Versicherungsschutz in der Wohngebäudeversicherung: Begriff des Erdrutsches
Leitsatz
Der in den Klauseln zu einer Wohngebäudeversicherung (hier: Klauseln zu den WGB F 01/08 K.7) als "naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen" definierte Begriff "Erdrutsch" erfasst auch Schäden am Versicherungsobjekt, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden.
Instanzenzug: OLG Bamberg Az: 1 U 127/21vorgehend LG Bamberg Az: 41 O 301/20 Ver Urteil
Tatbestand
1Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer Wohngebäudeversicherung geltend, der unter anderem Wohngebäudeversicherungsbedingungen der Beklagten (WGB F 01/08) sowie Klauseln zu den WGB F 01/08 zugrunde liegen. Der Versicherungsschutz erstreckt sich auf Schäden durch weitere Elementargefahren, unter anderem Erdrutsch. Dazu bestimmen die Klauseln zu den WGB F 01/08 in K.7:
"Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen."
2Das versicherte Grundstück des Klägers liegt am vorderen Rand einer vor etwa 80 Jahren am Hang aufgeschütteten Terrasse. Im Jahre 2018 zeigte der Kläger bei der Beklagten Schäden in Form von Rissbildungen an seinem Wohnhaus und auf der zugehörigen Terrasse an. Eine Übernahme der Kosten für die Beseitigung der Schäden lehnte die Beklagte ab.
3Der Kläger behauptet, die Schäden seien einzig mit einem Erdrutsch erklärbar. Sie seien durch nicht augenscheinliche Rutschungen des Untergrunds von wenigen Zentimetern pro Jahr verursacht. Für die Rissinstandsetzung und Malerarbeiten seien geschätzte Aufwendungen in Höhe von 20.000 €, für die gesamte Beseitigung der Schäden Kosten im Bereich von insgesamt 100.000 € zu erwarten. Den genannten Betrag für die Rissinstandsetzung und Malerarbeiten nebst Zinsen verlangt der Kläger als Vorschuss; ferner begehrt er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung aller weiteren versicherten Schäden sowie Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten.
4In den Vorinstanzen ist die Klage erfolglos geblieben. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Gründe
5Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
6I. Nach dessen Auffassung fehlt es auf der Grundlage des Sachvortrags des Klägers an einem die Leistungspflicht der Beklagten auslösenden Erdrutsch. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer werde unter einem "Erdrutsch" im Sinne der Versicherungsbedingungen sinnlich wahrnehmbare Vorgänge verstehen, nicht hingegen auch sich langsam über Jahre hinweg vollziehende Erdbewegungen. Über einen längeren Zeitraum schleichend vonstattengehende allmähliche und bis zur Schadensentstehung unbemerkt bleibende Erdbewegungen seien auch mit dem allgemeinen Wortsinn der für die Definition herangezogenen Begriffe des "Abgleitens" und "Abstürzens" nicht in Einklang zu bringen. Beide Formulierungen implizierten ein Bewegungsmoment und legten erkennbar nahe, dass es sich hierbei um Vorgänge handele, die sich mit einer gewissen sinnlich wahrnehmbaren Dynamik vollzögen. Die Geologie verwende für langfristig langsam verlaufende, sich nicht beschleunigende Bewegungen von Erdmassen ohne ausgeprägte Gleitflächen den Begriff des "Erdkriechens". Hieraus ergebe sich, dass langsame, sinnlich nicht wahrnehmbare Erdbewegungen in Form des "Erdkriechens" vom Begriff des "Erdrutsches" als einem anderen geologischen Vorgang nicht umfasst seien. Auch die weiteren versicherten Schäden wie Überschwemmungen, Rückstau, Erdfall, Schneedruck, Lawinen und Vulkanausbrüche seien deutlich wahrnehmbare Vorgänge, die sich als plötzlich auftretende Naturereignisse mit einer gewissen Dynamik vollzögen.
7II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
8Der Begriff "Erdrutsch" im Sinne der Bestimmung in K.7 der Klauseln zu den WGB F 01/08 erfasst auch Schäden am Versicherungsobjekt, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden.
91. Allerdings ist in Rechtsprechung und Literatur streitig, ob in einer Elementarschadenversicherung bei einer Klauselfassung wie der vorliegenden die versicherte Gefahr "Erdrutsch" ein in einer solchen Geschwindigkeit ablaufendes Ereignis voraussetzt, dass die Bewegung des Erdreichs sinnlich wahrnehmbar ist (so , BeckRS 2017, 145362 Rn. 3 f.; LG Tübingen r+s 2017, 351 Rn. 28; MünchKomm-VVG/Günther, 2. Aufl. 230. Elementarschadenversicherung Rn. 77a; ders., FD-VersR 2020, 434135; ders., FD-VersR 2021, 437881; Wussow, VersR 2008, 1292, 1297; vgl. auch zu einer abweichenden Klauselfassung von Rintelen in Martin/Reusch/Schimikowski/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 120; zur Erdsenkung siehe OLG Nürnberg r+s 2007, 329), oder auch dann vorliegt, wenn sich Bodenbestandteile über einen länger andauernden Zeitraum unmerklich verlagern, mithin das Leistungsversprechen des Versicherers auch allmählich eintretende Schäden umfasst (OLG Koblenz VersR 2015, 67 [juris Rn. 12]; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. § 4 VGB 2016 - Wert 1914 GNP Rn. 14; HK-VVG/Halbach 4. Aufl. A 6 VHB 2016 (QM) Rn. 14; Hoenicke in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess 4. Aufl. § 4 Rn. 127; von Rintelen in Martin/Reusch/Schimikowski/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 119; Schulz-Merkel, jurisPR-VersR 7/2015 Anm. 4; vgl. auch W. Schneider in MAH-VersR, 5. Aufl. § 9 Rn. 378; zu Erdsenkung bzw. Erdfall siehe LG Detmold r+s 2021, 274 Rn. 23).
102. Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Das ergibt die Auslegung der Klausel, deren Anwendung - anders als das Berufungsgericht meint - nicht auf plötzliche und sinnlich wahrnehmbare Vorgänge beschränkt ist.
11a) Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (Senatsurteil vom - IV ZR 144/21, VersR 2022, 312 Rn. 10; st. Rspr.).
12b) Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich um ein in der Elementarschadenversicherung versichertes Ereignis handelt, wenn sich Bodenbestandteile über einen längeren Zeitraum verlagern und hierdurch Schäden in Form von Rissbildungen am versicherten Gebäude verursacht werden, wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer zunächst vom Wortlaut der Bedingungen ausgehen, wobei für ihn der Sprachgebrauch des täglichen Lebens und nicht etwa eine Terminologie, wie sie in bestimmten Fachkreisen üblich ist, maßgebend ist (Senatsurteil vom - IV ZR 533/15, r+s 2017, 252 Rn. 13 m.w.N.). Rechtsfehlerhaft ist deshalb die Anknüpfung des Berufungsgerichts an die in der Geologie gebräuchliche Unterscheidung langfristig und langsam verlaufender Bewegungen von Erdmassen ohne ausgeprägte Gleitflächen von solchen, die eine Bewegung von Gleitflächen voraussetzen, und die fachliche Klassifizierung dieser Vorgänge als "Erdkriechen" und "Erdrutsch", die im Wortlaut der Bedingungen keinen Niederschlag findet. Insoweit legt das Berufungsgericht seiner Beurteilung - worauf die Revision zu Recht hinweist - einen Prüfungsmaßstab zugrunde, der von der ständigen Rechtsprechung des Senats abweicht.
13Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird vielmehr die in K.7 der Klauseln zu den WGB F 01/08 enthaltene Definition des Begriffs "Erdrutsch" zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nehmen und erkennen, dass der versicherte Tatbestand mit einem naturbedingten Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen zwei unterschiedliche Vorgänge einschließt, denen zwar in der Variante des "Abstürzens" ein plötzliches Ereignis immanent ist, das aber in der Alternative des "Abgleitens", welches nach allgemeinem Sprachgebrauch einen Haftungs- oder Haltverlust und eine unbeabsichtigte Bewegung seitwärts und nach unten umschreibt (vgl. Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Band 1 Stichwort abgleiten), gerade nicht gefordert wird.
14Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird der Klausel mangels entsprechender Klarstellung auch nicht entnehmen, dass sinnlich nicht wahrnehmbare Erdbewegungen über einen längeren Zeitraum nicht unter den versicherten Tatbestand fallen. Hierbei muss angesichts der eigenständigen Definition des Begriffs "Erdrutsch" in den Versicherungsbedingungen nicht entschieden werden, ob der Begriff des "Rutschens" nach allgemeinem Sprachgebrauch einen sensorisch erfassbaren Vorgang beschreibt und sich für den Versicherungsnehmer unmerklich über einen längeren Zeitraum vollziehende Erdbewegungen geringen Ausmaßes ausschließt (entgegen MünchKomm-VVG/Günther, 2. Aufl. 230. Elementarschadenversicherung Rn. 77a; ders., FD-VersR 2020, 434135; ders., FD-VersR 2021, 437881; vgl. auch zu einer abweichenden Klauselfassung von Rintelen in Martin/Reusch/Schimikowski/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 120; Hoenicke in Wälder/Hoenicke/Krahe, Sach- und Betriebsunterbrechungsversicherung, 2022, F Rn. 48).
15Soweit die Revisionserwiderung darauf verweist, der Versicherungsnehmer werde auch aus dem Umstand, dass die Klausel das Abgleiten (oder Abstürzen) "von Gesteins- oder Erdmassen" verlangt, das zusätzliche Erfordernis eines sinnlich wahrnehmbaren Vorgangs herleiten, gilt nichts Anderes. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird dies nicht als Hinweis darauf verstehen, dass die Massenbewegung eine Mindestgeschwindigkeit aufweisen muss, mithin Kriechvorgänge vom Versicherungsschutz ausgenommen sind (vgl. von Rintelen in Martin/Reusch/Schimikowski/Wandt, Sachversicherung 4. Aufl. § 8 Rn. 116, 119).
16c) Strengere Anforderungen lassen sich für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer auch nicht aus dem für ihn erkennbaren Sinn und Zweck des Leistungsversprechens ableiten. Der vom Berufungsgericht für seine abweichende Auffassung herangezogene Vergleich mit den Regelungen zu den übrigen in der Elementarschadenversicherung versicherten Ereignissen (Überschwemmung, Rückstau, Erdbeben, Erdfall, Schneedruck, Lawinen, Vulkanausbruch) muss den Versicherungsnehmer nicht zu der Erkenntnis verleiten, nur deutlich wahrnehmbare Vorgänge, die sich als plötzlich auftretende Naturereignisse mit einer gewissen Dynamik vollziehen, seien vom Versicherungsschutz umfasst. Eine Plötzlichkeit des Ereignisses wird auch für die übrigen Elementargefahren - mit Ausnahme des Vulkanausbruchs, der nach K.10 der Klauseln zu den WGB F 01/08 eine plötzliche Druckentladung beim Aufreißen der Erdkruste voraussetzt - nach dem Wortlaut der Bedingungen gerade nicht gefordert (vgl. Wussow, VersR 2008, 1292; Behrens, r+s 2020, 489, 490).
17d) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung lässt sich schließlich hinsichtlich des Erfordernisses eines sinnlich wahrnehmbaren Vorganges weder aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung des Begriffs "Erdrutschung" in § 4 I Nr. 5 AHB noch aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung zu § 4 Abs. 3 Buchst. c VGB 62 und inhaltsgleichen Klauseln in der Wohngebäudeversicherung etwas Gegenteiliges herleiten. Die von der Revisionserwiderung angeführten Entscheidungen des , VersR 1956, 789 unter I; vgl. auch IVa ZR 202/86, VersR 1988, 1259 [juris Rn. 6 ff.]; vom - IV ZR 26/69, VersR 1970, 611 [juris Rn. 12 ff.]) und des (VerBAV 1985, 286) betrafen jeweils - den Begriff des Erdrutsches ohnehin nicht näher beschreibende - Risikoausschlussklauseln, die nach ständiger Rechtsprechung des Senats eng und nicht weiter auszulegen sind, als es ihr Sinn unter Beachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise erfordert (vgl. nur Senatsurteil vom - IV ZR 324/19, r+s 2021, 398 Rn. 21), während es hier um eine primäre Leistungsbeschreibung geht, deren Auslegung anderen Grundsätzen unterliegt.
18III. Die Sache ist nach allem an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da es zur Entscheidung des Rechtsstreits noch weiterer Feststellungen bedarf. Insoweit wird das Berufungsgericht mit sachverständiger Hilfe zu klären haben, ob die Behauptung des Klägers zur Ursache der Rissbildungen zutrifft.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:091122UIVZR62.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 9 Nr. 51
NJW 2023 S. 366 Nr. 6
NJW 2023 S. 368 Nr. 6
WM 2023 S. 1023 Nr. 21
MAAAJ-28677