Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung bei einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation
Gesetze: § 261 StPO, § 267 StPO, § 174c StGB
Instanzenzug: Az: 10 KLs 17/20
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten ‒ unter Freisprechung im Übrigen ‒ wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
21. Nach den Feststellungen gab der Angeklagte vor, Krankheiten durch Gebete, Massagen und selbst hergestellte Salben heilen zu können. Von Ende Juli 2018 bis September 2019 führte der Angeklagte an der am geborenen Nebenklägerin D. , die ihm durch ihre Mutter zur Behandlung anvertraut war, in insgesamt zwölf Fällen „Massagen“ zur Beseitigung angeblicher „Knoten“ durch. Im Rahmen dieser „Behandlungen“ veranlasste er die Nebenklägerin dazu, sich vollständig zu entkleiden und sich auf eine Massageliege zu legen. Anschließend „massierte“ der Angeklagte die Nebenklägerin sexuell motiviert und ohne medizinische Indikation am ganzen Körper unter Einbeziehung ihrer Brüste und ihres „Intimbereichs“. In einem Fall ‒ im Herbst 2018 ‒ fuhr der Angeklagte vor der Massage mit der Nebenklägerin zum Einkaufen in die Niederlande; nach Rückkehr forderte er sie auf, sich zu entkleiden und sich im Wohnzimmer auf ein Sofa zu legen; sodann setzte er sich auf das Sofa oder auf einen Stuhl, veranlasste die Nebenklägerin dazu, ihre Beine auf seine Oberschenkel zu legen und massierte den Intimbereich der Nebenklägerin, insbesondere „Venushügel und ihre Schamlippen“. Im Verlaufe dieser Massage fragte der Angeklagte die Nebenklägerin, ob sie „Druck habe“ und ob er einen Finger in ihre Vagina einführen solle, damit sie „keinen Druck mehr habe“. Nachdem die Nebenklägerin seine Frage verneint hatte, gab der Angeklagte sein Vorhaben verärgert auf. Zum Abschluss der Massage küsste er die Nebenklägerin auf den Mund, erklärte ihr, dass dies „ein arabischer Kuss“ sei und forderte sie auf, niemandem davon zu erzählen.
32. Die sachverständig nicht beratene Strafkammer hat sich von der Täterschaft und den Taten des in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten, der die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe im Ermittlungsverfahren bestritten hatte, aufgrund der Zeugenaussage der Nebenklägerin überzeugt. Deren Angaben hat es trotz festgestellter Abweichungen und Schwächen insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Einordnung der Taten für glaubhaft erachtet. Soweit die Anklage von einem bereits am beginnenden Tatzeitraum sowie von einer größeren Anzahl von Einzeltaten ausgegangen ist, hat die Strafkammer den Angeklagten freigesprochen.
II.
41. Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung des Landgerichts hält unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 2 mwN; Beschluss vom – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20 f.; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 117 ff. mwN) revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
5a) In Fällen, in denen – wie hier – „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen eingestellt hat (st. Rspr.; vgl. nur , StV 2020, 444; Beschluss vom – 4 StR 434/19).
6b) Gemessen hieran ist die Beweiswürdigung der Strafkammer lückenhaft.
7aa) Die in den Urteilsgründen wiedergegebenen und zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten ausgetauschten Kurznachrichten werden keiner Beweiswürdigung unterzogen, obwohl hierzu Anlass bestand. Ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe erläuterte die Nebenklägerin auf Vorhalt der an sie gerichteten Nachricht des Angeklagten vom („Gesten hastu etwas Geschworen“) und ihrer Antwort („Ja das alles unter uns bleibt“), dass damit „wohl“ der „Kuss“ gemeint gewesen sei, den ihr der Angeklagte gegeben habe und bei dem sie ihm geschworen habe, niemandem davon zu erzählen. Diese Aussage der Nebenklägerin ist nicht ohne Weiteres mit der Bekundung der Nebenklägerin vereinbar, der „besondere Vorfall“ habe sich im Herbst 2018 ereignet. Die auf die Kurznachrichten bezogenen Angaben der Nebenklägerin hätten daher einer eingehenden und kritischen Würdigung unterzogen werden müssen, welche die Urteilsgründe gänzlich vermissen lassen.
8Sollte das Landgericht den zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin ausgetauschten Kurznachrichten keinen Beweiswert beigemessen haben, weil die Nebenklägerin angegeben hatte, die Kurznachrichten seien ihr jeweils von ihrer Mutter diktiert worden, stünde dies in einem unaufgelösten Widerspruch zu ihrer Aussage, ihre Nachricht bezöge sich auf das dem Angeklagten abgegebene Versprechen, niemandem von dem Kuss zu erzählen.
9Angesichts der Besonderheiten der Beweislage hätten die zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin ausgetauschten Kurznachrichten auch im Übrigen in die Beweiswürdigung eingestellt werden müssen. Denn ihr Inhalt könnte, wenn die Nachrichten tatsächlich nicht, wie von der Nebenklägerin behauptet, von ihrer Mutter, sondern von ihr selbst stammten, durchgreifende Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zu den Übergriffen des Angeklagten wecken.
10bb) Darüber hinaus sind die knappen Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht die Schwächen der Angaben der Nebenklägerin im Hinblick auf die zeitliche Einordnung der Taten mit „Erinnerungsfehlern“ erklärt, nicht nachvollziehbar. Zwar können Abweichungen in einer Aussage eine Erklärung in (natürlichen) Gedächtnisunsicherheiten finden (vgl. ‒ 5 StR 179/16 Rn. 15; Beschluss vom ‒ 4 StR 305/12; Urteil vom ‒ 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 172). Dass die im Rahmen der Hauptverhandlung widerlegte Bekundung der Nebenklägerin, sie habe die durch den Angeklagten verwendeten Salben und Cremes nicht vertragen und sei deshalb im Februar oder März 2018 wegen „Atemnot“ in einer Klinik in C. und anschließend von ihrem Hausarzt behandelt worden, auf einem „Erinnerungsfehler“ infolge Zeitablaufs beruhe, liegt jedoch nicht nahe und hätte daher näherer Erörterung bedurft. Hieran fehlt es.
112. Angesichts der schwierigen Beweislage vermag der Senat ein Beruhen des Urteils auf den aufgezeigten Darlegungsmängeln nicht auszuschließen. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung.
12Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
13Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer wird eingehender als bisher geschehen die Besonderheiten der Entstehungsgeschichte der Aussage der Nebenklägerin und eine mögliche Motivation für eine Falschbelastung in den Blick zu nehmen haben. Dass im Juli 2020 nicht die Nebenklägerin selbst, sondern ihr Vater „auf Druck der Familie“ bei der Polizei Anzeige erstattete, kann unter den hier gegebenen besonderen Vorzeichen (vermutetes sexuelles Verhältnis des Angeklagten zur Mutter der Nebenklägerin/beleidigendes und aggressives Verhalten des Angeklagten vor dem Haus der Eltern der Nebenklägerin und der Großeltern ab September 2019/bedrohliches Auftreten des Angeklagten gegenüber der gesamten Familie) nicht ohne Weiteres als ein gegen ein Falschbelastungsmotiv sprechendes Beweisanzeichen gewertet werden.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:260422B4STR343.21.1
Fundstelle(n):
VAAAJ-30841