zeitraum vom 24. Januar bis zum erbrachten Jugendhilfeleistungen verurteilt hat. Der Beklagte sei ab dem nicht mehr örtlich zuständiger Jugendhilfeträger gewesen. § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur anwendbar, wenn gemeinsam sorgeberechtigte Eltern - anders als hier - erstmals nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründeten. Diese Einschränkung ergebe sich aus der Systematik des Gesetzes, seiner Historie sowie Sinn und Zweck der Vorschrift.
6Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision tritt die Klägerin dem Berufungsurteil, soweit damit die Klage abgewiesen wurde, entgegen und rügt eine Verletzung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII.
Gründe
7Die Revision, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1, § 141 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht mit Bundesrecht nicht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - i. d. F. der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII - mangels "erstmaliger" Begründung eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts nach Leistungsbeginn hier nicht anwendbar und deshalb ein Erstattungsanspruch der Klägerin nach § 89c Abs. 1 SGB VIII ausgeschlossen sei (1). Ob die von der Klägerin begehrte Erstattung in dem geltend gemachten Umfang besteht, kann der Senat jedoch mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts zur Gesetzeskonformität der im fraglichen Zeitraum erbrachten Leistungen (§ 89f Abs. 1 SGB VIII) nicht abschließend entscheiden. Das angefochtene Urteil ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (2).
81. Rechtsgrundlage für den von der Klägerin für die Zeit ab dem geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ist § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i. d. F. der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom (BGBl. I S. 959). Danach sind die Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
9Die Klägerin hat nach den Feststellungen der Vorinstanz als örtliche Trägerin der Jugendhilfe in dem im Revisionsverfahren im Streit stehenden Zeitraum von März 2013 bis Juni 2019 Hilfe zur Erziehung erbracht und dafür die Kosten getragen. Sie erfüllt auch die weitere Voraussetzung des Erstattungsanspruchs aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, weil sie diese Kosten für den Jugendhilfefall im Rahmen ihrer Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewandt hat. Gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bleibt der bisher zuständige Träger im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Zwischen den Beteiligten steht nicht im Streit, dass der Beklagte den Hilfefall im streitgegenständlichen Zeitraum bis Juni 2019 nicht in die eigene Zuständigkeit übernommen und demzufolge in dieser Zeit auch keine Jugendhilfeleistungen erbracht hat. Ihr Streit konzentriert sich vielmehr darauf, ob der Beklagte aufgrund eines Übergangs der örtlichen Zuständigkeit in diesem Zeitraum örtlich zuständig gewesen ist und die Klägerin demgemäß die in Rede stehenden Leistungen in Erfüllung einer Verpflichtung nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aufgewendet hat. Das ist zu bejahen.
10a) Die Klägerin war ursprünglich gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständige Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe. Danach ist, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) haben, der Träger örtlich zuständig, bei dem das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hatten hier die Eltern bei Beginn der Hilfe verschiedene gewöhnliche Aufenthalte, während das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor und bei Beginn der Hilfeleistung im März 2012 mit seiner Mutter teilte, die wiederum ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Klägerin hatte.
11b) Diese Zuständigkeit wechselte (spätestens) am gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auf den Beklagten. Danach ist für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Das Innehaben eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern im Bereich eines Jugendhilfeträgers ist nach dieser Vorschrift das allein entscheidende Kriterium zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers. Auf das Sorgerecht kommt es nicht an. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist nicht nur dann anwendbar, wenn die Eltern bei Beginn der Leistung einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk eines Jugendhilfeträgers haben, sondern auch dann, wenn sie während bzw. nach Beginn der Leistung (erstmalig oder erneut) einen solchen Aufenthalt begründen (vgl. 5 C 4.10 - BVerwGE 139, 378 Rn. 25 und vom - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 20; - juris Rn. 41; Lange, in: jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand Oktober 2022, § 86 Rn. 95 f.; Jung u. a., in: Eschelbach/Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 21 m. w. N.; a. A. OVG Saarlouis, Beschluss vom - 2 A 208/18 - JAmt 2020, 472). Hier haben die Eltern des Kindes am einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in F. im Bereich des Beklagten begründet. Dies hat das Oberverwaltungsgericht sowohl hinsichtlich des rechtlichen Maßstabs (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) als auch der Tatsachenfeststellung und -würdigung in nicht zu beanstandender und von den Beteiligten auch nicht angezweifelter Weise dargelegt.
12c) Die ab gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bestehende örtliche Zuständigkeit des Beklagten endete nicht - wie das Oberverwaltungsgericht meint - gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII mit dem Umzug der Mutter in den Kreis D. und ihrer dortigen Registrierung beim Einwohnmeldeamt am . Der Beklagte blieb ab diesem Zeitpunkt vielmehr gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII weiterhin örtlich zuständig.
13Nach dieser Vorschrift bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, solange die Personensorge - wie es hier im gesamten streitbefangenen Zeitraum der Fall war - beiden Elternteilen zusteht. § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII nimmt die Tatbestandsvoraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII umfänglich in Bezug ( 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 26 f.) und setzt demnach - ebenso wie diese Vorschrift - voraus, dass die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Hingegen ist es für die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII und damit auch des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII - entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts - nicht erforderlich, dass die nach Beginn der Leistung erfolgte Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte erstmals geschieht. Vielmehr ist die Vorschrift auch dann anwendbar, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, die bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach deren Beginn zwischenzeitlich einen Aufenthalt im Bereich desselben Jugendhilfeträgers (i. S. v. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) genommen haben, erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen (vgl. zu § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII Lange, in: jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand Oktober 2022, § 86 Rn. 143; Jung u. a., in: Eschelbach/Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 36; Eschelbach, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 86 Rn. 16; i. Erg. <aber nur über eine analoge Anwendung> auch Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 86 Rn. 49). Das ergibt sich (auch für die seit dem geltende Fassung der Vorschrift durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom , BGBl. I S. 3464) aus der Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 SGB VIII anhand der anerkannten Auslegungsmethoden. Dabei stellt der Senat klar, dass über die umstrittene Auslegung der Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII (i. d. F. des Gesetzes vom , BGBl. I S. 3464, vgl. zum Streitstand etwa Lange, in: jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand Oktober 2022, § 86 Rn. 151 ff., 160 f. m. w. N.), die den Fall erfasst, dass keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht, im vorliegenden Kontext mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zu befinden ist.
14aa) § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII verlangt nach dem klaren Wortlaut des systematisch in Bezug genommenen § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII nur das Begründen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Beginn der Leistung. Ein solches Begründen setzt voraus, dass die Eltern vor der zuständigkeitsrelevanten Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts eines oder beider Elternteile einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hatten (vgl. 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 19). Der Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII enthält keine Einschränkung dahin, dass der Vorgang des Begründens nur einmal stattfinden könne. Insbesondere enthält er weder die Wörter "erstmalig" oder "erstmals" noch ein anderes in diese Richtung weisendes Wort. Der Gesetzeswortlaut spricht deshalb für ein Verständnis, wonach § 86 Abs. 5 SGB VIII ("begründen") als Spezialregelung gegenüber § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII ("haben") auch Fälle erfasst, in denen die Eltern - wie hier - bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach einem zwischenzeitlichen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt (i. S. v. § 86 Abs. 1 SGB VIII) wieder verschiedene gewöhnliche Aufenthalte nehmen.
15bb) Die Systematik des Gesetzes stützt das aus dem Wortlaut gewonnene Normverständnis. Die Regelungen des § 86 SGB VIII, die im Falle des Aufenthaltswechsels der Eltern die Vor-Ort-Betreuung ermöglichen und einen engen Kontakt zwischen Eltern bzw. Elternteil und Jugendamt gewährleisten sollen, gehen vom Grundsatz der dynamischen Zuständigkeit aus (vgl. 5 C 7.20 - NVwZ-RR 2021, 979 Rn. 16; Schönecker/Eschelbach/Sitner/Schindler/Seltmann, JAmt 2020, 282 m. w. N.). Daraus folgt jedoch nicht - wie das Oberverwaltungsgericht ausgeführt hat - eine mit Absatz 1 beginnende (strikte) Rangfolge der Absätze des § 86 SGB VIII, wonach die Anwendung eines folgenden Absatzes ausscheide, wenn der Tatbestand eines vorgehenden erfüllt sei, weshalb es sich bei § 86 Abs. 5 SGB VIII nicht um eine gegenüber § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII unter dem Gesichtspunkt der Spezialität vorrangig anzuwendende Regelung handele. Denn § 86 Abs. 5 SGB VIII steht insgesamt in unmittelbarem Bezug zu § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII und kann nicht direkt einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII nachfolgen (vgl. Jung u. a., in: Eschelbach/Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 36). Auf eine Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII folgt, wenn die Eltern (erstmals oder erneut) verschiedene Aufenthalte nehmen, die Zuständigkeitsbestimmung nach § 86 Abs. 5 SGB VIII, dessen Satz 1 im Übrigen ebenfalls den Grundsatz der dynamischen Zuständigkeit verwirklicht. Demzufolge ergibt sich die in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII angesprochene "bisherige Zuständigkeit" ebenfalls zwingend aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (vgl. 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 20 f.; Jung u. a., in: Eschelbach/Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, 2. Aufl. 2021, § 86 Rn. 36). Da § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dem gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern für die Festlegung der örtlichen Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers überragende Bedeutung beimisst und auch die Fälle erfasst, in denen die Eltern diesen Aufenthalt erst während der Leistung begründen, ist auch in solchen Fällen die örtliche Zuständigkeit bei sich anschließender Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII zu bestimmen.
16cc) Sinn und Zweck der Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII sowie die Gesetzeshistorie weisen in die gleiche Richtung. Zwar geht das Oberverwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass den Zuständigkeitsbestimmungen des § 86 SGB VIII das Prinzip der dynamischen Zuständigkeit zugrunde liegt und es sich bei der durch § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII angeordneten statischen Zuständigkeit um eine Ausnahmeregelung handelt. Dem daraus gezogenen Schluss, es stünde dem Prinzip der dynamischen Zuständigkeit entgegen, wenn eine Norm, die ausnahmsweise die statische Zuständigkeit vorsehe (§ 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII), eine Norm (hier: § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) verdrängen könne, die den Regelfall der dynamischen Zuständigkeit umsetze, sodass § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII vor diesem Hintergrund nur anzuwenden sei, wenn nach den Absätzen 1 bis 4 keine "sachnähere Anknüpfung der Zuständigkeit" ersichtlich sei, ist jedoch nicht beizupflichten. Ansonsten bedürfte es schon nicht der dynamischen Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII, die dieselbe Rechtsfolge wie § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorsieht. Die in § 86 Abs. 5 SGB VIII enthaltene spezielle Regelung zur Bestimmung der Zuständigkeit soll die Regelung des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für den Fall ergänzen, dass der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Eltern, dem das Gesetz, wenn er besteht, für die Bestimmung des zuständigen Jugendhilfeträgers den allein entscheidenden Stellenwert für den (erhofften und beabsichtigten) Erfolg der Jugendhilfemaßnahme zumisst, nicht beibehalten wird. Der Gesetzgeber hat hierzu in § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII gegenüber § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII bei ansonsten gleicher Ausgangslage (die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern haben verschiedene gewöhnliche Aufenthalte) mit der Anordnung der statischen Zuständigkeit eine andere Rechtsfolge als in jener Vorschrift gewählt. Ausschlaggebend waren insoweit vom Gesetzgeber angenommene Schwierigkeiten, in Fällen eines zuvor bestehenden gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (BT-Drs. 12/2866 S. 22). Denn wegen des gemeinsamen Sorgerechts fehlt bei einer nachträglichen Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte ein Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit unter dem Gesichtspunkt des Näheverhältnisses zwischen einem Elternteil und dem Jugendamt. Dementsprechend lässt sich nicht abstrakt-generell feststellen, welcher Elternteil künftig der Unterstützung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bei der Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung bedarf (vgl. 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 29). Aus diesem Grund soll es bei der bisherigen Zuständigkeit bleiben. Die genannten Schwierigkeiten bestehen dabei unabhängig davon, ob die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern einen schon bei Beginn der Leistung bestehenden oder einen erst während der Leistung begründeten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt aufgeben. Klarstellend weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die in dem Urteil vom - 5 C 34.12 - (unter Rn. 18 ff.) verwendeten und möglicherweise Missverständnisse hervorrufenden Wörter "erstmals" und "erstmalig" auf die im konkreten Fall zu entscheidende Sachverhaltskonstellation bezogen waren und sich nicht zu der hier im Streit stehenden Konstellation der erneuten Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte verhielten.
17dd) Ferner greift auch die Überlegung des Oberverwaltungsgerichts nicht durch, es liefe dem Zweck der Regelung des § 86 SGB VIII zuwider, eine praktikable und sachnahe Bestimmung des örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers zu ermöglichen, wenn die statisch wirkende Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII die Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers begründe, der keine Verbindung zum Hilfefall habe. Der Gesetzgeber hat die statische Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII im Interesse eines eindeutigen Ergebnisses angeordnet und dabei - der Vielgestaltigkeit denkbarer Lebensverhältnisse Rechnung tragend - in Kauf genommen, dass jede generell-abstrakte Zuständigkeitsregelung insbesondere in einem durch besondere Umstände geprägten Einzelfall (hier: nur kurz bemessener gewöhnlicher Aufenthalt der Mutter des Kindes im Bereich des Beklagten) zu aus fachlicher Sicht mehr oder weniger sachgerecht erscheinenden Ergebnissen führen kann. Schließlich kann das vom Oberverwaltungsgericht befürwortete Verständnis des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII auch nicht (allein) mit dem Ausnahmecharakter der Vorschrift begründet werden, die daher eng auszulegen sei. Denn auch sogenannte Ausnahmevorschriften sind nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen auszulegen und können je nach der ihnen innewohnenden Zweckrichtung einer einschränkenden oder ausdehnenden Auslegung zugänglich sein ( 5 C 9.19 - BVerwGE 171, 49 Rn. 30 m. w. N.).
182. An einer Entscheidung darüber, in welchem Umfang der aus § 89c Abs. 1 SGB VIII folgende Erstattungsanspruch der Klägerin besteht, ist der Senat jedoch gehindert. Nach der Regelung des § 89f Abs. 1 SGB VIII, die den Umfang der Kostenerstattung bestimmt ( 5 C 25.05 - BVerwGE 128, 301 Rn. 12), sind die aufgewendeten Kosten (nur) zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Da das Oberverwaltungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - für die Zeit ab dem insbesondere keine Feststellungen zu der vom Beklagten ausdrücklich in Abrede gestellten Gesetzeskonformität der erbrachten Jugendhilfeleistungen im Sinne von § 89f Abs. 1 SGB VIII getroffen hat, kann der Senat nicht selbst abschließend über die Sache entscheiden. Diese ist daher an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:210922U5C5.21.0
Fundstelle(n):
UAAAJ-31686