BGH Urteil v. - III ZR 13/22

Berufungsverfahren: Pflicht des Einzelrichters zur Vorlage der Rechtssache an den vollbesetzten Spruchkörper zur Übernahme; grundsätzliche Bedeutung der Sache; von Amts wegen zu berücksichtigende unterlassene Vorlage

Leitsatz

1. Hat das Berufungsgericht die Sache einem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen und ergibt sich danach aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, muss der Einzelrichter gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO die Sache dem vollbesetzten Spruchkörper zur Übernahme vorlegen und dieser sie nach § 526 Abs. 2 Satz 2 ZPO übernehmen.

2. Grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne haben auch die Fälle der Rechtsfortbildung und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, einschließlich die Fälle einer sog. Innendivergenz.

3. Beruht eine unterlassene Vorlage auf Willkür, ist dieser Verstoß ungeachtet der Regelung des § 526 Abs. 3 ZPO sowie von Amts wegen zu berücksichtigen (Fortführung u.a. von BGH, Beschlüsse vom - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, 202; vom - II ZB 14/02, NJW 2004, 448, 449 und vom - VI ZB 13/20, NJW-RR 2022, 570 Rn. 5).

Gesetze: § 526 Abs 2 S 1 Nr 1 ZPO, § 526 Abs 2 S 2 ZPO, § 526 Abs 3 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 3 U 90/20 Urteilvorgehend LG Frankfurt Az: 2-28 O 243/18

Tatbestand

1Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen seiner Ansicht nach begangener Pflichtverletzungen im Rahmen der Begleitung des deutschen Börsengangs der schwedischen Aktiengesellschaft "Trig Social Media AB" (im Folgenden: TSM). Die Beklagte betreibt eine Wertpapierhandelsbank und ist insbesondere im Bereich Aktienhandel und Emissionsbetreuung tätig.

2Die TSM verfügte über ein Grundkapital von 72.750 €, das auf rund 363 Millionen Stammaktien mit einem Nennwert von 0,0002 € aufgeteilt war. In den Jahren 2009 bis 2013 war das Unternehmen nicht kommerziell tätig. Ab 2014 war Gesellschaftszweck der Betrieb der Social-Media-Plattform "trig.com". In Ergänzung der Plattform sollte die TSM einen "Cashback-Scanner" für Rückvergütungen im Online-Shopping entwickeln und anbieten.

3Am beantragte die Beklagte die Zulassung der TSM-Aktien zum Handel im regulierten Markt der Frankfurter Wertpapierbörse (im Folgenden: FWB). Anfang August 2014 folgte ein überarbeiteter Antrag. Den von der schwedischen Finanzaufsicht gebilligten Verkaufsprospekt notifizierte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden: BaFin) am . Die Beklagte ist darin als "Listing Agent" und "Beraterin des Prospekts" aufgeführt. Am ließ die FWB die TSM-Aktien zum Handel zu. Der erste Handel fand am statt. Ein erster, mit der TSM abgestimmter, Ausgabepreis ("indikativer Quote") lag zwischen 2,81 € und 3,15 €. Die erste Order erfolgte über 8.500 Aktien zum Preis von 3,00 €.

4Der Kläger erwarb am 3.000 Aktien für 9.491,82 € und am weitere 2.000 Aktien zum Preis von 6.214,26 €.

5Am erstattete die BaFin Strafanzeige wegen des Verdachts der Marktmanipulation.

6Der Kläger macht geltend, die Beklagte hafte als Prospektverantwortliche. Jedenfalls habe er einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 826, 830 BGB, da die Beklagte durch den ersten indikativen Quote zur stark überhöhten Darstellung des Aktienwerts beigetragen und dadurch die Anleger zur Eingehung chancenloser Geschäfte verleitet habe. Zudem habe sich die Beklagte nach Börsenzulassung mehrfach an einer Kursmanipulation durch abgesprochene Geschäfte beteiligt. Er begehrt Erstattung der von ihm gezahlten Kaufpreise Zug-um-Zug gegen Übertragung der Rechte aus den von ihm erworbenen Aktien.

7Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht der Klage vollumfänglich stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Gründe

8Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

9Die Einzelrichterin des Berufungsgerichts hat angenommen, die Beklagte habe Beihilfe zu einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung des Klägers durch den Vorstand der TSM geleistet. Sie habe sich jedenfalls unter besonders leichtfertiger Verletzung ihrer Berufspflichten als Zulassungsantragstellerin und Spezialistin der Erkenntnis bewusst verschlossen, dass das Preisniveau der TSM-Aktien manipulativ extrem überhöht gewesen sei und ein Kauf derselben für potentielle Anleger keine Gewinnchance beinhaltet habe. Die Beklagte habe die mangelnde Tragfähigkeit des Geschäftsmodells der TSM gekannt.

10Die Einzelrichterin hat die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zugelassen, da am Oberlandesgericht weitere Parallelverfahren anhängig beziehungsweise schon entschieden sein dürften. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO bestehe hingegen nicht, da die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Beihilfe bei Vermittlung von chancenlosen Geschäften beachtet worden sei.

II.

11Das angefochtene Urteil unterliegt schon deswegen der Aufhebung, weil es unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ergangen ist. Die Einzelrichterin hätte die Sache gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Berufungsgericht zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen und das Berufungsgericht hätte das Verfahren nach § 526 Abs. 2 Satz 2 übernehmen müssen, da sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben hatte. Dieser Verstoß ist im vorliegenden Fall ungeachtet der Regelung des § 526 Abs. 3 ZPO sowie von Amts wegen zu berücksichtigen.

121. a) Gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO legt der Einzelrichter, dem die Sache gemäß § 526 Abs. 1 ZPO zur Entscheidung übertragen worden ist, den Rechtsstreit dem Berufungsgericht, das heißt dem vollbesetzten Spruchkörper, zur Entscheidung über eine Übernahme vor, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten oder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Einzelrichter zur Vorlage des Rechtsstreits verpflichtet (vgl. Senat, Urteil vom - III ZR 38/18, NJW-RR 2019, 942 Rn. 10; , NJW 2003, 2900, 2901; vgl. auch die st. Rspr. zu § 568 ZPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, 202; vom - II ZB 14/02, NJW 2004, 448, 449 und vom - VI ZB 13/20, NJW-RR 2022, 570 Rn. 5 mwN; zu § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG vgl. Senat, Beschluss vom - III ZB 66/05, NJW-RR 2006, 286 Rn. 3), und das Berufungsgericht hat ihn gemäß § 526 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu übernehmen (vgl. MüKo-ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, § 526 Rn. 24; Stein/Jonas/Althammer, 23. Aufl. 2018, § 526 Rn. 12).

13Eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur in den Fällen des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 beziehungsweise § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO vor. Vielmehr umfasst der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung in § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO ebenso wie in § 348 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 348a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 526 Abs. 1 Nr. 3 und § 568 S. 2 Nr. 2 ZPO neben der grundsätzlichen Bedeutung im engeren Sinn auch die in § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO genannten Fälle der Rechtsfortbildung und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 99; BGH, Beschlüsse vom aaO; vom - XII ZB 188/02, NJW 2003, 3712 und vom - V ZB 53/02, NJW 2004, 223). Grundsätzliche Bedeutung haben auch die Fälle der sogenannten Innendivergenz, das heißt die Fälle, in denen innerhalb eines Spruchkörpers unterschiedliche Auffassungen über die Beurteilung der Sach- oder Rechtslage bestehen (vgl. BT-Drucks. aaO; Musielak/Voit/Ball, ZPO, 19. Aufl., § 526 Rn. 8; Stein/Jonas/Althammer aaO; Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 5. Aufl., § 526 Rn. 16). Das Ziel der Rechtseinheitlichkeit, dem die Zivilprozessordnung durch vielfältige Regelungen Rechnung trägt, dient der Rechtssicherheit (vgl. BT-Drucks. aaO S. 64) und schützt das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat, indem schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung vermieden werden sollen (vgl. BT-Drucks. aaO S. 104).

14Weitere Voraussetzung für die Vorlage und Rückübernahme gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 ZPO ist, dass die grundsätzliche Bedeutung sich aus einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage seit der Übertragung auf den Einzelrichter ergeben hat. Hält das Kollegium die Sache nicht für rechtsgrundsätzlich und überträgt es sie deshalb an den Einzelrichter, kann dieser sie dem vollbesetzten Spruchkörper nicht schon deshalb wieder zu einer Übernahmeentscheidung vorlegen, weil er sie, anders als das Kollegium, für grundsätzlich hält. Eine wesentliche Änderung der Prozesslage muss hinzukommen (vgl. Senat, Urteil vom aaO; aaO; vom - IX ZR 117/11, NJW-RR 2013, 161 Rn. 32 und vom - V ZR 221/15, NJW-RR 2017, 260 Rn. 7; , BGHZ 158, 74, 76). Fehlt ein solcher Rückübertragungsgrund, ist der Einzelrichter weiterhin der gesetzliche Richter und daher auch befugt, die Revision zuzulassen. Das Ziel einer zügigen Verfahrenserledigung geht in diesem Fall dem Bestreben des Gesetzgebers, die Zulassung der Revision durch einen Einzelrichter grundsätzlich auszuschließen (vgl. BT-Drucks. aaO S. 99; , ZWE 2013, 131 Rn. 5 und vom aaO Rn. 6), vor.

15b) § 526 Abs. 3 ZPO schließt allerdings grundsätzlich eine Überprüfung der Entscheidung über die Übertragung, Vorlage oder Übernahme der Sache aus. Dieses Nachprüfungsverbot schützt die Zulassung der Revision durch das Kollegium, damit nicht trotz Bindung an die Zulassung geltend gemacht werden kann, die Sache sei nicht grundsätzlich und daher vom Berufungsgericht in falscher Besetzung entschieden worden. Es schützt ferner die sachliche Nachprüfbarkeit von Einzelrichterentscheidungen in den Fällen, in denen der Einzelrichter ohne Willkür von einer Vorlage der Sache an den Spruchkörper gemäß § 526 Abs. 2 ZPO abgesehen hat (vgl. aaO S. 204 zu § 568 Satz 3 ZPO). § 526 Abs. 3 ZPO greift jedoch dann nicht ein, wenn die Entscheidung auf Willkür beruht, weil in einem solchen Fall eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt (vgl. aaO Rn. 7; Wieczorek/Schütze/Gerken aaO Rn. 20; vgl. auch , MDR 2016, 413 Rn. 9 zu § 68 FamFG; in diese Richtung auch bereits , BGHZ 170, 180 Rn. 5). Aus diesem Grund ist auch eine Heilung des Verstoßes gemäß § 295 ZPO nicht möglich (vgl. , NJW 2009, 1351 Rn. 13 und vom - II ZR 112/11, juris Rn. 7; MüKo-ZPO/Prütting, 6. Aufl. 2020, § 295 Rn. 22, jew. mwN).

162. Ein nach diesen Maßstäben im Revisionsverfahren zu berücksichtigender Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt vor.

17a) Die Einzelrichterin hätte das Verfahren gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Berufungssenat zur Übernahme vorlegen müssen, statt zur Sache zu entscheiden und die Revision zwecks Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen.

18Zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung am bestand innerhalb des Senats eine Divergenz hinsichtlich der Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Während die Einzelrichterin in dem vorliegenden Rechtsstreit das Vorgehen der Beklagten als eine vorsätzliche Beihilfe zu den Manipulationen des Vorstands der TSM beurteilt hat, war der Berufungssenat in seinem Beschluss vom im Parallelverfahren 3 U 133/21 insoweit lediglich von Fahrlässigkeit der Beklagten ausgegangen (siehe Schriftsatz des Klägers vom , S. 1 = GA III S. 485; vgl. auch Schriftsatz der Beklagten vom , S. 5 = GA III S. 481).

19Auch die weitere Voraussetzung für die Rückgabe einer Sache an den vollbesetzten Spruchkörper, dass der nach § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO maßgebliche Umstand nach der Übertragung auf den Einzelrichter eingetreten ist, ist erfüllt. Von der Würdigung der Einzelrichterin abweichende Entscheidungen bereits zum Zeitpunkt der Übertragung der Sache auf sie am sind nicht ersichtlich. Zwar war in dem genannten Parallelverfahren 3 U 133/21 bereits am ein Hinweisbeschluss ergangen, in dem das Berufungsgericht nicht von einem widerrechtlichen beziehungsweise vorsätzlichen Handeln der Beklagten ausging (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom , S. 5 = GA III 481). Hierbei handelte es sich aber nur um eine vorläufige, unter dem Vorbehalt besserer Erkenntnisse nach den Stellungnahmen der Parteien stehende Würdigung. Die Innendivergenz zwischen den Auffassungen des Berufungsgerichts und seiner im vorliegenden Fall erkennenden Einzelrichterin entstand erst, als sie sich aufgrund der mündlichen Verhandlung vom entschloss, von dem Beschluss vom abzuweichen.

20b) Die Sache gleichwohl nicht dem Berufungssenat vorzulegen, war objektiv willkürlich. Bei der Annahme von Willkür ist allerdings Zurückhaltung geboten. Nicht jede entgegen § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO unterlassene Vorlage rechtfertigt diesen (objektiven) Vorwurf. Die Besonderheiten der vorliegenden Fallgestaltung zwingen indessen zu einer solchen Würdigung.

21Die Einzelrichterin hat, wie ihre Begründung der Zulassung der Revision zeigt, im Ausgangspunkt zwar erkannt, dass eine einheitliche Würdigung des Vorgehens der Beklagten im Zusammenhang mit der Börseneinführung der TSM-Aktien nicht gewährleistet war. Sie hat jedoch verkannt, dass die Einheitlichkeit der Rechtsprechung (zunächst) im Wege der Vorlage gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO und nicht durch die Zulassung der Revision herbeizuführen war, weil eine Divergenz innerhalb des Berufungssenats nach der Übertragung der Sache an sie entstanden war. Ungeachtet dessen, dass die Einzelrichterin auch den Pflichtenkreis der Beklagten abweichend von dem übrigen Berufungssenat gesehen hat, beruht ihre Beurteilung, dass der gegen die Beklagte erhobene Vorwurf der Teilnahme (§ 830 Abs. 1 Satz 1 BGB) an einem deliktischen Verhalten des Vorstands der TSM zutreffend ist, vor allem auch auf einer Würdigung der Einzelfallumstände, die in erster Linie dem Tatrichter obliegt und vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. , NJW 2004, 3423, 3425 mwN). Demzufolge bedeutete die unterbliebene Vorlage der Sache an das Kollegium des Berufungssenats eine schwerwiegende, objektiv unhaltbare Verkürzung der Verteidigungsmöglichkeiten der Beklagten - wie im Übrigen auch der Angriffsmittel des Klägers. Die Zulassung der Revision gleicht dies wegen des hinsichtlich der tatrichterlichen Würdigung eingeschränkten Prüfungsmaßstabs nicht aus.

22Sollte die Einzelrichterin von einem engeren Verständnis der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 ZPO ausgegangen sein, ist dies unerheblich, weil die Frage, ob Willkür vorliegt, anhand objektiver Kriterien festzustellen ist (vgl. BVerfGE 80, 48, 51; 89, 1, 13 f; 96, 189, 203; , NJW 2005, 153).

233. Den Verstoß gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters hat der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen.

24Zwar hat die Rechtsprechung in den Fällen des § 551 Nr. 1 ZPO a.F. (nunmehr § 547 Nr. 1 ZPO) eine Besetzungsrüge verlangt (vgl. Senat, Urteil vom - III ZR 85/63, BGHZ 41, 249, 254 sowie Beschluss vom - III ZR 114/85, NJW 1986, 2115; , NJW 1992, 512). Daran ist auch grundsätzlich festzuhalten (vgl. aaO S. 203). Die den vorzitierten Entscheidungen zugrunde liegenden Konstellationen betrafen die Verkündung des Urteils eines Spruchkörpers durch einen anderen und daher unzuständigen Spruchkörper (Senat, Urteil vom aaO), die Rüge, der planmäßige Senatsvorsitzende sei nicht gehindert gewesen, die zum Berufungsurteil führende mündliche Verhandlung zu leiten (Senat, Beschluss vom aaO), sowie die Rüge, der Senat eines Oberlandesgerichts sei deshalb nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil ein Hilfsrichter mitgewirkt habe, der nur wegen einer allgemeinen Beförderungssperre noch nicht in eine Planstelle habe eingewiesen werden können ( aaO). Diesen Fällen war gemein, dass die gerügten Besetzungsfehler auf den Rechtsmittelzug keinen Einfluss hatten (vgl. aaO).

25Der Bundesgerichtshof hat indes im Hinblick auf die § 526 Abs. 3 ZPO entsprechende Regelung des § 568 Satz 3 ZPO bereits ausgeführt, dass diese Fälle mit der willkürlichen Zuständigkeitsüberschreitung des originären Einzelrichters im Beschwerdeverfahren bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung nicht vergleichbar sind und es dort der Erhebung einer Verfahrensrüge nicht bedarf (vgl. BGH aaO sowie Beschluss vom aaO Rn. 9; aA MüKo-ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 526 Rn. 32). Die vorgenannten Fallgestaltungen weichen grundlegend von der Entscheidung eines Einzelrichters ab, der von der Rechtsprechung seines Spruchkörpers abweichen will oder der eine uneinheitliche Rechtsprechung innerhalb dieses Spruchkörpers erkennt, gleichwohl von einer Vorlage der Sache an den Spruchkörper absieht und stattdessen die Revision zulässt. Zu entsprechendem Vorgehen eines Einzelrichters im Beschwerdeverfahren hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, es bestehe ein öffentliches Interesse an der Wahrung der Funktionsfähigkeit des für die Klärung von Rechtsfragen mit grundsätzlicher Bedeutung eingeführten Rechtsbeschwerdeverfahrens. Wenn dieses Verfahren die ihm vom Gesetzgeber zugewiesene Aufgabe erfüllen solle, müsse das Rechtsbeschwerdegericht auch von Amts wegen darauf achten, dass in der Beschwerdeinstanz nicht unter Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf den gesetzlichen Richter die Zuständigkeitsverteilung zwischen Einzelrichter und Kollegium verschoben werde (vgl. aaO unter Verweis auf BAG, NJW 1962, 318). Diese Erwägungen gelten in gleicher Weise bei einer willkürlichen Verhinderung einer Entscheidung durch den vollbesetzten Spruchkörper im Berufungsverfahren.

26Es kommt bei der vorliegenden Fallgestaltung hinzu, dass zuvörderst der Berufungssenat selbst berufen ist, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung innerhalb seines Spruchkörpers zu wahren. § 21f GVG stellt diesen unter die Leitung eines Vorsitzenden, dem es unter anderem obliegt, auch kraft seines richtungsweisenden Einflusses auf die Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschlüsse des Großen Senats für Zivilsachen vom - GSZ 1/61, BGHZ 37, 210, 213 und vom - GSZ 1/67, BGHZ 49, 64, 65 f sowie Beschlüsse vom - RiZ (R) 4/82, BGHZ 88, 1, 6 und vom - RiZ (R) 5/90, NJW 1992, 46, 47) die Einheitlichkeit der Rechtsprechung seines Spruchkörpers zu gewährleisten (vgl. , NJW 2015, 1685 Rn. 34 und vom - XII ZR 50/14, NJW-RR 2017, 635 Rn. 13; Beschluss vom aaO; BeckOK GVG/Valerius, 16. Ed. , GVG § 21f Rn. 1). Diese Aufgabe kann er nur dann erfüllen, wenn das Kollegium in voller Besetzung in solchen Rechtssachen entscheidet, bei denen intern unterschiedliche Auffassungen zur Beurteilung des Sachverhalts oder der Rechtslage zum Tragen kommen. Das Vorgehen der Einzelrichterin beschädigt damit nicht nur die Funktionalität des Revisionsverfahrens, sondern zugleich in besonderer Weise auch jene des Spruchkörpers.

III.

27Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird sich auch mit den von der Revision erhobenen Sachrügen befassen müssen, auf die einzugehen der Senat zum derzeitigen Verfahrensstand keine Veranlassung hat.

28Wegen der durch die Revision angefallenen Gerichtskosten macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG Gebrauch.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:101122UIIIZR13.22.0

Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 10 Nr. 52
NJW 2023 S. 922 Nr. 13
NJW 2023 S. 924 Nr. 13
WM 2023 S. 1342 Nr. 28
WM 2024 S. 774 Nr. 17
MAAAJ-28972