Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Pflichten eines Rechtsanwalts hinsichtlich der Kontrolle der Rechtsmittelbegründungsfrist bei Ablauf der für diese notierten Vorfrist
Leitsatz
Zu den Pflichten eines Rechtsanwalts hinsichtlich der Kontrolle der Rechtsmittelbegründungsfrist bei Ablauf der für diese notierten Vorfrist.
Gesetze: § 85 Abs 2 ZPO, § 233 ZPO, § 520 Abs 2 S 1 ZPO
Instanzenzug: OLG Braunschweig Az: 7 U 391/21vorgehend LG Braunschweig Az: 5 O 3717/19
Gründe
I.
1Die Klägerin nimmt die Beklagte mit ihrer Klage auf Zahlung von 8.345,28 € und von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, jeweils nebst Zinsen, nach Widerruf eines zwischen den Parteien geschlossenen Kraftfahrzeugleasingvertrags in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
2Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am zugestellte Urteil hat die Klägerin fristgerecht Berufung eingelegt. Mit einem am beim Oberlandesgericht eingereichten Schriftsatz hat die Klägerin unter anderem die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum beantragt.
3Das Berufungsgericht hat mit Verfügung des Vorsitzenden vom die Klägerin darauf hingewiesen, dass die Berufung wegen des nicht fristgerechten Eingangs der Berufungsbegründung unzulässig sein dürfte. Die Klägerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom , der unter demselben Datum beim Berufungsgericht eingegangen ist, gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung zugleich begründet.
4Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat sie unter Bezugnahme auf die eidesstattliche Versicherung der für das Führen des Fristenbuchs zuständigen Mitarbeiterin ihres Prozessbevollmächtigten ausgeführt, diese sehr zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte habe als Ende der Berufungsbegründungsfrist versehentlich sowohl im Fristenbuch, dem elektronisch geführten Fristenkalender als auch in der Handakte den notiert, weil der am Kanzleisitz - anders als am Sitz des Berufungsgerichts - ein gesetzlicher Feiertag sei. Bei Erstellung der Berufungsschrift am und deren Versendung an das Berufungsgericht am habe sich der sachbearbeitende Prozessbevollmächtigte anhand der Vermerke in der Handakte versichert, dass die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist jeweils nebst einer Vorfrist im Fristensystem der Kanzlei erfasst seien. Am Tag des Ablaufs der von seiner Mitarbeiterin notierten, einwöchigen Vorfrist () habe der Prozessbevollmächtigte sich wegen eines ganztägigen Beratungstermins lediglich telefonisch nach der im streitgegenständlichen Verfahren notierten Vorfrist und dem Vermerk der Berufungsbegründungsfrist im Fristenbuch sowie dem elektronischen Fristensystem erkundigt und die Mitarbeiterin angewiesen, ihm die Akten erst am zur Erstellung der Berufungsbegründung wieder vorzulegen. Die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist sei von ihm nicht verschuldet. Er habe sich bei der Kontrolle der Vorfrist sowie der Berufungsbegründungsfrist auf die Prüfung der Vermerke seiner Mitarbeiterin in der Handakte beschränken dürfen. Auch die mit der Vorfristanordnung bezweckte Sicherung, dem Anwalt den für die Bearbeitung der Rechtsmittelbegründung erforderlichen Zeitraum zu gewähren, verlange keine sofortige Bearbeitung der Akte, sondern gestatte es ihm, die Sache auf den letzten Tag der Frist zu verschieben.
5Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es - soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren von Interesse - ausgeführt:
6Der Wiedereinsetzungsantrag sei unbegründet, weil den Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist treffe. Am Tag des Ablaufs der Vorfrist habe er die Bearbeitung der Akte telefonisch und ohne die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung erforderliche Fristenkontrolle auf den letzten Tag der (fehlerhaft) notierten Berufungsbegründungsfrist verschoben und dadurch die Fristversäumung verursacht. Es sei weder ersichtlich noch vorgetragen, dass er die entsprechende Kontrolle nicht bei der Rückkehr in sein Büro am nächsten Tag hätte durchführen können. Die Berufung der Klägerin sei als unzulässig zu verwerfen, da der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht innerhalb der zweimonatigen Begründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO eingereicht worden sei.
7Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.
II.
8Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Denn die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Wiedereinsetzung ablehnenden und die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom - VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 15; vom - VIII ZB 83/20, WuM 2022, 53 Rn. 8; jeweils mwN), sind nicht erfüllt. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
91. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, verletzt der angefochtene Beschluss das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) nicht.
10a) Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden beziehungsweise die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschlüsse vom - VIII ZB 69/16, NJW 2017, 2041 Rn. 9; vom - VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 28; jeweils mwN).
11b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht verletzt.
12aa) Die Berufung der Klägerin war gemäß § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen, weil die Klägerin sie nicht innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO begründet hat. Dem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO) konnte nicht stattgegeben werden, weil dieser Antrag erst nach Fristablauf beim Berufungsgericht eingegangen ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom - VIII ZB 19/18, aaO; vom - VIII ZB 56/20, NJW 2022, 400 Rn. 19; jeweils mwN).
13bb) Zu Recht hat das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin wegen des ihr zuzurechnenden Verschuldens ihres Prozessbevollmächtigten an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen.
14(1) Nach § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden gehindert war, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ist der Partei zuzurechnen (§ 85 Abs. 2 ZPO). Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn nach den von der Partei glaubhaft gemachten Tatsachen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO) zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Fristversäumnis von der Partei beziehungsweise ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet war (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 42 mwN).
15(2) So liegt der Fall hier. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist verschuldet hat, indem er bei Ablauf der Vorfrist von einer Kontrolle des von seiner Mitarbeiterin fehlerhaft notierten Endes der Berufungsbegründungsfrist abgesehen hat.
16(a) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Nach gefestigter Rechtsprechung gehört zur ordnungsgemäßen Organisation einer Anwaltskanzlei die allgemeine Anordnung, dass bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine Vorfrist notiert werden muss, die im Regelfall mit einer Woche zu bemessen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 26/94, NJW 1994, 2551 unter II 2; vom - V ZB 227/17, NJW-RR 2018, 1451 Rn. 7; vom - XI ZB 17/19, juris Rn. 9; jeweils mwN). Eine derartige Vorfrist dient dazu, sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Sie dient - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - damit gerade auch dazu, die Richtigkeit der eingetragenen Frist zu überprüfen. Ihre Eintragung bietet hiernach eine zusätzliche Fristensicherung (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 5/16, NJW-RR 2017, 953 Rn. 8; vom - V ZB 227/17, aaO; vom - IX ZB 13/19, NJW 2019, 3234 Rn. 23; vom - XI ZB 17/19, aaO; vom - VI ZB 17/22, juris Rn. 7).
17Die Berechnung und Notierung von Fristen kann zwar einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 70/17, NJW-RR 2018, 1325 Rn. 14; vom - XI ZB 17/19, aaO; vom - XII ZB 9/22, FamRZ 2022, 1633 Rn. 9). Der Rechtsanwalt hat jedoch den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten zur Bearbeitung - auch auf Vorfrist - vorgelegt werden. In diesem Zusammenhang darf er sich allerdings grundsätzlich auf die Prüfung der in der Handakte zu notierenden Rechtsmittelbegründungsfristen und der auf deren Eintragung im Fristenkalender hinweisenden Erledigungsvermerke beschränken (vgl. BGH, Beschlüsse vom - II ZB 10/09, juris Rn. 7; vom - VIII ZB 5/16, aaO Rn. 10; vom - VII ZB 14/21, FamRZ 2022, 1717 Rn. 10; jeweils mwN).
18Diese Prüfung des Ablaufs der Rechtsmittelbegründungsfristen muss bei Ablauf der Vorfrist zwar nicht sofort erfolgen, weil diese Frist gerade den Sinn hat, dem Rechtsanwalt einen gewissen zeitlichen Spielraum zur Bearbeitung bis zum endgültigen Ablauf der Begründungsfrist zu verschaffen. Sie kann deshalb auch noch am folgenden Tag erfolgen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 19/01, VersR 2002, 1391 unter [II] 1 a; vom - VI ZB 66/06, NJW 2007, 2332 Rn. 7; vom - V ZB 27/12, NJW-RR 2012, 1204 Rn. 7; vom - AnwZ (Brfg) 5/16, NJW-RR 2017, 442 Rn. 8). Um ihren Zweck zu erfüllen, darf die Prüfung jedoch - anders als die Rechtsbeschwerde meint - nicht zurückgestellt werden, bis der Rechtsanwalt - gegebenenfalls erst am letzten Tag der Begründungsfrist - die eigentliche Bearbeitung der Sache vornimmt. Vielmehr entsteht die Prüfungspflicht mit der Vorlage der Akten unabhängig davon, ob sich der Rechtsanwalt zur sofortigen Bearbeitung der Sache entschließt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 26/94, aaO; vom - VIII ZB 76/03, juris Rn. 5; vom - VI ZB 66/06, aaO; vom - VI ZB 2/08, NJW 2008, 3439 Rn. 7). Dementsprechend muss sich der Rechtsanwalt, der die eigentliche Sachbearbeitung zurückstellen will, bei Vorlage auf Vorfrist auch davon überzeugen, ob ihm am Tag des Fristablaufs noch Zeit für die Anfertigung der Rechtsmittelbegründung oder für einen Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist verbleibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 19/01, aaO; vom - VIII ZB 76/03, aaO; vom - VI ZB 66/06, aaO).
19(b) Nach diesen Grundsätzen hätte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin sich nicht darauf beschränken dürfen, sich am Tag des Ablaufs der Vorfrist bei seiner Mitarbeiterin telefonisch nach dieser Frist und dem Vermerk der Berufungsbegründungsfrist im Fristenbuch beziehungsweise im elektronischen Fristensystem zu erkundigen, um dann seine Mitarbeiterin anzuweisen, die ihm auf Vorfrist vorgelegten Akten wieder in den Aktenschrank zu hängen und ihm diese erst wieder am Tag des Ablaufs der von ihr notierten Berufungsbegründungsfrist zur Bearbeitung vorzulegen. Vielmehr hätte er, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, spätestens bei seiner Rückkehr in die Kanzlei am nächsten Tag die erforderliche Prüfung der Begründungsfrist anhand der Handakte vornehmen müssen. In diesem Fall hätte er bei pflichtgemäßer Sorgfalt bemerkt, dass seine Kanzleiangestellte das Ende der Frist fehlerhaft bestimmt hatte, und hätte für eine rechtzeitige Übermittlung der Berufungsbegründungsschrift oder eines (ersten) Antrags auf Fristverlängerung an das Berufungsgericht Sorge tragen können. Dies wäre ihm selbst bei Annahme einer kürzeren als der von ihm notierten Vorfrist von einer Woche ohne weiteres möglich gewesen. Die in der unterlassenen Prüfung liegende Pflichtverletzung ist somit für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächlich geworden.
202. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts auch weder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wegen Vorliegens einer Divergenz noch wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache erforderlich. Das Berufungsgericht ist von den vorstehend dargestellten Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht abgewichen, sondern hat diese vielmehr rechtsfehlerfrei auf den Streitfall angewandt. Einen weitergehenden Klärungsbedarf vermag die Rechtsbeschwerde nicht aufzuzeigen.
III.
21Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:221122BVIIIZB2.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 368 Nr. 6
ZIP 2023 S. 4 Nr. 2
SAAAJ-30453