BGH Beschluss v. - StB 50/22

Absehen von einer Sachverständigenbegutachtung bei Reststrafenaussetzung

Gesetze: § 454 Abs 2 S 1 Nr 2 StPO, § 57 Abs 1 StGB, § 89a StGB

Gründe

11. Das Oberlandesgericht hat den Beschwerdeführer am wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt; das Urteil ist seit dem rechtskräftig.

2Nach den getroffenen Feststellungen beschäftigte sich der Verurteilte spätestens seit Sommer 2017 mit dschihadistischem Gedankengut und befürwortete die Ideologie der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" (IS). Er beschloss, in Deutschland einen Sprengstoffanschlag zu begehen und dabei 200 Personen zu töten oder zu verletzen. Durch einen derartigen Anschlag wollte er in Deutschland ein Klima der Angst und Verunsicherung erzeugen. Zur Vorbereitung dieses Anschlags informierte sich der Verurteilte durch Nutzung sozialer Medien über die Herstellung eines Sprengsatzes. Auf den Rat von Chat-Partnern bestellte er im Internet die für die Herstellung von Sprengstoffen und Zündauslösevorrichtungen erforderlichen Chemikalien und Bauteile. Er bemühte sich um die Herstellung des Sprengstoffs Triacetontriperoxid (TATP) und die Anfertigung einer Zündfernauslösevorrichtung. Spätestens Mitte Oktober 2017 konkretisierte sich das Anschlagsvorhaben dahin, dass der Verurteilte eine Autobombe mit einer Hauptladung von 50 bis 100 Kilogramm Ammoniumnitrat in Kombination mit dem Kohlenstoffträger Dieselöl anfertigen wollte, die unter Verwendung des Sprengstoffs TATP über einen Funkfernzünder ausgelöst werden sollte. Das Anschlagsvorhaben konnte der Verurteilte nicht realisieren, da er festgenommen wurde.

3Nachdem der Verurteilte am zunächst seine Einwilligung zur Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung (§ 57 Abs. 1 StGB) zurückgenommen hatte, hat er diese am erneut erteilt und beantragt, nunmehr bedingt entlassen zu werden. Mit dem angefochtenen Beschluss hat es das Oberlandesgericht abgelehnt, die Vollstreckung des Strafrests nach - am erreichter - Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung auszusetzen. Die hiergegen gerichtete zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten bleibt in der Sache ohne Erfolg.

42. Der Ansicht des Oberlandesgerichts, dass die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht zu verantworten ist (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB), weil dem Verurteilten keine hinreichend günstige Legalprognose gestellt werden kann (zu den rechtlichen Maßstäben s. BGH, Beschlüsse vom - StB 4/14, juris Rn. 3; vom - StB 3/18, NStZ-RR 2018, 228, jeweils mwN), ist beizutreten. Der Senat nimmt insoweit auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug.

5a) Das Oberlandesgericht hat zu Recht nicht zu erkennen vermocht, dass sich der Verurteilte zwischenzeitlich von seiner dschihadistischen Grundeinstellung, die mit der abgeurteilten Tat verknüpft ist, distanziert hat. Zutreffend hat der Staatsschutzsenat die Antwort des Verurteilten "Ich habe das jetzt nicht vor" auf die Frage "Wie stehen Sie zu den Taten?" bei dessen persönlicher Anhörung am dahin gewertet, dass diese Aussage eine tragfähige Distanzierung nicht erkennen lasse (zur besonderen Bedeutung des bei der Anhörung gewonnenen eigenen Eindrucks vgl. , juris Rn. 5 mwN). Zudem hat das Oberlandesgericht zu Recht darauf abgehoben, dass eine ausreichende Aufarbeitung der deliktsursächlichen Persönlichkeitsdefizite im Zusammenhang mit der dschihadistischen Grundeinstellung des Verurteilten sowie der Tat als solcher bislang nicht stattgefunden hat. Vor dem Hintergrund, dass auch das bisherige Vollzugsverhalten nicht beanstandungsfrei ist und der Verurteilte weder über einen sozialen Empfangsraum noch eine konkrete berufliche Perspektive verfügt, kann ihm keine günstige Prognose für eine Legalbewährung in Freiheit gestellt werden.

6b) Das Oberlandesgericht hat vor seiner Entscheidung von der Hinzuziehung eines Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO absehen dürfen. Nicht jede Prüfung, ob der Rest einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, löst die Pflicht zur Begutachtung des Verurteilten aus. Vielmehr muss das Gericht ein Gutachten - unter den sonstigen in der Vorschrift genannten Voraussetzungen - nur dann einholen, "wenn es erwägt", den Strafrest zur Bewährung auszusetzen. Das Sachverständigengutachten soll es dem Gericht ermöglichen, die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit im Fall einer erwogenen Strafaussetzung zur Bewährung zuverlässiger einschätzen zu können. Kann im Einzelfall - wie beim Beschwerdeführer - wegen besonderer Umstände eine Reststrafaussetzung offensichtlich nicht verantwortet werden und zieht sie das Gericht deshalb nicht in Betracht, ist eine Beurteilung der von dem Verurteilten ausgehenden Gefahr mittels einer Sachverständigenbegutachtung nicht erforderlich (s. BGH, Beschlüsse vom - StB 26/20, juris Rn. 8; vom - StB 1/00, BGHR StPO § 454 Gutachten 3; ferner , NStZ-RR 2003, 251, 252; LR/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., § 454 Rn. 53 mwN). Die Ausführungen des Verteidigers in dem Schriftsatz vom rechtfertigen keine abweichende Beurteilung.

Schäfer                    Hohoff                    Anstötz

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:151122BSTB50.22.0

Fundstelle(n):
PAAAJ-28102