Örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer im Verfahren über den Widerruf der Bewährung
Gesetze: § 462a Abs 1 S 1 StPO, § 462a Abs 4 StPO, § 56f StGB
Gründe
1Die Strafvollstreckungskammern bei den Landgerichten Bonn und Essen streiten darüber, welches von ihnen für die Entscheidung über den Widerruf der mit Urteil des Amtsgerichts Essen vom gewährten Strafaussetzung zur Bewährung zuständig ist.
21. a) Das Amtsgericht Essen verhängte gegen den Verurteilten im Verfahren 40 Ds-56 Js 1209/19-59/20 am wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Straßenverkehrsgefährdung eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten, deren Vollstreckung es für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt hat. Nachdem das Landgericht Bonn aufgrund dort laufender Führungsaufsicht am um Übersendung des Bewährungshefts zum Zwecke der Übernahme gebeten hatte, gab das Amtsgericht Essen mit Beschluss vom die weiteren die Strafaussetzung zur Bewährung betreffenden Entscheidungen gemäß § 462a Abs. 1, § 453 Abs. 1 StPO an das Landgericht Bonn ab. Mit Verfügung vom übernahm das Landgericht Bonn die Bewährungsüberwachung.
3b) Mit Schreiben vom informierte die Bewährungshelferin des Verurteilten das Landgericht Bonn darüber, dass nach Mitteilung des Verurteilten gegen ihn ein neues Verfahren wegen „Autodiebstahls“ anhängig sei. Mit Schreiben vom teilte sie dem Landgericht Bonn mit, dass sich der Verurteilte seit dem aufgrund eines vom Amtsgericht Gelsenkirchen ausgestellten Haftbefehls in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Essen befinde.
4c) Am ging die zum Amtsgericht Gelsenkirchen erhobene Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom bei der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn ein. Dem Verurteilten wurden in der Anklageschrift mehrere tateinheitlich am begangene Straftaten – unter anderem vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis – zur Last gelegt. Mit Schreiben vom unterrichtete die Bewährungshelferin des Verurteilten die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn, dass der Verurteilte am in diesem Verfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden sei; das Urteil sei noch nicht rechtskräftig. Aus den am beim Landgericht Bonn eingegangenen Urteilsgründen ist ersichtlich, dass sich der Verurteilte in der Hauptverhandlung geständig eingelassen hat.
5Mit Telefaxschreiben vom teilte die Bewährungshelferin dem Landgericht Bonn unter anderem mit, dass sich der Verurteilte für ein weiteres – anderes – Verfahren weiterhin in der Justizvollzugsanstalt Essen befinde, was auch dem Vollstreckungsblatt der Justizvollzugsanstalt Essen zu entnehmen war, das am beim Landgericht Bonn einging.
6d) Mit weiterem Telefaxschreiben vom berichtete die Bewährungshelferin dem Landgericht Bonn, dass der Verurteilte am selben Tag vom Amtsgericht Gelsenkirchen in der anderen Sache rechtskräftig zu einer weiteren unbedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden und das Urteil gemäß § 35 BtMG zurückstellungsfähig sei. Bis zum Therapieantritt werde der Verurteilte in Haft bleiben.
7e) Die Staatsanwaltschaft Essen beantragte am gegenüber dem Landgericht Bonn den Widerruf der bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung. Die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn teilte sodann dem Verurteilten mit Schreiben vom mit, dass sie vor dem Hintergrund des Urteils des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erwäge, und gab dem Verurteilten Gelegenheit, sich hierzu binnen zehn Tagen ab Zugang des Schreibens zu äußern.
8f) Mit Beschluss vom erklärte sich die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn für örtlich unzuständig und gab das Verfahren an die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen ab. Sie vertritt die Auffassung, die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen sei am , als das Landgericht Bonn von der rechtskräftigen Verurteilung des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom selben Tag erfahren habe, bereits mit der Sache befasst im Sinne von § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO gewesen.
9Mit Beschluss vom erklärte sich die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen hinsichtlich der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung für örtlich unzuständig und legte die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vor.
102. Der Bundesgerichtshof ist nach § 14 StPO als gemeinschaftliches oberstes Gericht der Landgerichte Bonn (Bezirk des Oberlandesgerichts Köln) und Essen (Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm) zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.
113. Für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist gemäß § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 453 StPO die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn zuständig, weil sie bereits bei Übergang der Untersuchungshaft in Strafhaft am mit der Frage des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung befasst war und wegen der bei ihr andauernden Führungsaufsicht ihre einmal begründete Zuständigkeit noch nicht entfallen war (§ 462a Abs. 1 und 4 StPO; vgl. Senat, Beschluss vom – 2 ARs 180/78, BGHSt 28, 82 f.; OLG Zweibrücken, NStZ 2010, 109).
12Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift vom u.a. ausgeführt:
„Wird gegen einen Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt, so ist für alle den Verurteilten betreffenden nachträglichen Entscheidungen die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt (§ 462a Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Sätze 1, 3 StPO). Dies gilt unabhängig davon, ob während oder - wie hier - nach der Zeit der Inhaftierung eine Entscheidung in der Sache zu treffen ist (Senat, Beschluss vom – 2 ARs 293/81, BGHSt 30, 223 ff.). Auch nach der Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug bleibt die Strafvollstreckungskammer für alle weiteren ihn betreffenden nachträglichen Entscheidungen zuständig (§ 462a Abs. 1 Satz 2 StPO). Die einmal begründete Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer wirkt fort und endet erst, wenn die Vollstreckung hinsichtlich aller Verurteilungen, für die die Strafvollstreckungskammer infolge des Konzentrationsprinzips zuständig geworden ist, vollständig erledigt ist oder eine anderweitige Vollstreckung im Bereich eines anderen Landgerichts stattgefunden hat (Senat, Beschluss vom – 2 ARs 115/07; OLG Zweibrücken, Beschluss vom – 1 Ws 139/01, NStZ 2010, 109; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 462a Rn. 13 mwN).
Bei Entscheidungen, die wie die Frage des Widerrufs der Strafaussetzung von Amts wegen zu treffen sind, wird die Strafvollstreckungskammer schon dann mit der Frage befasst, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die den Widerruf rechtfertigen können (Senat, Beschlüsse vom – 2 ARs 41/00, NStZ 2000, 391 und vom – 2 ARs 112/97, NStZ 97, 406; – 5 Ws 81/06, juris). Aktenkundigkeit und damit Befasstsein der bislang zuständigen Strafvollstreckungskammer liegen bereits dann vor, wenn ihr eine neue Verurteilung, eine Anklageschrift oder ein Haftbefehl in einer neuen Sache oder der Bericht eines Bewährungshelfers mitgeteilt werden, aus dem sich Widerrufsgründe ergeben (Senat, Beschluss vom – 2 ARs 113/15, NStZ-RR 2005, 69; , NStZ 2010, 295; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 462a Rn. 11b).
[…] Durch die Übersendung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom […] wurde dem Landgericht Bonn im Nachgang zu den Mitteilungen der Bewährungshelferin der dem Verurteilten im Einzelnen angelastete Lebenssachverhalt bekannt. Aus den Gründen des in dieser Sache ergangenen Urteils des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom , eingegangen bei der Strafvollstreckungskammer Bonn am , war überdies ersichtlich, dass sich der Verurteilte hinsichtlich des Vorwurfs, vorsätzlich ohne Fahrerlaubnis ein Fahrzeug geführt zu haben, in der Hauptverhandlung geständig eingelassen hatte […].
Angesichts des nach der Verurteilung vom im Verfahren 40 Ds-56 Js 1209/19-59/20 erfolgten einschlägigen strafrechtlichen Verhaltens, welches der Verurteilte geständig eingeräumt hatte, lag ein möglicher Widerrufsgrund gem. § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB vor; ein glaubhaftes Geständnis der neuen Tat vor einem Richter reicht hierfür nach der Rechtsprechung aus (, NStZ 2005, 204; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 56f Rn. 7a mwN). Das Landgericht Bonn hatte daher Anlass, den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu prüfen.
[…] Eine endgültige Entscheidung, dass das dem Verurteilten im Verfahren der Staatsanwaltschaft Gelsenkirchen [richtig: Essen] angelastete Verhalten keinen Widerrufsgrund darstellte, hat das Landgericht Bonn nicht getroffen. Die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn hätte daher spätestens nach dem (rechtskräftigen) Abschluss dieses Verfahrens die Frage des Widerrufs nochmals prüfen müssen.
Das Befasstsein mit einer Sache im Sinne von § 462a Abs. 1 StPO endet jedoch erst, wenn in der Sache abschließend entschieden worden ist; vorher tritt ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über die anhängige Sache nicht ein (Senat, Beschluss vom – 2 ARs 181/75, BGHSt 26, 165 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 462a Rn. 12 f. mwN).
Das am rechtskräftig abgeurteilte weitere Tatgeschehen […] stellte lediglich eine weitere bei der Entscheidung über den Widerruf zu berücksichtigende Tatsache dar. Es trifft indes nicht zu, dass das Landgericht Bonn […] erst am mit der Sache befasst worden wäre, zumal auch zuvor aufgrund des Schreibens der Bewährungshelferin vom und des beim Landgericht Bonn am eingegangenen Vollstreckungsblatts der Justizvollzugsanstalt Essen […] bekannt war, dass sich der Verurteilte für ein weiteres neues Strafverfahren in Untersuchungshaft befand.
Mit der Aufnahme des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt Essen wurde zwar eine originäre neue Konzentrationszuständigkeit der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen begründet, die sich auf nachträgliche Entscheidungen wegen aller rechtskräftigen Verurteilungen erstreckt. Soweit die fortwirkend zuständige Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen [richtig: Bonn] bei Beginn des Strafvollzugs bereits mit einer konkreten Fragestellung – dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung – befasst war, bleibt diese in Bezug auf diese Frage bis zu deren abschließenden Entscheidung neben der anderweitig bestehenden Konzentrationszuständigkeit der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen hierfür zuständig. Die Vorrangregelung des § 462a Abs. 4 Satz 3 StPO gilt hingegen nur im Verhältnis zwischen erstinstanzlichem Gericht und Strafvollstreckungskammer (vgl. Senat, Beschlüsse vom – 2 ARs 174/81, BGHSt 30, 189 ff., vom – 2 ARs 30/06 – Rn. 5, NStZ-RR 2007, 94 und vom – 2 ARs 174/81, BGHSt 26, 165 ff.; KK-StPO/Appl, 8. Aufl., § 462a Rn. 16).“
13Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:240522B2ARS96.22.0
Fundstelle(n):
FAAAJ-29096